Der Begriff ‘Anti-Aging’ (in etwa: ‘Alles gegen das Altern’) ist sehr gebräuchlich. Wir finden ihn sowohl in Fachblättern für Ärzte – dort werden die medizinischen Aspekte des Alterns abgehandelt – als auch in der Regenbogenpresse. Besonders bei letzterer ist ‘Anti-Aging’ ein äußerst beliebtes Thema geworden. Warum? Es eignet sich hervorragend um Werbung für Kosmetika, Nahrungsergänzungsmittel, Hormon- oder Vitaminpräparate zu treiben. Wir sehen also, die Zielsetzungen – medizinisch oder konsumorientiert – können ausgesprochen unterschiedlich sein.
Menschen werden älter aber nicht gesünder
Fakt ist: Unsere Bevölkerung wird immer älter. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines neugeborenen Jungen liegt heute bei 75 Jahren, die eines Mädchens bei 81 Jahren. Mit dem ‘Älter werden’ ist jedoch oft kein Leben in Gesundheit verbunden, sondern in vielen Fällen eine Verlängerung des Krankseins. Damit entstehen immer höhere Kosten, die von der Allgemeinheit getragen werden müssen. Schon heute sind bei den 70- bis 75-Jährigen fünf Prozent pflegebedürftig. Bei den bis 80-Jährigen sind es bereits zehn Prozent und bei den 80 bis 85-Jährigen zwanzig Prozent. Das heißt, schon jetzt haben wir hohe Kosten, die zukünftig wegen der wachsenden Anzahl von Senioren noch weiter ansteigen. Diese Kosten müssen von dem Sozialversicherungssystem aufgefangen werden. Wir sollten schnell umdenken und entsprechend handeln, wenn wir dieses große Problem der nächsten Jahrzehnte bewältigen wollen. Vor allem werden Gesundheitsprogramme benötigt, die dem ständig wachsenden Anteil der älteren Bevölkerung Rechnung tragen. Und zur Bewältigung des Geriatrie-Problems gehört, sich mit ‘Anti-Aging’ als einer vorbeugenden Maßnahme zu beschäftigen.
Maßnahmen für und nicht gegen das Altern!
Unter dem Begriff ‘Anti-Aging’ verstehen wir im Allgemeinen Maßnahmen gegen das Altern. ‘Anti-Aging’ klingt zwar, als ginge es dabei um starke Gegen-Maßnahmen. Dies ist jedoch nicht so – vielmehr kommt es darauf an, Mit-Maßnahmen zu entwickeln! Damit meine ich, dass wir uns um die Erhaltung der körperlichen, seelischen und mentalen Leistungsfähigkeit im Verlauf des langsamen Alterungs-Prozesses widmen. Zum ‘Anti-Aging’ gehören also:
- Verminderung der Alterserkrankungen in den gewonnenen Lebensjahren
- Verhütung von altersbedingten Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Arteriosklerose, Herzinfarkt, Schlaganfall)
- Bluthochdruck (Hypertonie) sowie
- Knochenschwund (Osteoporose) und deren Folgeerkrankungen
- Vermeidung anderer Erkrankungen wie Krebs, Alters-Diabetes, Arthritis, Arthrose und nicht zuletzt Alters-Demenz
Altern: Was ist das?
Wesentlich und entscheidend ist Vorbeugung. Das heißt, ‘Anti-Aging’ ist umso wirksamer, je früher mit so genannten präventiven Maßnahmen in der Medizin begonnen wird. Ich möchte an dieser Stelle zunächst meinen Kollegen Lothar Moltz (Berlin) zum Altern zitieren. Er sagt: ‘Altern ist ein normaler, grundsätzlich nicht aufzuhaltender Lebensprozess. Bei diesem werden zahlreiche biologische Abläufe in den Zellen verändert. Dieser Prozess wird genetisch kontrolliert. Am Ende der Fortpflanzungsphase, welche im Tierreich meistens auch das Ende des Lebens darstellt, verlangsamt oder beschleunigt sich die Aktivität vieler Gene, die den Stoffwechsel der Zellen beeinflussen. Durch Ruhigstellung bestimmter Genabschnitte erhöht sich die Lebensspanne, durch Aktivierung bestimmter Enzymsysteme verkürzt sich die Lebenszeit. Wirksamkeit und Folgen dieser biochemischen Prozesse können jedoch maßgeblich beeinflusst werden. Es liegt in unserer Eigenverantwortung, uns durch Lebensstil beispielsweise Verminderung von Stressfaktoren, gesunder Ernährung und genügend Bewegung dafür zu sorgen, dass die Prozesse günstig für uns beeinflusst werden.’
