erschienen in
DAZ, Deutsche Apotheker Zeitung; ZÄN, Zeitschrift für Naturheilkunde.
Dr. med. Martin Adler, Facharzt für Allgemeinmedizin (Naturheilverfahren, Homöopathie, Umwelt- und Ernährungsmedizin) mit Praxis in Siegen. Ausbildungsleiter Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren und Regulationsmedizin e.V. (ZÄN), Freudenstadt.
Rainer H. Bubenzer, Hamburg. Heilpraktiker-Ausbildung, Studium der Mathematik und Medizin, Fachjournalist für Medizin und Wissenschaft.
Homöopathische Arzneimittel, die auf eine mehr als 150-jährige Tradition zurückblicken können, liegen im Trend der Zeit [1]. Wird auch heute noch immer der überwiegende Teil ärztlich verordnet, so fällt gerade in jüngster Zeit ihre zunehmende Bedeutung im Rahmen der Selbstmedikation auf. Im Fokus stehen hier vor allem die in ihrer Handhabung praktischen homöopathischen Komplexmittel. Für die öffentliche Apotheke bedeutet die zunehmende Beliebtheit der Homöopathie eine gute Möglichkeit, sich durch fundierte Beratung einmal mehr zu profilieren. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen der Homöopathie, insbesondere im Hinblick auf die Selbstmedikation mit Komplexmitteln.
Komplex-Homöopathatika sind Gemische homöopathischer Einzelmittel. Grundlegendes Prinzip ihres krankheitspräventiven oder therapeutischen Einsatzes ist häufig eine organotrope bzw. indikationsbezogene Auswahl; dabei muss es sich nicht unbedingt um schulmedizinische “Organe oder “Indikationen handeln, es gibt z. B. humoralpathologisch gedeutete Organsysteme oder anthroposophisch begründete Indikationen. Die organotrope Auswahl der Arzneimittel widerspricht allerdings fast allen Grundprinzipien der “klassischen Auslegung der von Samuel Hahnemann begründeten Homöopathie (1755–1843) [2, 3].
Die vier Grundprinzipien der Hahnemannschen Homöopathie 4
Arzneimittelprüfung am Gesunden
Die Basis der Homöopathie ist die homöopathische Materia medica – ein gigantisches, nunmehr 200 Jahre empirischer Forschungen umfassendes Werk, das die zusammengefassten toxikologisch-pharmakologischen Untersuchungen von Tausenden mineralischer, pflanzlicher und tierischer Substanzen natürlichen Ursprungs sowie zahllosen anthropogenen Verbindungen oder humanen Stoffwechselprodukten enthält.
Diese Stoffe wurden an gesunden Probanden in unterschiedlichen Dosierungen und über unterschiedliche Zeiträume getestet. Die sich dabei ergebenden geistig-seelisch-körperlichen Veränderungen der Prüfpersonen wurden im Einzelnen aufgelistet, mit toxikologischen Erkenntnissen verknüpft, schließlich gruppiert und als sog. Arzneimittelbilder abstrahiert [z. B. 5, 6]. Für die heute erhältlichen homöopathischen Komplexmittel liegen Prüfungen am Gesunden zumeist nicht vor, sondern nur für die enthaltenen Einzelmittel [7].
Ähnlichkeits- oder Simileprinzip
Die Verordnung homöopathischer Mittel erfolgt nach dem Ähnlichkeitsprinzip (similia similibus curentur), das eines der beiden großen Paradigmen klassischer Medizinkonzepte darstellt. Nach dieser Theorie kann ein therapeutischer Reiz mit ähnlicher oder gleicher Qualität wie die Krankheitssymptomatik heilungsfördernd wirken (Simileprinzip) [8].
Eine Mastitis (Brustdrüsenentzündung) geht mit Entzündungszeichen wie Rötung, Schwellung oder Erwärmung des Gewebes einher. Wärmende Umschläge würden somit dem Simileprinzip entsprechen, da sie auch bei der Gesunden z. B. zu einer Rötung oder Erwärmung führen. Kühlende Umschläge hingegen entsprechen – nach homöopathischer Auffassung – dem Prinzip contraria contrariis der “Allopathie (wie Hahnemann die Schulmedizin seiner Zeit auch bezeichnete).
