Ayurvedischer Ölguss
Ayurveda ist eines der ältesten Medizin-Systeme der Welt. Die über 5.000 Jahre alte, indische traditionelle Lehre wurde in Deutschland besonders durch die Fitness-Bewegung bekannt. Teilbereiche des Ayurveda – die der Erhaltung des Wohlbefindens und der Schönheit dienlich sind – werden in zahllosen Büchern aufbereitet.
Interessierte erhalten Tips z.B. zur Ernährung oder Entspannung, aber auch praktische Anleitungen für die Schönheitspflege. Besonders die Öl-Anwendungen des Ayurveda finden großen Anklang: Spezielle Öle sollen eine wohltuende und entspannende Wirkung haben, indem sie langsam über verschiedene Körperteile fließen. Besitzer von Kosmetikstudios entdecken immer mehr, daß sich mit dem Zusatz “Ayurveda” viel Geld verdienen läßt und bieten erfolgreich teure Behandlungen an. Maharishi Mahesh Yogi, der die “Transzendentale Meditation” (TM) im Westen bekannt machte, hat sich den Namen dieses traditionellen Medizin-Systems in besonderer Weise zueigen gemacht: Er läßt das lukrative Ayurveda von seinen Sektenmitgliedern in zahllosen Schönheitsfarmen und Gesundheitszentren praktizieren. Neben Ayurveda-Schulungen und ‑Kochkursen wird dort auch der Einstieg in TM geboten. In den Gesundheitszentren werden zudem die zahlreichen Produkte der Sekte vermarktet: Das Spektrum reicht von Ölen über Reinigungskuren bis zu Nahrungsergänzungsmitteln, die der Gesundheit besonders zuträglich sein sollen.
Die Vermarktung einer Heilslehre
Mit der scheinbar nur auf Gewinn bedachten Ausrichtung des TM-Ayurveda sind viele ayurvedische Ärzte und Heilpraktiker nicht einverstanden. Zum Beispiel der Hamburger Heilpraktiker Michael Rohrschneider (www.ayur-med.de): “Ayurveda bedeutet übersetzt: ‘Die Wissenschaft vom Leben’”, sagt er. “Bei dieser indischen Heilslehre handelt es sich auch um eine religiös beeinflußte Lebensphilosopie”. Nur bestimmte, vermarktungsfähige Teilbereiche aus Ayurveda herauszunehmen, hält der Hamburger für bedenklich.
Rohrschneider lernte Ayurveda während einer Indienreise kennen. Er entschloß sich, das Medizin-System bei indischen Ayurveda-Ärzten zu erlernen. Noch heute hat er regelmäßigen Kontakt zu seinen Lehrern, um seine Kenntnisse zu erweitern, oder Fragen zu klären. Seit acht Jahren betreibt Rohrschneider Ayurveda in seiner Praxis – als alternative Heilmethode zur westlichen Schulmedizin. Er wird häufig von Menschen mit chronischen (Schmerzpatienten) oder psychosomatischen (Krankheitssymptome ohne klare Ursache) Erkrankungen aufgesucht. Diese Hilfesuchenden sind nach langem Leidensweg bereit, andere, weniger bekannte medizinische Verfahren auszuprobieren. Viele haben die Erfahrung gemacht, daß Ärzte trotz aufwendiger Untersuchungsverfahren keine Ursachen ihrer chronischen Erkrankung oder Schmerzen finden konnten. Und auch die vielen Behandlungen und Medikamente hatten oft wenig oder keine therapeutische Wirkung.
Hilfe für Körper, Seele und Geist
Deshalb wundert es den Heilpraktiker nicht, daß viele Patienten sich beim ersten Gespräch “nur ihr Leid von der Seele reden wollen”. Zu einer ayurvedischen Behandlung kommt es erst später. Zuerst erklärt er, worum es bei Ayurveda überhaupt geht: Aus Sicht des Ayurveda steht alles Wirken, Werden und Vergehen des Universums im Zusammenhang. Der aus Körper, Seele und Geist bestehende Mensch ist dabei nur ein sehr kleiner Teil des gesamten Kosmos. Ziel des Ayurveda ist, dem Menschen zu einem langen, erfüllten und gesunden Leben zu verhelfen. Dazu gehört der eigenverantwortliche und selbstbestimmte Mensch, der bereit ist, etwas für sich selbst zu tun. Ein Schwerpunkt in dieser Heilslehre ist die Anleitung zu gesunder Lebensführung und krankheits-vorbeugenden Maßnahmen. Krankheit ist nämlich ein Ungleichgewicht verschiedener Kräfte im menschlichen Körper. Aber nicht nur der menschliche Körper wird in dieser traditionellen indischen Medizin berücksichtigt: Geist und Seele sind genauso wichtig. Und deshalb werden Ayurveda-Praktizierende auf körperliche Gesundheit, positive Lebensführung und Geisteshaltung achten.
