Nicht allein die Phytotherapie, sondern auch die Homöopathie Samuel Hahnemanns hat in den vergangenen zwei Jahrhunderten vielen Pharmakopoen neue Anregungen gegeben. So lieferte die homöopathische Forschung zahlreiche Aussagen über die Toxikologie, Pharmakologie und Biochemie von Tiergiften, da diese in dem Hahnemannschen Therapiesystem eine bedeutsame Rolle spielen.
Viele der verwendeten Tiere gehören in die Gruppe der “Ekeltiere” – ein taxonomisch allerdings “unsicherer Begriff”. Schlangen, Spinnen oder Kröten mögen zwar bei vielen Menschen Aversionen auslösen, in der Homöopathie aber werden sie vorurteilslos eingesetzt: Hier zeigt sich, was auch die Ökologie immer wieder zu zeigen versucht, daß diese “Ekeltiere” in der Regel äußerst nützliche und friedliche Tiere sind.
Erster Schritt: Herstellung einer Urtinktur nach HAB
Die pharmakologische Zubereitung nach dem homöopathischen Arzneibuch (HAB) erfolgt je nach verwendetem Tier unterschiedlich. Viele Insekten, wie Bienen (Apis mellifica) oder Hornissen (Vespa crabro), werden beispielsweise in Weingeist getötet und anschließend vollständig verrieben und bis zu der homöopathischen “Urtinktur”, die die Grundlage der potenzierten Arznei ist, weiterverarbeitet. Wird diese Urtinktur anschließend einem rhythmischen Verdünnungsverfahren unterworfen, von Hahnemann “Potenzierung” genannt, entwickelt sich – wie die Homöopathen für erwiesen halten – eine dem Medikament eigene besondere Heilkraft. Zudem vermag sowohl die Urtinktur, was pharmakologisch verständlich erscheint, als auch die potenzierte Arznei bei Gesunden Symptome hervorzurufen. Diese Symptome, das sogenannte Arzneimittelbild, sind charakteristisch für jedes Medikament und dienen als Grundlage für die homöopathische Arzneimittelfindung. Wie immer auch Samuel Hahnemann beurteilt werden mag, er hat als erster vor rund 200 Jahren systematische Arzneimittelprüfungen an Gesunden in die seinerzeit völlig unwissenschaftliche Pharmakologie eingeführt und somit die Grundlagen für exakte toxikologische Erkenntnisse gelegt.
Das getrocknete und anschließend potenzierte Bienengift, Apesinum (Apisin) zeigt, daß das gewonnene Arzneimittel auch aus isolierten Fraktionen eines Tieres gewonnen werden kann. Ein anderes, weit wichtigeres Mittel aus dieser Gruppe stellt die Ameisensäure (Acidum formicium) dar. Da die Ameisen dieses Gift als Verteidigung versprühen (“pissen”), kann neben der chemisch reinen Form der Ameisensäure auch das Sekret Ausgangsmaterial des homöopathischen Medikaments werden. Allerdings kommt, ebenso wie bei Bienen und Hornissen, auch das ganze Tier – Formica rufa – zum Einsatz.
Spinnen sind bedeutsame Lieferanten homöopathischer Medikamente
Viel mehr als die bisher genannten Tiere entsprechen die Spinnen dem Bild von Ekeltieren: Sie liefern aber ebenfalls für die Homöopathie wichtige Gifte. Ihre extreme Giftigkeit ist im Mittel weitaus größer als die der Schlangen und verbietet die Verwendung durch ungeübte Homöopathen. Zudem sollten Spinnengifte, wie beispielsweise die spanische Tarantel, nur in höheren Verdünnungsstufen eingesetzt werden.
Der vegetarisch lebende Blasenkäfer (Lytta vesicatoria) liefert das bekannte Cantharidin. In der Homöopathie hingegen dient das ganze Tier als Ausgangsmaterial. Die Indikationen haben zudem weitaus mehr mit Medizin zu tun, als der klassische Einsatz des Käfers als Aphrodisiakum. Wegen der hohen Toxizität – es wurde im Mittelalter häufig für Suizide “missbraucht” – ist das Medikament auch heute noch bis zur dritten Potenzierungsstufe (D3) verschreibungspflichtig. Diese Verschreibungspflicht bis zu einer bestimmten Verdünnung gilt auch für die meisten anderen homöopathischen Medikamente aus Tiergiften.
Kröten werden “abgemolken”
Typische Ekeltiere wie Kröten (Bufo rana) liefern dem homöopathischen Pharmazeuten nur ihr Gift. Bei dem sogenannten “Abmelken” der Kröten sezernieren die Kröten nach elektrischer Stimulation reflektorisch ihr Gift – Bufotalin. Auch das Gift vieler Schlangen wird vom lebenden Tier gewonnen. Die winzigen Mengen, die dabei gesammelt werden, machen Schlangengifte zu äußerst wertvollen Ausgangstoffen sowohl für homöopathische Medikamente als auch für Antiseren. Ist dieses Abmelken nicht möglich, müssen die Schlangen, wie z.B. Vipern, getötet und das Gift aus den freipräparierten Vorratsbläschen isoliert werden.