Naturheilkunde und Eigenregulation des Menschen
Welche Konzepte hat nun die Naturheilkunde, um dem Altern zu begegnen? Zunächst wollen wir Grundsätzliches klären: Die Säulen der klassischen Naturheilkunde sind Ordnungs1‑, Ernährungs2‑, Phytotherapie3. Über diesen liegt wie ein Dach die so genannte Regulationsmedizin. Um den Begriff ‘Regulation’ zu erläutern: Er kommt aus dem Lateinischen. ‘Regulare’ bedeutet regulieren, regeln, ordnen, durchführen. Vielleicht ist auch der Begriff ‘rex regis’ darin enthalten, wobei man sagen muss, dass es sich hierbei um eine königliche Ordnung handelt. Laut Brockhaus ist die Regulation ein ganzheitliches Konzept, welches auf der Erkenntnis beruht, dass der Organismus über Eigenregulationsmechanismen und Regulationskräfte verfügt, die therapeutisch nutzbar gemacht werden können. Um diese Regulationskräfte nutzen zu können, wird die Gesamtsituation des Menschen mit einbezogen. Wir können dann mit verschiedenen Maßnahmen, die Eigenregulation von Menschen beeinflussen. Hierzu stehen viele verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung.
Sport hält jung und fit
Es heißt: Sport hält jung und tatsächlich sind bewegungstherapeutische Verfahren schon lange als Anti-Aging-Maßnahmen bekannt. Hierzu zählen sportliche Aktivitäten, Gymnastik und auch entspannende Muskelverfahren wie z.B. die progressive Muskelentspannung nach Edmund Jacobson (1885–1976) oder das Autogene Training nach Johannes Schultz (1884–1970). Das Ergebnis einer US-Studie an 1.000 Menschen zwischen 72 und 98 Jahren über einen Zeitraum von neun Jahren zeigte, dass körperlich aktive Menschen am längsten lebten und in einem guten körperlichen Zustand waren [4]. Sportliche Betätigung beim alten Menschen bedeutet jedoch nicht Hochleistungssport. Vielmehr muss die Wahl der Sportart immer den individuellen körperlichen Zustand berücksichtigen. Jeder Mensch der Willens ist, eine körperliche Betätigung durchzuführen, kann eine angemessene körperliche Betätigung finden: Sei es Spazieren gehen mit oder ohne Hund, schnelles Gehen, so genanntes ‘Walking’, Wandern, Schwimmen, Radfahren oder vielleicht auch Golfspielen.
Belebende Wirkungen von Bewegung
Untersuchungen, die beim deutschen Kongress für Sportmedizin und Prävention 2002 vorgetragen wurden, zeigten, dass körperliche Aktivität für den Erhalt von Nervenzellen sowie Ausbau und Erhalt ihrer Funktionsfähigkeit entscheidend ist [5]. Körperliche Aktivität ist ebenso ein ausschlaggebender Grund, um Altersprozessen im Gehirn entgegenzuwirken, z.B. Minderung der Zahl der Synapsen (Umschaltstellen zwischen Nervenfortsätzen). Bei mäßiger körperlicher Aktivität werden Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel um ca. 30 % verbessert. Dadurch ändert sich nicht nur das körperliche Befinden, sondern auch die seelische Befindlichkeit. Durch die Ausschüttung von Serotonin (hormonähnlicher Stoff, der zahlreiche Organfunktionen regelt) und von Endorphinen finden wir hier eine Verbesserung der ganzen Lebenssituation. Traurigkeit und Depressionen verschwinden, das Selbstbewusstsein wird gestärkt. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass wir bei einem Training nicht mehr eine restitutio ad integrum (völlige Heilung) machen können, sondern dass wir Rücksicht nehmen müssen auf das, was als körperliche Reserven und Möglichkeiten noch vorhanden ist.
