Wie bringe ich es meinen Lesern bei? Als journalistischer Rezensent von Büchern sollte ich immer vornehme Zurückhaltung, angemessene Objektivität oder klare Informationen vermitteln. Ich versuche dies zumeist auch – lasse diese Prinzipien bei dem hier kurz vorzustellenden Werk ausnahmsweise aber fallen. Also los: Selten habe ich ein Sachbuch gelesen, das sein Thema so wohlverpackt, so inhaltsschwer und gleichzeitig so informativ präsentiert wie Prof. Dr. Björn Lemmers “Chronopharmakologie – Tagesrhythmen und Arzneimittelwirkung”!
Sicher: Auf einer komplementärmedizinischen Website wie Heilpflanzen-Welt.de sollte eher ein Bericht über den Biorhythmus eines Wilhelm Fliesss, die etwas jüngere Lebensrhythmologie der Steiner-Adepten oder andere wissenschaftlich nicht zu untermauernden Ansätze publiziert werden. Doch dieses gerade neu aufgelegte Büchlein von knapp 180 Seiten stellt viele grundlegende und geschichtliche Hintergründe der bislang bekannten biologischen Lebensrhythmen so hinreißend dar, dass ich mich an Zeiten erinnert fühle, wo Neugier, Wissensdurst oder Engagement vielleicht noch die Hauptmotivationen in der – damals noch jungen – Naturwissenschaft waren.
Vor diesem Hintergrund stellt Lemmer – übrigens ein ausgewiesener Experte der Chronopharmakologie – moderne Forschungszweige der Chronopharmkologie mit praxisnahen Beispielen vor, die einige wichtige Krankheitsbereiche abdecken (u. a. Asthma bronchiale, allergische Antihistaminika-Reaktionen, Schmerzperzeption und ‑verarbeitung oder kardiovaskuläre und gastrointestinale Biorhythmen und ihre Konsequenzen für die Pharmakotherapie). Eine kurze Zusammenfassung zur Chronopharmakologie wichtiger “Magenmittel” finden Sie in einem anderen Beitrag von mir. Neben vielen anderen Schnittstellen zu komplementärmedizinischen Ideen sind besonders die Kapitel über das Licht (“Winterdepression und Licht”) oder den “Jetlag” geeignet, die vielen Gemeinsamkeiten mit der “Schul-Wissenschaft” zu verdeutlichen. Nicht zuletzt, da zumindest die Homöopathie seit rund 200 Jahren intensiv und reproduzierbar auch rhythmische Lebens- und Krankheitsphänomene von Gesunden und Kranken protokolliert und therapeutisch berücksichtigt. Abschließend noch zwei Anmerkungen: Lemmer führt aus, dass das Weißkittelphänomen schon vor Jahrhunderten bekannt war (“Praxis- oder Weißkittelhypertonie”) und belegt dies mit einigen amüsanten Literaturzitaten. Und: Ich fühlte mich beim Lesen dieses Werkes stark an ein, nun schon über 25 Jahre altes Buch erinnert, das durch seine – später oft nachgeahmte Aufmachung – viele, bei Vorlesungen oder in langweiligen Lehrbüchern unklar gebliebene Sachverhalte auf ebenso einmalige Weise wie das Werk von Lemmer darstellte: Nämlich der “Taschenatlas der Physiologie” von Silbernagl und Despopoulos. Was bleibt zu sagen? Viel Spaß beim Lesen! Und viel Spaß an der Thematik, die nicht nur homöopathisch arbeitende, sondern jeden naturheilkundlich praktizierenden Health Professional etwas angeht. Hufeland schreibt z. B.: “Die 24stündige Periode, welche durch die regelmäßige Umdrehung unseres Erdkörpers auch allen seinen Bewohnern mitgetheilt wird, zeichnet sich besonders in der physischen Oeconomie des Menschen aus. In allen Krankheiten äussert sich diese regelmäßige Periode und alle anderen so wunderbar pünctlichen Termine in unserer physischen Geschichte werden im Grunde durch diese einzelne 24stündige Periode bestimmt. Sie ist gleichsam die Einheit der Natur-Chronologie” [1].
Lemmer, Björn: Chronopharmakologie – Tagesrhythmen und Arzneimittelwirkung
Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 2004
3., völlig neu bearbeitet Auflage, gebunden, 180 S., 187 farb. Abb., 22 s/w Tab.
€ 29,00. ISBN 3–8047–1304–1. Buch bei Amazon bestellen
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Heilpflanzen-Welt (September 2004).
Quellen
1. Hufeland CW: Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern, Erstausgabe, Jena 1797.