Grundprinzipien und Elemente
Ayurvedischer Ölguss
“Die westlichen Menschen können sich für gewöhnlich nicht so schnell in das vielschichtige System des Ayurveda hineindenken”, erklärt Rohrschneider. Ein feines Zusammenspiel von fünf Grundelementen und drei Grundprinzipien (Doshas) bestimmt Entstehen, Sein und Vergehen. Ob Kosmos, Tier- und Pflanzenwelt oder unbelebte Dinge – alles ist von den Elementen und Doshas durchdrungen. Die Grundelemente sind ‘Luft’, ‘Feuer’, ‘Wasser’, ‘Erde’ und ‘Äther’. Die drei Grundprinzipien werden als ‘Vata’, ‘Pitta’ und ‘Kapha’ bezeichnet. Wie der Kosmos im Großen, so unterliegt der Mensch im Kleinen dem Kräftespiel der Doshas. Sämtliche biologische, von der Natur vorgegebenen Funktionen von Körper, Geist und Seele werden durch drei Grundprinzipien geregelt: Entstehung, Erhaltung und Zerstörung. Z.B. das tagtägliche Neu-Entstehen von Nasen-Schleimhautzellen, deren Erhalt und Reparatur (besonders bei einer Erkältung) und schließlich der Abbau und Ausscheidung von alten Zellen (z.B. nach Befall durch Schnupfenviren).
Der Mensch als Individuum
Genauso einzigartig wie der Fingerabdruck eines Menschen ist, so individuell gestaltet sich die Zusammensetzung der Grundprinzipien Vata, Pitta und Kapha. Die unverwechselbare Natur eines Menschen, seine unterschiedlichen Vorlieben oder Bedürfnisse werden von Ayurveda berücksichtigt: “Deshalb ist es wichtig zu wissen, wie sehr die einzelnen Doshas bei einem Individuum ausgeprägt sind und wie sie miteinander zusammenarbeiten”, erklärt der Hamburger. “Trotz dieser Einzigartigkeit jedes Menschen kennt Ayurveda bestimmte Grund-Typen, die in Bezug auf Krankheit und Gesundheit auch Konstitutionen genannt werden”. Aus den sieben Grund-Konstitutionen des Ayurveda gilt es, die für einen Patienten am besten passende herauszufinden. Aber: Die Zuordnung und das Erkennen der Vata‑, Pitta- und Kapha-Prinzipien erfordert langjährige Erfahrung.
Ein Beispiel: Kapha setzt sich aus den Elementen Erde und Wasser zusammen und sorgt für Kraft, Festigkeit und Beständigkeit. Kapha ist auch für das menschliche Erinnerungsvermögen zuständig. Gefühle wie Neid, Gier oder Geiz, aber auch Vergebung und Liebe werden dem Grundprinzip Kapha zugeordnet. Menschen mit einer ‘Kapha-Konstitution’ verfügen über gute Körperkräfte und einen stabilen Körperbau. Sie bevorzugen scharfe und bittere Nahrungsmittel. ‘Kapha-Menschen’ haben oft ein gutes Durchhaltevermögen und lassen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Wenn sie erkranken, sind häufiger Kopf, Hals, Bronchien, Magen und Gelenke betroffen, als bei anderen Menschen.
Ein anderes Ziel: Herstellung der Harmonie
Es gibt seltener Menschen mit reinen Vata‑, Pitta- oder Kapha-Konstitutionen. “Viel häufiger sind die Mischformen, bei denen z.B. zwei der Grundprinzipien gemeinsam im Vordergrund stehen”, sagt Rohrschneider und betont erneut, wie überaus wichtig die Bestimmung der Konstitutionsform ist. Denn: Diese ist mitbestimmend für die Wahl der anschließenden Therapien. Öle oder medizinische Anwendungen müssen entsprechend gewählt sein. Um beim Kapha-Beispiel zu bleiben: Der Kapha-Mensch hat, vielleicht durch ungesunde Lebensweise zu viel Pitta im Körper. Um die Harmonie seiner Doshas wieder herzustellen, sollten ‘Pitta-ableitende’ Behandlungen eingesetzt werden. Eine falsch gewählte Ayurveda-Behandlungsmaßnahme kann aber auch die Krankheitssymptome verstärken. “Der theoretische Hintergrund des Ayurveda erscheint anfänglich sehr kompliziert”, sagt Rohrschneider, “doch interessierte und engagierte Patienten, Heilpraktiker oder Ärzte lernen allmählich diese Theorie auch erfolgreich in der Behandlung und der Lebensführung anzuwenden”.