Bewegung stoppt Alterungsprozesse
Übertriebene Trainingsbelastungen von älteren Menschen zu verlangen, ist falsch: Wir fördern Erkrankungen damit eher – besonders die des Herzens und des Kreislaufs. Hinzu kommt, dass ältere Menschen schneller mit dem Training aufhören, wenn sie nicht mehr angeleitet werden. Durch Training kann jedoch erreicht werden, dass Koordination, Anpassungsfähigkeit, Kraft, Schnelligkeit und natürlich Ausdauer verbessert werden. Die Koordination, das heißt zum Beispiel das harmonische Zusammenwirken bei Bewegungsabläufen der Muskeln, nimmt beim Mann bereits mit 40 Jahren ab. Wir Männer bemerken das vielfach nicht. Bei Frauen setzt dieser Prozess nach dem 50. Lebensjahr ein. Ursachen hierfür sind Qualitätsverluste im Nervensystem, die durch ungenügende Beanspruchung entstehen. Übungen können beim älteren und alten Menschen diese Koordinationsfähigkeit der Bewegung wiederherstellen, wenn gesundheitliche Hindernisse wie Arthrose, Hör- oder Sehstörungen ausgeglichen werden, die für die Koordination ebenfalls entscheidend sind. Auch die Flexibilität lässt sich durch Übungen, die der fortschreitenden Steifigkeit der Gelenke entgegenwirken, wieder verbessern. Was die Muskelkraft anbelangt, so verliert ein untrainierter Mensch bis zu seinem 70. Lebensjahr 40% der Muskelmasse. Das hat wiederum Auswirkungen auf andere Erkrankungen wie z.B. die Osteoporose mit ihren Folgekrankheiten wie Wirbel- oder Knochenbrüchen. Wir wissen aus einer großen Statistik, dass z.B. nur 50 % der Frauen und Männer, die eine Schenkelhalsfraktur gehabt haben, das nächste Jahr überhaupt noch überleben. Das ist sehr erschreckend! Viele Ärzte und Laien machen sich gar nicht bewusst, dass – trotz der hervorragenden Möglichkeiten der modernen Gelenk-Endoprothetik (‘künstliche Hüfte’) – weiterhin eine so hohe Sterberate nach diesem scheinbar gar nicht so bedeutenden Trauma existiert.
Mäßig aber regelmäßig heißt die Devise
Dass der koronaren Herzkrankheit durch körperliche Aktivität vorgebeugt werden kann, ist eine bekannte Tatsache. Ebenso, dass nach einem Infarkt oder einer Bypass-Operation in der Herzsportgruppe positive Trainingseffekte für das Herz erreicht werden können. Ich selbst habe es gerade bei einem Freund erlebt, der einen fünffachen Bypass bekommen musste – und das aus heiterem Himmel. Er war zu einer Routineuntersuchung in die Klinik gegangen, und der Kardiologe hat ihn nicht mehr weggelassen. Der sagte, ‘wenn Sie nach Hause gehen wollen, gebe ich Ihnen keine Garantie, dass Sie den Weg nach Hause noch überleben. Ihre Situation ist so miserabel, wir fahren Sie sogar mit dem Rollstuhl aufs Klo’. Als er vorgestern aus der Reha zurückkam, sagte er mir, ‘weißt Du, was mir am besten geholfen hat, ist nicht die Bypass-Operation, sondern das, was ich bei der Reha danach gelernt habe. Beispielsweise habe ich progressive Muskelentspannung gelernt. Ich habe autogenes Training gemacht und eine Diät begonnen. Ich habe beschlossen, mein Leben umzustellen und bin sicher, ich die nächsten 30 Jahre noch überlebe’. Mein Freund hat darüber hinaus eine ganz positive Grundeinstellung bekommen.
