Manuelle Medizin – Vom “Knochenbrechen” und “Einrenken” der Chirotherapie

Kaum ein Gebiet der Kom­ple­men­tär­me­di­zin ver­fügt über so ver­schie­den­ar­ti­ge Schu­len wie die Manu­el­le Medi­zin. Die Viel­falt der Syn­ony­me – z. B. Osteo­pa­thie, Chi­ro­prak­tik, Chi­ro­the­ra­pie oder Osteo­the­ra­pie – unter­streicht dies. Ursa­che hier­für ist nicht zuletzt die lan­ge Tra­di­ti­on der Manu­el­len Medizin.

Seit dem Alter­tum fin­den sich immer wie­der Berich­te, wie Ärz­te mit Hil­fe von “Hand­greif­lich­kei­ten” beson­ders am Bewe­gungs­ap­pa­rat ihrer Pati­en­ten Beschwer­den zu lin­dern oder Krank­hei­ten zu hei­len ver­such­ten. Auch wäh­rend des Mit­tel­al­ters schei­nen mani­pu­la­ti­ve Tech­ni­ken ange­wen­det wor­den zu sein. Eine wich­ti­ge Wei­ter­ent­wick­lung wur­de im 17. Jahr­hun­dert durch die Theo­rie der Gewe­be-Irri­ta­bi­li­tät des eng­li­schen Arzt Fran­cis Glis­son ein­ge­lei­tet. Zum Aus­gang des 19. Jahr­hun­dert beschrieb der Schwei­zer Arzt Dr. Otto Naeg­li aus­führ­lich The­ra­pien mit­tels Hand­grif­fen. Im anglo­ame­ri­ka­ni­schen Sprach­raum war es vor allem der ame­ri­ka­ni­sche Arzt Jim Atkin­son, der im 19. Jahr­hun­dert Anstoß für die Ent­ste­hung der von Dr. Andrew Tay­lor Still begrün­de­ten Schu­le der Osteo­pa­thie und der von dem Kauf­mann und Lai­en­the­ra­peu­ten Dani­el David Pal­mer begrün­de­ten Schu­le der Chi­ro­prak­tik gab. Nach dem 2. Welt­krieg wur­den die­se Tech­ni­ken auch nach Euro­pa impor­tiert. In Deutsch­land wur­de in den 50er Jah­ren eine ers­te ärzt­li­che Ver­ei­ni­gung gegrün­det, die auch bald eine Kli­nik in Hamm eta­blier­te. Doch die Manu­el­le Medi­zin umfaßt nicht allein die­se kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­schen Ansät­ze, son­dern fin­det sich auch im Fach­ge­biet der Ortho­pä­die ver­tre­ten. Beson­ders im ehe­ma­li­gen Ost­block wur­de über Jahr­zehn­te eine aka­de­mi­sche Manu­el­le Medi­zin geför­dert, deren Inhal­te neben Ärz­ten auch Phy­sio­the­ra­peu­ten und ande­ren medi­zi­ni­schen Beru­fen ver­mit­telt wurden.