Die Homöopathie hat keine Probleme mit der Halbwertszeit …
Während die vorwiegend naturwissenschaftlich orientierte Medizin mit immer kürzeren ‘Halbwertszeiten’ ihrer therapeutischen Grundlagen zu kämpfen hat, hat das von Hahnemann inaugurierte System bis heute keine wesentlichen Änderungen erfahren. Neben der, den alten Alchemisten abgelauschten, speziellen Zubereitung der Medikamente – der Potenzierung – und der Arzneimittelprüfung am Gesunden hat sich ein weiteres Prinzip als Grundsäule dieses Systems herausgestellt: das sogenannte Simileprinzip. “Similia similibus curentur” beinhaltet die These, daß Krankheiten durch solche therapeutische Einwirkungen geheilt werden können, die am Gesunden ähnliche Symptome hervorrufen können. Alle, die es anders machen, sind die von den Homöopathen früher oft geschmähten “Allopathen”: Diese kühlen – im übertragenen Sinne – die Verbrennung der Patienten, während die Homöopathen sie mit einem gleichsinnigen Reiz (Wärme) zu behandeln versuchen.
Homöopathie nicht für Eilige geeignet
Der Vergleich des erwähnten “Arzneimittelbildes” mit den Symptomen des Kranken allerdings ist die eigentliche Crux der Homöopathie – der Grund warum sie nie große Kreise zog: Denn, nach Hahnemannschen Vorschriften dürfen nicht die krankheitstypischen, pathognomonischen Symptome mit den Symptomen der Arzneimittelprüfung verglichen werden. Die Verschreibung des individuell richtigen Medikamentes muss vielmehr aufgrund besonderer, abweichender und äußerst individueller Symptome des Patienten vorgenommen werden. Damit entzieht sich die Homöopathie, ähnlich der chinesischen Medizin, nahezu vollständig der Krankheitsklassifikation der übrigen Medizin. Die Indikationen eines Medikamentes sind nicht mehr die bekannten Krankheitsbilder, sondern anfänglich schwer zu erfassende, individuelle Krankheitssyndrome. Ein Patient bekommt das potenzierte Schlangengift Lachesis nicht deswegen, weil bei ihm eine Trigeminusneuralgie vorliegt. Sondern weil sich, und das ist typisch für das Arzneimittelbild von Lachesis, die Beschwerden nach dem Aufwachen verschlechtert haben, sich durch Wärme verschlimmern und vorzugsweise auf der linken Seite auftreten.
Trotz dieser erschwerten Bedingungen der richtigen Arzneimittelfindung haben sich nach und nach bei einigen Medikamenten zumindest Indikationsbereiche herauskristallisiert. So ist beispielsweise das Gift der Otter (Lachesis) immer wieder bei einem septischem Verlauf von Infektionskrankheiten oder akutem Gelenkrheumatismus eingesetzt worden. Zudem stellt das Medikament eines der homöopathischen “Polykreste” dar, also ein Heilmittel mit besonders breitem Anwendungsgebiet.
Apis mellifica bei exsudativen Entzündungen
Dies gilt auch für die erwähnte Honigbiene. Kennzeichnend für Apis mellifica sind exsudative Entzündungen mit circumscripten Ödembildungen, wobei besonders seröse Häute betroffen sind. Apis hat zudem eine besondere Beziehung zu den Organen des Rachenringes und des Kehlkopfes und wird deswegen oft bei Angina tonsillaris eingesetzt. Typisch für die, wie es homöopathische Ärzte nennen würden, “Apis-Patienten” sind unter anderem eine nervöse Ruhelosigkeit und eine ausgeprägte Berührungsempfindlichkeit der Haut. Des weiteren sind Hitzeunverträglichkeit und eine nachmittägliche Beschwerdeverschlimmerung charakteristisch.
Die Rolle von Apis bei der homöopathischen Behandlung von Krankheiten des rheumatischen Formenkreises ist bereits bedeutend – viel wichtiger aber ist hierbei die Ameise (Formica rufa), sowie die potenzierte Ameisensäure. Die letztere bewirkt vor allem bei akutem Gelenkrheumatismus ein schnelles Nachlassen der Schmerzen. Patienten mit chronischen Arthritiden dagegen reagieren vor allem dann auf das Medikament, wenn primär Sehnen und Gelenkkapsel betroffen sind. Neben dieser Hauptindikation ist Formica rufa eines der wichtigsten homöopathischen Konstitutionsmittel. Das bedeutet, daß hiermit – sofern Arzneimittel- und Symptomenbild des Patienten in entscheidenden Punkten übereinstimmen – die grundlegende Krankheitsbereitschaft (Konstitution) positiv beeinflusst werden kann.
Der Tintenfisch des Mittelmeeres (Sepia officinalis) liefert ein weiteres sehr bedeutsames Medikament. Dieses Mittel, aus der schwarzen Tinte des Kopffüßlers hergestellt, wurde bereits von Hahnemann in die Homöopathie eingeführt und hat keine toxischen Wirkungen wie die bereits erwähnten Tiergifte. Gynäkologische Erkrankungen, wie Dysmenorrhoe oder Menorrhagien, sind wichtige Indikationen dieses Polykrestes. Auch bei vielen klimakterischen Beschwerden wird Sepia gerne eingesetzt. Die Leitsymptome hierbei sind depressive Verstimmung und Gleichgültigkeit gegenüber Familie und Beruf.
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Rainer H. Bubenzer (DJV, KdM) – Hamburg (für THW / Therapeutische Woche, 5.6.1990).
Quelle
Veranstaltung: “Karneval der Tiere”, Gesellschaft Homöopathischer Ärzte in Schleswig-Holstein und den Hansestädten e.V., Ärztekammer Hamburg (1989).
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