Gesunde Ernährung
Bewegungstherapie und entspannende Muskelverfahren sind nicht die einzigen Maßnahmen für ein gesundes Leben und damit für “Anti-Aging”. Es kommt noch eine andere Säule der Naturheilkunde hinzu: Eine gesunde Ernährung. Sie dient nicht nur der Vermeidung von Krankheiten, sondern kann auch lebensverlängernd wirken. Unsere Ernährungsgewohnheiten sind vielfach dadurch geprägt, dass wir (wahrscheinlich genetisch bedingt, denn 2000 Jahre sind nichts in der Genetik) uns immer noch so ernähren, als würden wir uns durch Sammeln und Jagen unsere nötigen Fettreserven besorgen müssen. Da die aber heute in jedem Regal herumstehen, und wir nur einfach zugreifen müssen, neigen wir dazu, hier zu viel zu tun. Was in der Hungerperiode nach dem Krieg noch notwendig war, nämlich hinter Fett her zu sein, um auch Reserven zu gewinnen, ist heutzutage eher eine Möglichkeit, krankmachende Wirkungen zu erzeugen und damit auch die Lebenserwartung zu verringern. Bewegungsarmut, Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind nicht nur Möglichkeiten, das Leben zu verkürzen, sondern auch das Kranksein zu verlängern. Bekannt ist, dass durch Vollwertkost und laktovegetabile Kost der Fettanteil besonders der tierischen und der versteckten Fette reduziert werden und weitgehend vermieden werden kann. Immer mehr ist uns, die wir uns mit Naturheilverfahren beschäftigen, auch bewusst, dass laktovegetabile Kost ein guter Krebsschutz ist, eine entsprechende Ernährung also Krebserkrankungen verhindern kann. Wir wissen, dass die sekundären Pflanzenstoffe für diesen Krebsschutz sehr bedeutsam sind.
Weniger ist mehr
Hinsichtlich des Anti-Agings gilt der Grundsatz (gerade in Bezug auf die Ernährung): Weniger ist mehr. Die alte Volksweisheit ‘morgens wie ein Kaiser, mittags wie ein König und abends wie ein Bettelmann’ hat ihre Berechtigung. Diese Volksweisheit ist wissenschaftlich untermauert und wird heute modern mit dem Begriff ‘Dinner-Cancellings’ (aufs Abendessen verzichten) bezeichnet. Durch Verzicht auf das Abendessen gerät der Körper in einen Hungerzustand, der das Immunsystem im Sinne einer spezifischen Apoptose (programmierter Zelltod) dazu befähigt, die sich täglich bildenden potenziell bösartigen Zellen immunologisch zu eliminieren und zum anderen die Proteinsynthese bei sehr wichtigen Proteinen des Körpers anzuregen. Durch den abendlichen und nächtlichen Hungerzustand werden zudem vermehrt Melatonin und Wachstumshormone ausgeschüttet. Und man muss sich wirklich fragen, ob es nicht sinnvoller ist, für einen ausreichenden und befriedigenden Schlaf zu sorgen als Melatonin und Wachstumshormone oder DHEA zu schlucken.
Schlaf als Jungbrunnen
Schlaf macht nicht nur schön, wie der Volksmund sagt, Schlaf ist wegen der Ausschüttung der eben genannten Hormone tatsächlich auch ein Jungbrunnen. Und es ist wirklich wichtig, dass wir uns dazu zwingen, nach der Tagesschau den Fernseher abzustellen und uns zur Ruhe zu begeben, anstatt noch weiter irgendwelche Dinge zu sehen und so unseren Schlaf zu vernachlässigen. Jeder weiß, dass Schlafdefizite eine starke seelische Reaktion auslösen. Schlafentzug ist auch eine Foltermaßnahme, wie wir aus vielen Fällen wissen. Ich habe das ein Mal erlebt, als ich in einer freiwilligen Aktion versuchte, drei Tage lang nicht zu schlafen: Ich war nicht mehr ich selbst! So habe ich durch Selbstversuch verstanden, dass Schlaf mit seiner natürlichen Ausschüttung von Hormonen etwas sehr Wesentliches ist.