Heu­te stellt sich die Fra­ge, war­um bestimm­te Schu­len der Manu­el­len Medi­zin über­haupt zur Kom­ple­men­tär­me­di­zin, zur Außen­sei­ter­me­di­zin gezählt wer­den. So gibt es allei­ne in den USA rund 38.000 ärzt­li­che Mit­glie­der der Ame­ri­can Osteo­pa­thic Asso­cia­ti­on (AOA), dem Pen­dant des Ärz­te­ver­ban­des Ame­ri­can Medi­cal Asso­cia­ti­on (AMA). Alle die­se Osteo­pa­then haben eine min­des­tens vier­jäh­ri­ge Aus­bil­dung erhal­ten (und kön­nen den Titel doc­tor of osteo­pa­thy – DO erlan­gen). Wie­vie­le der, einem Heil­prak­ti­ker mit ein­ge­schränk­tem The­ra­pie­spek­trum ähneln­den Chi­ro­prak­ti­ker es in den USA gibt, ist nicht genau bekannt. Aller­dings zei­gen Unter­su­chun­gen im US-Bun­des­staat Ore­gon, daß etwa 40% aller Pati­en­ten, vor oder par­al­lel zu einem Arzt­be­such einen Chi­ro­prak­ti­ker in Anspruch neh­men [1]. Obwohl die Manu­el­le The­ra­pie in Euro­pa nicht unbe­deu­tend ist, gibt es hier kei­ne den USA ent­spre­chen­de Ent­wick­lung. Selbst wenn die bri­ti­sche Regie­rung 1993 Osteo­pa­then als The­ra­pie­rich­tung mit eigen­stän­dig arbei­ten­den, nicht-ärzt­li­chen The­ra­peu­ten zuge­las­sen hat. Der For­de­rung bri­ti­scher Medi­zi­ner, wenigs­tens eine hin­rei­chen­de Wirk­sam­keit der Osteo­pa­thie nach­zu­wei­sen, ent­geg­ne­te damals das Ober­haus-Mit­glied Bald­win von Bewd­ley, Ange­hö­ri­ger der Par­la­ments­grup­pe für Kom­ple­men­tär­me­di­zin: “Eine gute Gesund­heit und der Schutz der Öffent­lich­keit sind die Maß­stä­be bei der Zulas­sung von alter­na­ti­ven Heil­ver­fah­ren. Die wis­sen­schaft­li­che Beweis­füh­rung kann dann spä­ter fol­gen” [2]. In Deutsch­land gibt es seit 1979 die ärzt­li­che Zusatz­be­zeich­nung “Chi­ro­the­ra­pie”, deren Aus­bil­dungs-Vor­aus­set­zun­gen jedoch in kei­nem Ver­hält­nis zu dem fun­dier­ten osteo­pa­thi­schen Stu­di­um in den USA ste­hen. Die Chi­ro­the­ra­pie steht unter der Obhut der Deut­schen Gesell­schaft für Manu­el­le Medi­zin mit rund 4.100 Mit­glie­dern [3].

Nosologie (Krankheitslehre)

Das Ziel der Manu­el­len Medi­zin ist die Dia­gno­se und The­ra­pie von rever­si­blen Funk­ti­ons­stö­run­gen am Hal­te- und Bewe­gungs­ap­pa­rat, um eine phy­sio­lo­gi­sche, schmerz­freie Bewe­gung wie­der­zu­er­lan­gen [4]. Zum Nach­weis der­ar­ti­ger Stö­run­gen wur­den spe­zi­el­le dia­gnos­ti­sche Tech­ni­ken an Wir­bel­säu­le und Extre­mi­tä­ten­ge­len­ken ent­wi­ckelt. Syn­ony­me für die rever­si­blen Funk­ti­ons­stö­run­gen sind die Begrif­fe Dys­funk­ti­on und Blo­ckie­rung.

Die Ent­ste­hung von Dys­funk­tio­nen im Bereich der Wir­bel­säu­le und/​oder peri­phe­rer Gelen­ke kann viel­fäl­ti­ge Ursa­chen haben. Des­halb ist es sowohl für das dia­gnos­ti­sche wie the­ra­peu­ti­sche Vor­ge­hen wesent­lich, die Patho­ge­ne­se zu ana­ly­sie­ren, um gege­be­nen­falls kau­sal und nicht nur sym­pto­ma­tisch the­ra­pie­ren zu können.

Unter­schie­den wer­den spon­dy­lo­gen-arth­ro­ge­ne und myo­gen-reflek­to­ri­sche Ursa­chen von Blo­cka­den. Bei den ers­te­ren lie­gen Ver­än­de­run­gen vor, die sich unmit­tel­bar oder aus­schließ­lich auf die Gelenk­funk­ti­on aus­wir­ken. Am häu­figs­ten z. B. trau­ma­tisch beding­te Stö­run­gen und dege­ne­ra­ti­ve Ver­än­de­run­gen von Gelen­ken oder den ent­spre­chen­den Disci. Bei den myo­gen-reflek­to­ri­schen Stö­run­gen han­delt es sich um kom­ple­xe Abläu­fe unter­schied­li­chen Ursprungs, die häu­fig über myo­ge­ne Struk­tu­ren als Erfolgs­or­ga­ne wir­ken. Hier­zu gehö­ren die sta­ti­schen Ver­än­de­run­gen, z. B. infol­ge von chro­ni­schen Fehl­hal­tun­gen oder unphy­sio­lo­gi­scher und chro­ni­scher Belas­tung. Aller­dings zählt die Manu­el­le Medi­zin auch chro­ni­sche oder aku­te Erkran­kun­gen in die­sen Kom­plex, die in der Lage sind, reflek­to­risch myo­ge­ne Wech­sel­wir­kun­gen her­zu­stel­len. Bei­spiels­wei­se soll eine Sinu­s­i­tis zu Dys­funk­tio­nen im Bereich C2, C3 füh­ren, oder eine Kie­fer­ge­lenks-Luxa­ti­on zu Knie­be­schwer­den. Nicht zu ver­ges­sen sind jene psy­cho­so­ma­ti­schen Erkran­kun­gen, bei denen eine see­li­sche Stö­rung über reflek­to­risch-myo­ge­ne Wech­sel­wir­kun­gen auch zu Blo­cka­den am Bewe­gungs­ap­pa­rat führt. Bei­spiels­wei­se kön­nen bei Depres­sio­nen Dys­funk­tio­nen der Cos­to­trans­ver­sal­ge­len­ke auf­tre­ten. Leich­ter nach­zu­voll­zie­hen sind schließ­lich dege­ne­ra­ti­ve und ande­re Ver­än­de­run­gen an Gelenk­struk­tu­ren, die ihrer­seits myo­ge­ne Fern­wir­kun­gen haben, z. B. eine Lum­bal­gie bei Arthro­se des Sprunggelenkes.

