Die drei Schlangenblätter, Jakob und Wilhelm Grimm (aus Jakob und Wilhelm Grimm: “Kinder- und Hausmärchen”, 1857)

Es war ein­mal ein armer Mann, der konn­te sei­nen ein­zi­gen Sohn nicht mehr ernäh­ren. Da sprach der Sohn »lieber Vater, es geht Euch so küm­mer­lich, ich fal­le Euch zur Last, lie­ber will ich selbst fort­ge­hen und sehen, wie ich mein Brot verdiene.« Da gab ihm der Vater sei­nen Segen und nahm mit gro­ßer Trau­er von ihm Abschied. Zu die­ser Zeit führ­te der König eines mäch­ti­gen Reichs Krieg, der Jüng­ling nahm Diens­te bei ihm und zog mit ins Feld. Und als er vor den Feind kam, so ward eine Schlacht gelie­fert, und es war gro­ße Gefahr und reg­ne­te blaue Boh­nen, daß sei­ne Kame­ra­den von allen Sei­ten nie­der­fie­len. Und als auch der Anfüh­rer blieb, so woll­ten die übri­gen die Flucht ergrei­fen, aber der Jüng­ling trat her­aus, sprach ihnen Mut zu und rief »wir wol­len unser Vater­land nicht zugrun­de gehen lassen.« Da folg­ten ihm die andern, und er drang ein und schlug den Feind. Der König, als er hör­te, daß er ihm allein den Sieg zu dan­ken habe, erhob ihn über alle andern, gab ihm gro­ße Schät­ze und mach­te ihn zum Ers­ten in sei­nem Reich.

Der König hat­te eine Toch­ter, die war sehr schön, aber sie war auch sehr wun­der­lich. Sie hat­te das Gelüb­de getan, kei­nen zum Herrn und Gemahl zu neh­men, der nicht ver­sprä­che, wenn sie zuerst stür­be, sich leben­dig mit ihr begra­ben zu las­sen. »Hat er mich von Her­zen lieb,« sag­te sie, »wozu dient ihm dann noch das Leben?« Dage­gen woll­te sie ein Glei­ches tun, und wenn er zuerst stür­be, mit ihm in das Grab stei­gen. Die­ses selt­sa­me Gelüb­de hat­te bis jetzt alle Frei­er abge­schreckt, aber der Jüng­ling wur­de von ihrer Schön­heit so ein­ge­nom­men, daß er auf nichts ach­te­te, son­dern bei ihrem Vater um sie anhielt. »Weißt du auch,« sprach der König, »was du ver­spre­chen mußt?« »Ich muß mit ihr in das Grab gehen,« ant­wor­te­te er, »wenn ich sie über­le­be, aber mei­ne Lie­be ist so groß, daß ich der Gefahr nicht achte.« Da wil­lig­te der König ein, und die Hoch­zeit ward mit gro­ßer Pracht gefeiert.

Nun leb­ten sie eine Zeit­lang glück­lich und ver­gnügt mit­ein­an­der, da geschah es, daß die jun­ge Köni­gin in eine schwe­re Krank­heit fiel, und kein Arzt konn­te ihr hel­fen. Und als sie tot dalag, da erin­ner­te sich der jun­ge König, was er hat­te ver­spre­chen müs­sen, und es graus­te ihm davor, sich leben­dig in das Grab zu legen, aber es war kein Aus­weg: der König hat­te alle Tore mit Wachen beset­zen las­sen, und es war nicht mög­lich, dem Schick­sal zu ent­ge­hen. Als der Tag kam, wo die Lei­che in das könig­li­che Gewöl­be bei­gesetzt wur­de, da ward er mit hin­ab­ge­führt, und dann das Tor ver­rie­gelt und verschlossen.