Melatonin fördert den Schlaf, bindet wahrscheinlich freie Radikale und wirkt dem oxidativen Stress entgegen. Das Hormon wird nur bei Dunkelheit ausgeschüttet, während das Wachstumshormon, welches in einem späteren Zeitraum ausgeschüttet wird, die Zellreparaturprozesse fördert und die Fettverbrennung stimuliert. Es wird normalerweise nach Mitternacht freigesetzt, aber nur dann, wenn der Körper nicht durch ein reichhaltiges Abendessen belastet ist. Durch Dinner-Cancelling wird der Körper praktisch überlistet, vermehrt diese Anti-Aging-Hormone freizusetzen.
Franz Kardinal König in Wien, der Dinner-Cancelling seit Jahrzehnten betreibt, ist inzwischen weit über 90 und bei bester geistiger und körperlicher Gesundheit. Er gibt dieses immer als Beispiel für seine Gesundheit und für sein Wohlergehen an. Tierexperimente an Ratten und Affen bestätigen dies. Die zeigten, dass die Tiere 30 bis 40% länger leben, wenn die Nahrung verringert wird oder bestimmte Nahrung ausgelassen wird.
Ordnung als Lebensprinzip
In der Naturheilkunde ist Anti-Aging ohne die so genannte Ordnungstherapie nicht denkbar. Aufgabe dieser Therapie, ist die Erforschung der Grundlagen für eine gesunderhaltende, wiederherstellende Lebensweise. Ordnungstherapie ermutigt – wie ihr Name schon andeutet – zu “geordneter” (im Gegensatz zu Überschwang) Freude und zu einer sinnreichen Lebenskultur. Sie ist eine Lebenshaltung oder auch Lebenseinstellung. Wie schon ein Sprichwort sagt ‘Ordnung ist das halbe Leben’. Wir können dies auf verschiedene Lebensbereiche übertragen – ob im Zimmer, Wohnung oder Umgebung. Ordnung kann auch auf die körperliche Ebene (wie gehe ich mit meinem Körper um?) oder die geistig-seelische Ebene übertragen werden (habe ich eine Arbeit, die mir Spaß macht, in der ich mich verwirklichen kann?). Die Ordnungstherapie bezieht einen Menschen in sein geistiges, gesellschaftliches, kulturelles und religiöses Umfeld ein. Sich der Ordnungstherapie zu bedienen, bedeutet sämtliche Erkenntnisse, Ereignisse im Leben eines Menschen mit einzubeziehen: Auch und besonders die so genannten psychosomatischen Wirkungen (seelisch-körperlichen Wechselwirkungen) und Störungen eines Menschen. Sich der Ordnungstherapie zu bedienen, bedeutet zudem eigenverantwortlich zu handeln. Als unabhängiger Mensch für das eigene körperliche, geistige und seelische Wohlbefinden zu sorgen. Aber nicht nur Lust gehört zum selbst verantwortlichen Leben – auch das Anpacken und Lösen von Problemen im eigenen Leben, was wiederum zur Selbstverwirklichung und inneren Wachstums beiträgt.
Das Leben in allen Höhen und Tiefen akzeptieren und genießen
Ich möchte Karl Jaspers (1883–1969) zitieren, der gesagt hat: ‘Soll unser Leben nicht in Zerstreuung verloren gehen, so muss es in einer Ordnung sich finden. Es muss im Alltag von einem Umgreifenden getragen sein, Zusammenhang gewinnen im Aufbau von Arbeit, Erfüllung und hohen Augenblicken, sich vertiefen in der Wiederholung, dann wird das Leben noch in der Arbeit eines immer gleichen Tuns durchdrungen von einer Stimmung, die sich bezogen weiß auf einen Sinn. Dann sind wir geborgen in einer Welt und Selbstbewusstsein; haben Boden in der Geschichte, der wir angehören und in dem eigenen Leben durch Erinnerung und Treue. In der Einsamkeit die Meditation, durch jede Weise der Besinnung. Und mit Menschen Kommunikation, durch jede Weise des gegenseitigen Sich-Verstehens, im Miteinander handeln, Miteinander reden, Miteinander schweigen.’