Die Theo­rie der Blo­cka­de umfaßt vie­le noso­lo­gi­sche Vor­stel­lun­gen, die auch ande­re Kom­ple­men­tär­me­di­zi­nen und gro­ße Tei­le der natur­wis­sen­schaft­li­chen Medi­zin cha­rak­te­ri­sie­ren. Bei­spiels­wei­se die für die Pro­gno­se bedeut­sa­me Klas­si­fi­ka­ti­on in aku­te oder chro­ni­sche Stö­rung. Wobei letz­te­re nicht nur höhe­ren the­ra­peu­ti­schen Auf­wand ver­langt, son­dern auch eine ver­stärk­te Rezi­div­nei­gung zei­gen soll. Im Rah­men der Dia­gno­se wer­den die Blo­cka­den zudem nach ihrem Aus­maß und dem ermit­tel­ten Blo­ckie­rungs­grad unter­schie­den. Hier­zu müs­sen die sechs mög­li­chen Bewe­gungs­rich­tun­gen (Rota­ti­on und Late­ral­fle­xi­on – jeweils links und rechts, Ante-/Re­tro­fle­xi­on) geprüft wer­den. Ein phy­sio­lo­gi­sches Maß unter­schrei­ten­des Bewe­gungs­spiel von Gelen­ken wird als Hypo­mo­bi­li­tät bezeichnet.

Indikationen

Die Indi­ka­ti­on zur Manu­el­len The­ra­pie liegt dann vor, wenn eine seg­men­ta­le, peri­pher arti­ku­lä­re und/​oder myo­fa­scia­le Dys­funk­ti­on infol­ge hypo­mo­bi­ler rever­si­bler Funk­ti­ons­ein­schrän­kun­gen eines Gelen­kes besteht.

Vertebrale Funktionsstörung

  • Cer­vico-occi­pi­tal-Syn­drom (Nacken­schmer­zen)
  • mitt­le­res Cer­vical-Syn­drom mit Torticollis
  • mus­ku­lä­re Dys­ba­lan­ce im Schultergürtel
  • Tho­ra­co-ver­te­bral-Syn­drom
  • Hypo­mo­bi­li­tät im Cos­to-ver­te­bral-Gelenk mit schmerz­haf­ter Atemfunktionsstörung
  • Lum­bo-ver­te­bral-Syn­drom
  • Ili­o­sa­cral­ge­lenks-Syn­drom mit Symphysenschmerz
  • mus­ku­lä­re Dys­ba­lan­ce im Beckengürtel

Periphere Funktionsstörungen

  • Funk­ti­ons­ver­min­de­rung im Acro­meo-cla­vicu­lar- und Sterno-clavicular-Gelenk
  • Ten­do­pa­thien
  • Hypo­mo­bi­li­tät im Carpus
  • ver­min­der­tes joint-play der Fingergelenke
  • Coxal­gie
  • Hypo­mo­bi­li­tät im pro­xi­ma­len und dista­len Tibio-fibular-Gelenk