Auf dem Königsweg der Homöopathie werden jedoch nicht die Beschwerden der typischen Krankheitssyndrome analysiert, sondern “die auffallendern, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigenheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome des Krankheitsfalles (§ 153 Organon 4). Im Sinne einer ganzheitlichen Medizin erscheint dies nicht ungerechtfertigt, denn die von Homöopathen erfasste Symptomatologie umfasst Zehntausende, wenn nicht gar Hunderttausende von “Zeichen und Symptomen [z. B. 9, 10], wohingegen der Reduktionismus klinischer Nosologie höchstens 1500 klassifizierte Krankheitssyndrome zulässt (wobei in der Alltagspraxis jedoch nur wenige eine Rolle spielen und individualisierte Symptomkombinationen – außer in der Psychiatrie – irrelevant sind).
Entscheidend bei der homöopathischen Anamnese ist also, das Beschwerdebild des Patienten jenseits der schulmedizinischen Symptomatologie so typisch und eigenheitlich wie möglich zu erkennen. Dann wird der Versuch gemacht, eine Übereinstimmung solcher individuellen Beschwerdebilder mit den erwähnten Arzneimittelbildern herzustellen. Bei möglichst hoher Übereinstimmung (die z. B. bei der sog. Repertorisation mithilfe von umfänglichen Symptomenverzeichnissen festgestellt werden kann) ist das sog. Simile gefunden, das nun einen Heilungsprozess einleiten kann [11].
(Chamomilla recutita)
Bei der Komplex-Homöopathie werden die Arzneien jedoch nicht nach derartig hochindividuellen Determinanten eingesetzt, sondern nur nach typischen, zumeist somatischen Beschwerden, wie z. B. migräneartigen Kopfschmerzen oder einem wässrigen Fließschnupfen. Die homöopathische Kunst der Similesuche unterbleibt somit zugunsten einer eher indikationsbezogenen, “rationalen Arzneimittelfindung (die in Deutschland ab den 1920er-Jahren auch bei Ärzten weite Verbreitung fand [z. B. 12]).
Potenzierung
Hahnemann etablierte die vormals alchemistische Arzneistoffaufbereitung der rhythmischen Verdünnung als wesentliches Element der Homöopathie (auch Dynamisierung oder Potenzierung genannt; § 269 ff. Organon 4). Welcher Art die, wie Hahnemann sagte, “geistartigen Arzneikräfte denn nun eigentlich sind, ist bis heute ungeklärt. Besonders natürlich nicht bei solchen Verdünnungen, die keinerlei Wirkstoffmoleküle mehr enthalten (oberhalb der D23). Doch der Anwendung der nach HAB dynamisch aufgeschlossenen Arzneistoffe tut dies keinen Abbruch: Potenzierte Homöopathika sind und bleiben Basis von Homöopathie und Komplex-Homöopathie. Einziger gradueller Unterschied zwischen beiden ist die Neigung der Komplex-Homöopathie, eher unpotenzierte Urtinkturen und Niedrigpotenzen einzusetzen, während in der klassischen Homöopathie vor allem mittlere und hohe Potenzen verwendet werden.
Die Verwendung von Urtinkturen und Niedrigpotenzen macht Komplexmittel natürlich auch für solche Schulmediziner goutierbar, die mit gängigen pharmakologischen Rezeptormodellen den gering verdünnten Arzneistoffen noch eine arzneiliche Wirkung zubilligen können [13].
Verordnung von Einzelmitteln
Eine weitere Grundregel der klassischen Homöopathie ist die bereits von Hahnemann geforderte (§ 273 ff. Organon 4) ausschließliche Verwendung von Einzelmitteln, also von Mitteln, für die im o. g. Sinne eine Arzneimittelprüfung vorliegt und die durch Potenzierung einzeln aufbereitet sind. Belege für die Richtigkeit dieser Einzelmittelforderung wurden jedoch nie vorgelegt, obwohl der Nachweis problemlos zu erbringen wäre (Vergleich eines Komplexmittelgemisches mit seinem als Gesamtheit geprüften, dynamisierten Pendant). Auch für die angeblichen Störwirkungen oder Wirkungsverluste, die sich durch unerwünschte Interaktionen mehrerer gleichzeitig eingenommener Homöopathika ergeben sollen, liegen allenfalls subjektive Erfahrungswerte vor.
Die Hahnemannsche Forderung nach Pharmako-Monotherapie muss im historischen Kontext beurteilt und relativiert werden, denn vor 200 Jahren war sie angesichts der damals üblichen Polypragmasie sehr sinnvoll [14].
Autor
• Rainer H. Bubenzer, für DAZ/2003 und ZAEN/2004.
Quelle
• Adler M, Bubenzer RH: Homöopathie und Selbstmedikation – Heilen mit Komplex-Homöopathie. DAZ – Deutsche Apotheker Zeitung. 143 (25), 19.6.2003: 47–58 (Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages).
Bildnachweis
• Klosterfrau Gesundheitsservice