Das sind die Prinzipien der Lebensordnung, wie Jaspers sie gesehen hat. Und ich möchte noch etwas zitieren, etwas, das ich bei Augustinus (354–430) in den ‘Bekenntnissen’ gefunden habe. Das Zitat finde ich fast noch schöner: ‘Miteinander reden und lachen, sich gegenseitig Gefälligkeiten erweisen, zusammen schöne Bücher lesen, sich necken dabei, aber auch einander sich Achtung erweisen, mitunter sich auch streiten – ohne Hass, so wie man es wohl ein Mal mit sich selbst tut, manchmal auch in den Meinungen auseinander gehen und damit die Eintracht würzen, einander belehren und voneinander lernen, die Abwesenden schmerzlich vermissen, die Ankommenden freudig begrüßen – lauter Zeichen der Liebe und Gegenliebe, die aus dem Herzen kommen, sich äußern in Miene, Wort und tausend freundlichen Gesten und wie Zündstoff den Geist der Gemeinsamkeit entfalten, sodass aus den vielen eine Einheit wird.’ Was Augustinus hier gesagt hat, ist durch nichts zu ergänzen. Ich denke, dass es wesentlich ist, die Sinngebung des Lebens, die Dimension der geistigen und religiösen Sinngebung des Lebens zu erfassen, sich zu freuen am Leben und dieses Leben auch zu genießen.
Selbstverwirklichung durch Übung und Annahme
Die Ordnungskräfte im Seelenleben zu fördern, ist auch Aufgabe der Ärzte, die sich mit Anti-Aging befassen. Wir finden Ansätze zum Beispiel bei Schultz (Autogenes Training) oder bei Jacobson (Muskelrelaxation). Diese Ärzte entwickelten Konzepte, die Ausgewogenheit von Gefühl und Verstand erreichen sollen, um so auch Entspannung herbeizuführen. Durch diese Techniken können Übende Selbstvertrauen gewinnen und lernen, unvermeidliche Konflikte des Lebens anzugehen und mit ihnen fertig zu werden. Anstatt die Konflikte auf körperlicher oder seelischer Ebene zu belassen (psychosomatische Erkrankungen) oder vielleicht sogar krank zu werden, heißt es jetzt: Sich Probleme bewusst machen und den Mut entwickeln, sie zu lösen.
Neben messbaren, das Nervensystem betreffende Stabilisierungen bewirkt regelmäßiges Üben einen verbesserten Zugang zum eigenen Innenleben. Das schafft die Voraussetzung für Selbstwertstärkung und auch Selbstfindung. Ordnungstherapie heißt Leben ordnen, wobei jeder Mensch eigenverantwortlich und regulierend in das eigene Leben eingreift – auch dies ist eine Maßnahme des Anti-Agings.
Ganzheitlich: Alle Ebenen von Leben und Dasein einbeziehen
Zum Ordnungsprinzip gehören auch Verhaltensmaßnahmen eines Menschen wie z.B. die Vermeidung von Giften wie Nikotin und Alkohol, belasteter Nahrung, Übergewicht, chronischen Stressfaktoren – dies alles sind krank und alt machende Einflüsse. Jeder Mensch kann sie als solche erkennen und verändern. Wir können zum Ordnungsprinzip auch das Ordnen von Lebenspartnerschaft, Ehe oder Familie rechnen. Lebenswünsche gehören auch dazu: Zum Beispiel, es zu wagen, geheime Lebenswünsche auszusprechen, sie umzusetzen – auch dem Partner gegenüber. Die Hinterfragung von sexuellen Wünschen gehört dazu genauso, wie auch die angemessene geistige Nahrung – zum Beispiel die Beschäftigung mit den geistig-religiösen Dimensionen des Lebens. Aktiv sein im geistigen Sinne, etwas tun, das das Gehirn anregt – das gehört ebenfalls zu wesentlichen Maßnahme des Anti-Agings. Genauso wie: Wahrnehmen und Erkennen, Umlernen, Anpassen, etwas Neues lernen, irgendetwas tun, sich beschäftigen mit den schönen Dingen des Lebens, Kontakte suchen und pflegen, sich mit Literatur, Kunst, Theater beschäftigen oder die vielen andere Dinge mehr, die unser Leben bereichern. Wir müssen sie nur ergreifen und aufzunehmen! Jeder findet etwas, der dies nur möchte. Das Handeln ist das Entscheidende.