Spondylogene Beschweren

  • Cer­vico-spon­dy­lo­ge­nes Syn­drom, Hin­ter­kopf-Parie­tal-Fron­tal-Retro­or­bi­tal­schmerz, Schwank­ge­fühl, Descren­do-Schwin­del, Tin­ni­tus, Dop­pel­bil­der, Gesichts­schmerz, Kie­fer-Zahn­schmerz, Glo­bus­ge­fühl, Schluckbeschwerden
  • Cer­vico-ence­phal-Syn­drom mit Kon­zen­tra­ti­ons­schwä­che, cer­vicale Migräne

Doch hier­mit nicht genug: Die Chi­ro­the­ra­pie bean­sprucht als Ganz­heits­the­ra­pie auch Indi­ka­tio­nen, deren Berech­ti­gung selbst unter Berück­sich­ti­gung kom­ple­xer, cutivis­ce­ra­ler Neu­ro­nen­ver­schal­tun­gen nur schwer nach­voll­zieh­bar erschei­nen, z. B. Schluck­auf, Her­pes­in­fek­tio­nen oder Asth­ma bron­chia­le. Ein Schü­ler Stills, Wil­liam Gar­ner Sut­her­land, pos­tu­lier­te gar eine mini­ma­le Beweg­lich­keit der Kno­chen­näh­te des Schä­dels. Die­se sei­en als fibrö­se Gelen­ke zu betrach­ten, deren – z. B. trau­ma­tisch beding­ter – Beweg­lich­keits­ver­lust zu erheb­li­chen Gesund­heits­stö­run­gen mit Hal­tungs­schä­den, Seh­stö­run­gen oder gar epi­lep­ti­schen Anfäl­len füh­ren könnten.

Kontraindikationen

Die Berück­sich­ti­gung der Kon­tra­in­di­ka­tio­nen ist, gera­de für die vie­len, medi­zi­nisch nicht hin­rei­chend qua­li­fi­zier­ten Manu­al­the­ra­peu­ten, von essen­ti­el­ler Bedeu­tung (in den USA wer­den pro Jahr durch­schnitt­lich 12 Todes­fäl­le sowie 50 Fäl­le schwe­rer Schä­di­gun­gen in Fol­ge von chirotherapeutischen/​chiropraktischen Inter­ven­tio­nen gezählt [5]). Grund­sätz­lich darf nicht manu­ell behan­delt wer­den, wenn eine nor­ma­ler­wei­se freie Gelenk-Bewe­gungs­rich­tung durch fri­sche Trau­men, Tumo­ren, Ent­zün­dun­gen oder Band­schei­ben­vor­fäl­le ein­ge­schränkt ist. Bei­spiels­wei­se also nicht bei aku­tem Band­schei­ben­vor­fall mit radi­ku­lä­rer Sym­pto­ma­tik oder aku­tem, cer­vi­ka­lem Band­schei­ben­vor­fall mit oder ohne radi­ku­lä­re Sym­pto­ma­tik. Auch eine aus­ge­dehn­te Osteo­po­ro­se oder ande­re Osteo­pa­thien mit Frak­tur­nei­gung sowie aku­te Gelenk­in­fek­ti­on jeg­li­cher Gene­se stel­len eine abso­lu­te Kon­tra­in­di­ka­ti­on dar.

Diagnostik

Vor der The­ra­pie wird in der Manu­al­me­di­zin gro­ßer Wert auf eine aus­führ­li­che Dia­gnos­tik gelegt, die sich neben Ana­mne­se und Inspek­ti­on vor allem auf Pal­pa­ti­on, akti­ve und pas­si­ve Bewe­gungs­prü­fung, trans­la­to­ri­sche Gelenk­tests, Mus­kel­tests und Rönt­gen­dia­gnos­tik stützt. Die spe­zi­fisch chi­ro­the­ra­peu­ti­sche Dia­gnos­tik ist beson­ders auf die Unter­su­chung des mus­ku­los­ke­letta­len Sys­tems aus­ge­rich­tet, um Blo­cka­den zu iden­ti­fi­zie­ren. Der Ganz­heits­an­spruch der Manu­el­len Medi­zin zeigt sich auch in ihrer For­de­rung, die spe­zi­fi­sche Dia­gnos­tik immer durch eine voll­stän­di­ge kör­per­li­che Unter­su­chung sowie eine voll­stän­di­ge Ana­mne­se zu ergän­zen. Die hohe Bedeu­tung der Rönt­gen­dia­gnos­tik wird jedoch nur von den kli­nisch ori­en­tier­ten Ver­tre­tern der Manu­el­len Medi­zin betont.