Umdenken und Mitarbeit sind wichtig
Langfristig geht dies nicht ohne tiefgreifendes Umdenken: In der ayurvedischen Philosophie kümmert sich ein selbstverantwortlich handelnder Mensch natürlich auch um die Erhaltung seiner Gesundheit; entsprechend der vielfältigen Regeln des Ayurveda. Dies bedeutet beispielsweise, sich gesund zu ernähren, genügend zu schlafen oder nach Zeiten der Aktivität ausreichende Ruhephasen einzuhalten. “Und das ist für viele Patienten enorm schwierig, da sie stark in ihrem oft krankmachenden, stressigen Alltag gefangen sind”, sagt der Heilpraktiker. “Die meisten bemerken erst, daß ihre körperlichen, geistigen oder seelischen Grenzen längst überschritten sind, wenn akute Erkrankungen nicht mehr normal ausheilen oder ernsthafte Krankheiten entstehen”, bedauert Rohrschneider. Viele Patienten, die in seine Praxis kommen, stehen unter Dauer-Anspannung. Sie haben verlernt, auf ihre Gefühle zu achten und körperliche Alarmsignale zu verstehen: “Deswegen sind Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen so häufig”.
Für den Heilpraktiker ist die Erklärung dieser so überaus häufigen Zivilisationskrankheiten naheliegend: “In der ayurvedischen Heilslehre ist das Herz Sitz der Seele. Moderne Menschen nehmen sich oft keine Zeit mehr, auf ihre innere Stimme zu hören. Sie gehorchen nur dem anwachsenden, äußeren Druck und geben den inneren Sorgen und Ängsten keinen Raum – da steigt schließlich der (Bluthoch-) Druck bei jedem von uns”, sagt Rohrschneider. Bei Menschen, die an Tinnitus (Ohrgeräusche) leiden, ist der Hilfeschrei nach seiner Meinung besonders auffällig: “Da hat sich die innere Stimme schon in Form von Ohrgeräuschen bemerkbar gemacht.”
Die Konstitutionsbestimmung
Spezielle Nasentropfen
Nach der ayurvedischen Konstitutionsbestimmung wird eine ausführliche Krankheitserhebung (Anamnese) bei jedem Patienten durchgeführt. Die ayurvedische Untersuchung unterscheidet sich vielfach von der naturwissenschaftlich orientierten Medizin: Neben der sorgfältigen körperlichen Untersuchung werden auch Geruch (z.B. des Atems) berücksichtigt. Auch die Gesamterscheinung des Klienten wie Körperbau, Beschaffenheit und Färbung der Haut bis hin zur ‘Ausstrahlung’ eines Menschen werden aufmerksam beobachtet. Zudem sind viele Fragen zu beantworten: Wie ist das allgemeine körperliche Befinden? Ist der Schlaf tief oder oberflächlich, die Verdauung gut oder eher träge? Die Familien- und Arbeitssituation werden ebenfalls abgefragt. Die seelische und geistige Verfassung sind wichtig: Kummer, Sorgen oder Gefühle der Einsamkeit gehören ebenfalls zur ayurvedischen Anamnese. Manchmal fühlen sich Menschen durch ungewöhnliche Fragen ‘Wie geht es Ihnen bei starkem Wind oder Wechsel von Jahreszeiten?’ etwas irritiert. “Die Antworten auf solche Fragen können für Ayurveda-Therapeuten jedoch sehr nützlich sein”, sagt Rohrschneider. Als weiteres wichtiges Diagnose-Instrument nutzt der Hamburger Heilpraktiker die ‘Pulsdiagnose’. Diese überall in Ostasien verbreitete Technik erlernte er in Indien. Die Pulsdiagnostik gibt viele zusätzliche Hinweise auf die Konstitution, d.h. die Verteilung und Aktivität der Doshas.
Eine Umstellung: Oft ein großer Schritt
Nach der Festlegung des Konstitutions-Typs wird die Behandlung abgeklärt: “Jeder Schritt muß mit den Patienten abgesprochen und nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten abgestimmt werden”, sagt Rohrschneider. Deshalb ist es bei manchen Patienten anfangs sinnlos, eine sofortige und tiefgreifende Ernährungsumstellung zu verlangen. Besonders für Menschen mit chronischen Erkrankungen ist mittelfristig eine Umstellung der Lebensweise (einschließlich Ernährung) unverzichtbar. Gerade bei dieser Patientengruppe muß der Achtundvierzigjährige aber besonders viel Überzeugungsarbeit leisten, da viele chronisch Kranke ungern ihre eingefleischten Ernährungsgewohnheiten aufgeben.