Wenn wir uns also die Frage stellen, ob Naturheilverfahren, die alles dieses beinhalten, Maßnahmen des Anti-Agings sind, so muss das nach meinen Ausführungen ganz eindeutig bejaht werden. Naturheilverfahren helfen, nicht nur Krankheiten zu vermeiden oder sie naturgemäß zu behandeln. Sondern können mit ihren primärpräventiven Möglichkeiten Elemente moderner Maßnahmen des Anti-Agings seins. Ich bin davon überzeugt, dass wir hier mit dem Einsatz der Naturheilkunde genau auf dem richtigen Weg sind. Nicht Hormonverordnung, nicht Nahrungsergänzungsmittel oder Vitamine verlängern das Leben, sie können lediglich etwas “Zusätzliches” sein. Entscheidend für das Funktionieren von Anti-Aging ist eine geistige Grundhaltung, die ein entsprechendes “lebensverlängerndes” Wirken und Handeln in unserer Existenz grundlegend mit einbezieht.
103. ZÄN (Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren) Kongress ärztlicher Naturheilverfahren, Freudenstadt, 3.–9.10.2002. Leitthema 2002: ‘Anti-Aging und Naturheilverfahren’.
Autor
• Dr. Klaus Doench (2002).
Quellen
• Ordnungstherapie: Bezeichnung für körperorientierte psychotherapeutische Verfahren, z.B. Ausgleichs- und Entspannungsübungen, Autogenes Training, Meditation. Nach Kneipp auch Empfehlungen zur Erlangung von Harmonie, Regelmäßigkeit in den Lebensrhythmen (Schlaf, Wachen). (Pschyrembel Wörterbuch Naturheilkunde und alternative Heilverfahren. 2., überarb. Aufl. – Berlin, New York: de Gruyter, 2000)
• Ernährungstherapie: Behandlung von Erkrankungen durch Veränderung von Ernährung, z.B. Vermeidung von bestimmten Nahrungsmitteln bei Unverträglichkeiten (Allergien), angepasste Kohlehydratzufuhr (Diabetes Mellitus), Versuch der Beeinflussung von Organsystemen durch therapeutisches Fasten durch z.B. Mayr‑, Schroth, Fastenkur. (Pschyrembel Wörterbuch Naturheilkunde und alternative Heilverfahren. 2., überarb. Aufl. – Berlin, New York: de Gruyter, 2000)
• Phytotherapie: Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten und Befindlichkeitsstörungen durch Pflanzen, Pflanzenteile und deren Zubereitungen. Phytopharmaka bilden als Mehr- und Vielstoffgemische eine wirksame Einheit und müssen die Anforderungen des Arzneimittelgesetzes hinsichtlich Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erfüllen. Sie besitzen ein breites pharmakologisches Spektrum, haben oft weniger Nebenwirkungen als chemisch hergestellte Arzneimittel. (Pschyrembel Wörterbuch Naturheilkunde und alternative Heilverfahren. 2., überarb. Aufl. – Berlin, New York: de Gruyter, 2000)
• Psychosomatic Medicine,2002, Ausgabe 64, S. 382Zitation: Aus einem Vortrag von Hollmann, Wildor während des Kongresses: ‘Deutscher Kongress Sport und Präventivmedizin 2002’, in Köln