Spe­zi­el­le Unter­su­chungs­tech­ni­ken umfas­sen die “seg­men­ta­le Funk­ti­ons­prü­fung”, das Auf­su­chens “seg­men­ta­ler Irri­ta­ti­ons­punk­te” und die “funk­tio­nel­le seg­ment­be­zo­ge­ne Irri­ta­ti­ons­dia­gnos­tik”. Die seg­men­ta­le Funk­ti­ons­prü­fung wird für jedes Wir­bel­säu­len­seg­ment ein­zeln durch­ge­führt. Sie beginnt mit der akti­ven Bewe­gungs­prü­fung, an die sich eine pas­si­ve Funk­ti­ons­prü­fung anschließt. Bei die­ser wer­den z. B. an der LWS, BWS und zum Teil auch HWS, die Beweg­lich­keit der Dorn­fort­sät­ze zuein­an­der bei Rota­ti­on, Fle­xi­on, Exten­si­on und Seit­nei­gung durch Pal­pa­ti­on über­prüft. Eine wich­ti­ge Funk­ti­ons­prü­fung ist dabei die Fest­stel­lung des “Vor­lauf­phä­no­mens”, das eine patho­lo­gi­sche Hypo­mo­bi­li­tät eines Gelen­kes oder Seg­men­tes mit ein­sei­tig gestör­tem Gelenk­spiel auf­zeigt. Der “Spi­ne-Test” wie­der­um – eine genaue Manu­el­le Unter­su­chung des Sakro­i­li­a­kal­ge­len­kes – erlaubt den wich­ti­gen Sei­ten­ver­gleich der Gelenk­funk­ti­on. Der “Fede­rungs­test” soll dage­gen die Beur­tei­lung der Hyper­mo­bi­li­tät eines Seg­men­tes erlau­ben, z. B. des Os sacrum. Die Fest­stel­lung der “varia­blen Bein­län­gen­dif­fe­renz” (unglei­che Ver­schie­bung der Bei­ne beim Auf­rich­ten des Ober­kör­pers aus dem Lie­gen) soll eben­falls Anzei­chen zumeist kom­ple­xer Dys­funk­tio­nen sein. Wei­te­re spe­zi­fi­sche Unter­su­chun­gen betref­fen die pal­pa­to­risch erfaß­te Rip­pen­be­we­gun­gen wäh­rend In- und Expi­ra­ti­on sowie eine Fül­le von Unter­su­chun­gen der HWS, sowie aller Schul­ter­gür­tel- sowie der Kie­fer­ge­len­ke. Auch die peri­phe­ren Gelen­ke sind Ziel der beson­de­ren Dia­gnos­tik der Manu­el­len Medi­zin: Neben pas­si­ver Beur­tei­lung des Gelenk­kap­sel­zu­stan­des geben zahl­rei­che Trak­ti­ons­tech­ni­ken Aus­kunft über die Gelenk­funk­ti­on und even­tu­el­le Blockaden.

Aus­ge­hend von der Ansicht der Osteo­pa­thie, daß jedem Seg­ment der Wir­bel­säu­le ein Irri­ta­ti­ons­punkt zuge­ord­net wer­den kann, der bei bestehen­der Dys­funk­ti­on als ver­här­tet tast­ba­rer, mus­ku­lä­rer Kor­re­spon­denz­punkt mit dem Fin­ger pal­pa­bel sei, bekommt die funk­tio­nel­le, seg­men­ta­le Irri­ta­ti­ons­dia­gnos­tik eine beson­de­re Bedeu­tung. Fin­det sich näm­lich eine Gelenk­blo­cka­de in Kom­bi­na­ti­on mit einem posi­ti­ven Befund eines seg­men­ta­len Irri­ta­ti­ons­punk­tes, ist die Indi­ka­ti­on zur Chi­ro­the­ra­pie gege­ben. Gleich­zei­tig kann im Rah­men der seg­men­ta­len Funk­ti­ons­über­prü­fung die Rich­tung des the­ra­peu­tisch not­wen­dig wer­den­den mani­pu­la­ti­ven Impul­ses bestimmt wer­den (“freie Richtung”).