Vielfältige Ayurveda-Küche
Die Ernährungslehre ist ein wichtiges Kapitel im ayurvedischen Medizin-System. Mit den täglichen Speisen und Getränken kann der Mensch viel für die Regulierung seines Energiehaushalts tun: Denn auch hier gelten wieder die Regeln der fünf Elemente und der drei Doshas. Speisen, Getränke, Gewürze werden als Vata, Pitta oder Kapha-zugehörig unterteilt. “Um z.B. der Bedürfnis-Vielfalt der Menschen gerecht zu werden, kochen viele Inderinnen zur Reisgrundlage verschiedene kleine Gerichte. Die unterschiedlichen Geschmacksrichtungen scharf, salzig, süß oder sauer können dann – je nach Bedarf und Konstitution der einzelnen Familienmitglieder – zu sich genommen werden”, berichtet der Heilpraktiker.
Medizinische Maßnahmen
Massage mit Kräuter-Kissen
Die medikamentöse Ayurveda-Behandlung erfolgt weitgehend mit einheimischen Medikamenten auf pflanzlicher Grundlage. “Echte ayurvedische Präparate aus Indien werden wegen fehlender Zulassung entsprechend des deutschen Arzneimittelgesetzes nicht importiert”, sagt Rohrschneider. Er hat deswegen aber keine besonderen Probleme oder weniger Behandlungsmöglichkeiten: In der ayurvedischen Medizin wird ohnehin empfohlen, für Speisen und therapeutische Anwendungen nur Kräuter, Gemüse und Gewürze zu verwenden, die aus der Region stammen. Die Ayurveda-Therapien ähneln naturheilkundlichen Anwendungen des Westens teilweise sehr: Auch im Ayurveda gibt es z.B. Schwitzkuren mit Kräuterzusätzen wie beim Kräuterpfarrer Kneipp. Kräuter-Kompressen oder Wickel gegen Schmerzen. Entspannungs-Massagen mit kleinen Leinensäckchen, die mit Kräutern gefüllt sind (wohltuende, entspannende Wirkung: Kräuter-Auswahl nach Konstitutions-Typ). Während die äußeren Ayurveda-Ölbehandlungen bei uns bekannter sind, gibt es solche auch als innere Anwendungen (zum Einnehmen). Die sogenannte Nasya-Behandlung (Spezial-Nasentropfen) ist nach den Erfahrungen Rohrschneiders z.B. bei Nasen-Nebenhöhlen-Entzündungen hervorragend wirksam. Viele der Behandlungen, von der Massage bis zum Kräuterlikör, werden von den Patienten nach Absprache auch zuhause alleine durchgeführt. “Wie erwähnt, steht beim Ayurveda der selbstverantwortliche Mensch im Vordergrund. Dies bedeutet auch, daß keine Abhängigkeit zu Therapeuten entstehen sollten”, betont Rohrschneider.
Leben nach eigenen Maßstäben und Regeln
Nicht zuletzt gehört zum selbstbestimmten Menschen auch die Entfaltung der Persönlichkeit. Das bedeutet nach ayurvedischen Regeln: Entwicklung des freien Willen und Geistes. Leben nach eigenen Maßstäben und Regeln. “Nur ein Mensch, der innerlich ausgeglichen ist, kann sich auf sich selbst und seine Werte besinnen”, sagt der Heilpraktiker. “Gerade dies wird uns allen jedoch schwer gemacht”. Radio und Fernseher laufen ständig. Vielfältige Ablenkung und Abwechslung sind Teil des modernen Lebensstils. “Körperliche, seelische und geistige Hygiene gehören beim Ayurveda zusammen”, erklärt der Hamburger. Deswegen wird jeder Ayurveda-Heilkundige seinen Patienten verschiedene Arten der Entspannung – auch des Geistes – empfehlen. “Volkshochschulen bieten heute eigentlich alles hierfür Nötige an: Vom Hatha-Yoga über autogenes Training bis hin zu verschiedenen Atemübungen. Es können aber auch Meditationen sein”, sagt Rohrschneider. Er bedauert die häufige Verknüpfung solcher Verfahren zum geistigen Training und Wachstum mit der Vermittlung von weltanschaulichen Inhalten vieler Sekten. Dabei hat geistige Entspannung nichts mit Religion zu tun: “Es eignet sich fast jeder Gegenstand zur Betrachtung innerhalb einer Meditation. Ob eine Kerze angeschaut wird, oder der eigene Atem aufmerksam verfolgt wird: Wichtig ist die regelmäßige Übung der Konzentration. Abends angewandt, kann sie helfen, Abstand von den alltäglichen Sorgen zu bekommen. Und schließlich werden alltägliche Entspannungsübungen zusammen mit einer gesunden Lebensweise wiederum dem Menschen helfen, sich auf das Wesentliche im eigenen Leben zu besinnen”.
Autorin
• Marion Kaden , Ratgeber & Familie (1996).