Therapie

Bei den The­ra­pie­ver­fah­ren wird zwi­schen “Mani­pu­la­ti­on” und “Mobi­li­sa­ti­on” unter­schie­den: Die Mani­pu­la­ti­on ist ein kur­zer, schnel­ler Bewe­gungs­im­puls mit gerin­gem Kraft­auf­wand, bei dem eine Trau­ma­ti­sie­rung ver­mie­den wer­den muß (u.a. durch das Prin­zip des “lang­sa­men Pro­be­zu­ges”, wel­cher über das Bewe­gungs­aus­maß des geplan­ten Impul­ses hin­aus­geht und vor jeder Mani­pu­la­ti­on durch­ge­führt wird). Ent­schei­dend für den Erfolg ist die spe­zi­el­le, an die jewei­lig durch­zu­füh­ren­de Mani­pu­la­ti­on ange­paß­te Posi­ti­on des Pati­en­ten. Die­se soll auch aus­schlie­ßen, daß der the­ra­peu­ti­sche Bewe­gungs­im­puls in benach­bar­ten Seg­men­ten Schä­di­gun­gen bewirkt. Der Impuls soll bei der Mani­pu­la­ti­on v.a. in die noch frei­en Bewe­gungs­rich­tun­gen gehen. Im Rah­men der Mobi­li­sa­ti­on wird ver­sucht, das Gelenk­spiel durch pas­si­ve Anwen­dun­gen – pos­t­i­so­me­tri­sche Mus­kel­re­la­xa­tio­nen, Längs- und Quer­deh­nun­gen von Mus­ku­la­tur und Band­struk­tu­ren – wie­der­her­zu­stel­len. Hier fin­den sich zahl­rei­che Manu­el­le Tech­ni­ken, die ähn­li­cher Wei­se auch in der Ortho­pä­die und Phy­sio­the­ra­pie zum Ein­satz kom­men. Die Mobi­li­sa­tio­nen arbei­ten im wesent­lich in die ein­ge­schränk­te Bewegungsrichtung.

Bewertung

Die Kri­tik der Manu­el­len Medi­zin durch die natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­te Medi­zin fällt teil­wei­se ver­nich­tend aus. So heißt bei­spiels­wei­se in einem schon 1937 in der Schweiz von sie­ben Kapa­zi­tä­ten ihres Fachs publi­zier­ten Gut­ach­ten über die Chi­ro­prak­tik [6]: “1. Die Chi­ro­prak­tik beruht auf wis­sen­schaft­lich unmög­li­chen Vor­aus­set­zun­gen; infol­ge­des­sen fällt bei nähe­rer Prü­fung der gan­ze Bau des Lehr­ge­bäu­des in sich zusam­men. 2. Die angeb­li­chen Heil­erfol­ge der Chi­ro­prak­ti­ker hal­ten einer ernst­haf­ten Prü­fung nicht stand. Wir haben nicht einen ein­zi­gen Fall von voll­kom­me­ner Hei­lung einer wirk­lich benenn­ba­ren umschrie­be­nen Krank­heit gese­hen. Die uns gezeig­ten Fäl­le betref­fen in der Haupt­sa­che einer­seits see­lisch oder ner­vös beding­te Sym­ptom­bil­der, die in aller­ers­ter Linie auf Stö­run­gen im Ner­ven- und See­len­le­ben des Pati­en­ten zurück­zu­füh­ren sind, and­rer­seits Beschwer­den soge­nannt rheu­ma­ti­scher Natur. Bei­de Grup­pen die­ser Affek­tio­nen sind im Lau­fe der Zeit aber sowie­so Bes­se­run­gen (und Rück­fäl­len) unter­wor­fen”. Die­ses “ver­ges­se­ne” Gut­ach­ten, so meint der ortho­pä­di­sche Chir­urg Prof. Max Gei­ser aus Wabern/​Schweiz, wies schon damals auf die sys­te­mi­schen Feh­ler hin, die Chi­ro­prak­tik, Chi­ro­the­ra­pie und in ein­ge­schränk­tem Umfang auch die moder­ne Manu­el­le Medi­zin aus­zeich­nen [7].

So sei, meint Gei­ser, die zur Begrün­dung der Heil­erfol­ge ange­führ­te ana­to­misch-phy­sio­lo­gi­sche Grund­la­ge falsch, weil “sich die, von den Chi­ro­prak­to­ren für sehr vie­le Krank­hei­ten ange­schul­dig­ten Wir­bel­ver­schie­bun­gen inner­halb des nor­ma­len, phy­sio­lo­gi­schen Bewe­gungs­um­fan­ges zwi­schen den Wir­beln befin­den oder Fol­ge der übli­chen nor­ma­len Wir­bel­asym­me­trie sind”. Und wei­ter: “Die angeb­li­chen Sub­lu­xa­tio­nen sind nicht imstan­de, das Inter­ver­te­bral­lo­ch ein­zu­en­gen und den gut geschütz­ten Spi­nal­nerv zu bedrän­gen”. Zudem füh­re die Beschä­di­gung eines oder sogar meh­re­rer Spi­nal­ner­ven nicht zu einer Beein­träch­ti­gung der Funk­ti­on inne­rer Orga­ne, weil deren Inner­va­ti­on immer aus den vege­ta­ti­ven Fasern vie­ler Spi­nal­ner­ven her­rührt. Ja, selbst voll­stän­di­ge Luxa­tio­nen und trau­ma­tisch und arthri­tisch schwer ver­än­der­te Wir­bel­säu­len beein­träch­ti­gen die Spi­nal­ner­ven sehr oft nicht und sei­en nie­mals die Ursa­che von Organ­funk­ti­ons­stö­run­gen, betont Geiser.

Schließ­lich sei­en die von Chi­ro­prak­ti­kern ange­schul­dig­ten und manu­ell adjus­tier­ten Dys­funk­tio­nen (in der Schweiz immer­hin mehr als eine Mil­li­on pro Jahr, in Deutsch­land ca. 10 Mil­lio­nen) so gering­fü­gig, daß sie weder durch eine Pal­pa­ti­on, geschwei­ge denn auf­wen­di­ge bild­ge­ben­de Ver­fah­ren fest­ge­stellt wer­den könn­ten. War­um für der­ar­tig gering­fü­gi­ge Ver­schie­bun­gen mehr­fa­che bis regel­mä­ßi­ge Mani­pu­la­tio­nen zur Wie­der­ein­rich­tung not­wen­dig sein sol­len, ist schon gar nicht ein­zu­se­hen, meint Gei­ser. Wenn also die Chi­ro­prak­tik und Osteo­pa­thie kei­ne ana­to­misch-phy­sio­lo­gi­sche Grund­la­ge hat, müs­sen die unbe­strit­te­nen Heil­erfol­ge in den Bereich der lar­vier­ten Sug­ges­tiv­me­tho­den ein­ge­ord­net wer­den, die bekann­ter­ma­ßen bei dafür emp­fäng­li­chen Pati­en­ten mit spon­tan remit­tie­ren­den Beschwer­den sehr wirk­sam sein können.

Rückenbeschwerden – Daten und Fakten

  • 80% aller Men­schen lei­den min­des­tens ein­mal im Leben an Rückenbeschwerden
  • Inner­halb eines Jah­res erlei­den 60% der Bevöl­ke­rung Beschwerdeepisoden
  • 80–90% der lum­ba­len Schmerz­at­ta­cken sis­tie­ren inner­halb von 6 Wochen – unab­hän­gig von der Durch­füh­rung oder Art einer Therapie
  • Die Inzi­denz von Rücken­be­schwer­den nimmt nicht zu
  • Seit 1945 hat die Inzi­denz von Erwerbs­un­fä­hig­keit, Inva­li­di­tät oder Dienst­un­taug­lich­keit wegen Rücken­be­schwer­den extrem zuge­nom­men (“iatro­ge­ne Invalidisierung”)
  • Bei 99 Pro­zent der Rücken­pa­ti­en­ten gibt es bis heu­te kei­nen faß­ba­ren prä­zi­sen patho­lo­gi­schen Befund zur Erklä­rung der Schmerzen
  • Es gibt kei­ne Kor­re­la­ti­on zwi­schen Aus­maß der Schmer­zen von Pati­en­ten und radio­lo­gisch, com­pu­ter­to­mo­gra­phisch und patho­lo­gisch-ana­to­misch nach­ge­wie­se­nen Ver­än­de­run­gen im Bereich der Wirbelsäule

Quel­le: Gei­ser (1993)

Ohne Zwei­fel lei­det die Manu­el­le The­ra­pie in West­eu­ro­pa unter der unse­li­gen Ver­mi­schung von wis­sen­schaft­li­cher Ori­en­tie­rung (Chi­ro­the­ra­pie) und den umfas­sen­den Heils­ver­spre­chun­gen einer teil­wei­se sek­tie­re­risch auf­tre­ten­den Außen­sei­ter­me­di­zin (Chi­ro­prak­tik). Hin­zu kommt, daß bei zuneh­men­der Tech­ni­sie­rung und der Auf­tei­lung in immer spe­zia­li­sier­te­re Fach­ge­bie­te in der west­li­chen Medi­zin ent­schei­den­de Ansät­ze zur wis­sen­schaft­li­chen Sys­te­ma­ti­sie­rung der seg­men­ta­len Inner­va­ti­on (Hen­ry Head, J. Macken­zie, Karl Han­sen, Hans Schliack u.a.) und ihren dia­gnos­ti­schen und the­ra­peu­ti­schen Mög­lich­kei­ten lan­ge ver­ges­sen wur­den [8]. Wird die wis­sen­schaft­li­che Manu­el­le The­ra­pie, die Osteo­the­ra­pie nicht allein als – mehr oder weni­ger unbe­ach­te­tes – Anhäng­sel der Ortho­pä­die miß­ver­stan­den, reiht sie sich in ein wei­tes Umfeld klas­si­scher und kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­scher Ver­fah­ren ein, zu denen vie­le Ver­fah­ren der Phy­sio­the­ra­pie, die Aku­punk­tur und Aku­pres­sur, die ver­schie­de­nen Reflex­zo­nen­the­ra­pien, die Neu­ral­the­ra­pie und klas­si­sche natur­heil­kund­li­che Ver­fah­ren wie Schröp­fen, Ska­ri­fi­zie­ren oder Baun­scheid­tie­ren gehören.

Autor
• Rai­ner H. Buben­zer, Heil­pflan­­zen-Welt (1999).
Quel­len
1. a. NN: Cli­ni­cal prac­ti­ce gui­de­lines in com­ple­men­ta­ry and alter­na­ti­ve medi­ci­ne. An ana­ly­sis of oppor­tu­ni­ties and obs­ta­cles. Prac­ti­ce and Poli­cy Gui­de­lines Panel, Natio­nal Insti­tu­tes of Health Office of Alter­na­ti­ve Medi­ci­ne. Arch Fam Med. 1997 Mar-Apr;6(2):149–54 (Med­li­ne).
b. Elder NC, Gill­crist A, Minz R: Use of alter­na­ti­ve health care by fami­ly prac­ti­ce pati­ents. Arch Fam Med. 1997 Mar-Apr;6(2):181–4 (Med­li­ne).
2. Bald­win of Bewd­ley: Com­ple­men­ta­ry medi­ci­ne. Allow com­ple­men­ta­ry medi­ci­ne room to deve­lop. BMJ. 1993 Jul 31;307(6899):327 (Med­li­ne).
3. Dvo­rak J et al. (Hrsg.): Manu­el­le Medi­zin. Ber­tels­mann Stif­tung, Güters­loh, 1990.
4. Bisch­off, HP et al.: Manu­el­le Medi­zin. In: Augus­tin, M. et al. (Hrsg.): Pra­xis­leit­fa­den der Natur­heil­kun­de. Jung­jo­hann Ver­lags­ge­sell­schaft, Neckar­sulm. 1994.
5. Dabbs V, Lau­ret­ti WJ: A risk assess­ment of cer­vical mani­pu­la­ti­on vs. NSAIDs for the tre­at­ment of neck pain. J Mani­pu­la­ti­ve Phy­si­ol Ther. 1995 Oct;18(8):530–6 (Med­li­ne).
6. von Alber­ti­ni A, Biber W, Clairm­ont P, Denz­ler E, Mai­er HW, von Möl­len­dorff W, Scherb R, Schinz HR, Ver­a­guth O: Gut­ach­ten über die Chi­ro­prak­tik. Zürich, Leip­zig – Orell Füss­li Ver­lag, 1937.
7. Gei­ser, M.: Die ver­ges­se­nen Gut­ach­ten über die Chi­ro­prak­tik. Schweiz Rund­sch Med Prax. 1993 Aug 17;82(33):875–9. (Med­li­ne).
8. Han­sen K, Schliack H: Seg­men­ta­le Inner­va­ti­on – Ihre Bedeu­tung für Kli­nik und Pra­xis. Thie­me Ver­lag Stutt­gart, 1962.

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