Neben dem Sarg stand ein Tisch, dar­auf vier Lich­ter, vier Lai­be Brot und vier Fla­schen Wein. Sobald die­ser Vor­rat zu Ende ging, muß­te er ver­schmach­ten. Nun saß er da voll Schmerz und Trau­er, aß jeden Tag nur ein Biß­lein Brot, trank nur einen Schluck Wein, und sah doch, wie der Tod immer näher rück­te. Indem er so vor sich hin­starr­te, sah er aus der Ecke des Gewöl­bes eine Schlan­ge her­vor­krie­chen, die sich der Lei­che näher­te. Und weil er dach­te, sie käme, um dar­an zu nagen, zog er sein Schwert und sprach »solange ich lebe, sollst du sie nicht anrühren,« und hieb sie in drei Stü­cke. Über ein Weil­chen kroch eine zwei­te Schlan­ge aus der Ecke her­vor, als sie aber die ande­re tot und zer­stückt lie­gen sah, ging sie zurück, kam bald wie­der und hat­te drei grü­ne Blät­ter im Mun­de. Dann nahm sie die drei Stü­cke von der Schlan­ge, leg­te sie, wie sie zusam­men­ge­hör­ten, und tat auf jede Wun­de eins von den Blät­tern. Als­bald füg­te sich das Getrenn­te anein­an­der, die Schlan­ge reg­te sich und ward wie­der leben­dig, und bei­de eil­ten mit­ein­an­der fort. Die Blät­ter blie­ben auf der Erde lie­gen, und dem Unglück­li­chen, der alles mit ange­se­hen hat­te, kam es in die Gedan­ken, ob nicht die wun­der­ba­re Kraft der Blät­ter, wel­che die Schlan­ge wie­der leben­dig gemacht hat­te, auch einem Men­schen hel­fen könn­te. Er hob also die Blät­ter auf und leg­te eins davon auf den Mund der Toten, die bei­den andern auf ihre Augen. Und kaum war es gesche­hen, so beweg­te sich das Blut in den Adern, stieg in das blei­che Ange­sicht und röte­te es wie­der. Da zog sie Atem, schlug die Augen auf und sprach »ach, Gott, wo bin ich?« »Du bist bei mir, lie­be Frau,« ant­wor­te­te er, und erzähl­te ihr, wie alles gekom­men war und er sie wie­der ins Leben erweckt hat­te. Dann reich­te er ihr etwas Wein und Brot, und als sie wie­der zu Kräf­ten gekom­men war, erhob sie sich, und sie gin­gen zu der Türe, und klopf­ten und rie­fen so laut, daß es die Wachen hör­ten und dem König mel­de­ten. Der König kam selbst her­ab und öff­ne­te die Türe, da fand er bei­de frisch und gesund und freu­te sich mit ihnen, daß nun alle Not über­stan­den war. Die drei Schlan­gen­blät­ter aber nahm der jun­ge König mit, gab sie einem Die­ner und sprach »verwahr sie mir sorg­fäl­tig, und trag sie zu jeder Zeit bei dir, wer weiß, in wel­cher Not sie uns noch hel­fen können.«

Es war aber in der Frau, nach­dem sie wie­der ins Leben war erweckt wor­den, eine Ver­än­de­rung vor­ge­gan­gen: es war, als ob alle Lie­be zu ihrem Man­ne aus ihrem Her­zen gewi­chen wäre. Als er nach eini­ger Zeit eine Fahrt zu sei­nem alten Vater über das Meer machen woll­te, und sie auf ein Schiff gestie­gen waren, so ver­gaß sie die gro­ße Lie­be und Treue, die er ihr bewie­sen, und womit er sie vom Tode geret­tet hat­te, und faß­te eine böse Nei­gung zu dem Schif­fer. Und als der jun­ge König ein­mal dalag und schlief, rief sie den Schif­fer her­bei, und faß­te den Schla­fen­den am Kop­fe, und der Schif­fer muß­te ihn an den Füßen fas­sen, und so war­fen sie ihn hin­ab ins Meer. Als die Schand­tat voll­bracht war, sprach sie zu ihm »nun laß uns heim­keh­ren und sagen, er sei unter­wegs gestor­ben. Ich will dich schon bei mei­nem Vater so her­aus­strei­chen und rüh­men, daß er mich mit dir ver­mählt und dich zum Erben sei­ner Kro­ne einsetzt.« Aber der treue Die­ner, der alles mit ange­se­hen hat­te, mach­te unbe­merkt ein klei­nes Schiff­lein von dem gro­ßen los, setz­te sich hin­ein, schiff­te sei­nem Herrn nach, und ließ die Ver­rä­ter fort­fah­ren. Er fisch­te den Toten wie­der auf, und mit Hil­fe der drei Schlan­gen­blät­ter, die er bei sich trug und auf die Augen und den Mund leg­te, brach­te er ihn glück­lich wie­der ins Leben.

Sie ruder­ten bei­de aus allen Kräf­ten Tag und Nacht, und ihr klei­nes Schiff flog so schnell dahin, daß sie frü­her als das ande­re bei dem alten König anlang­ten. Er ver­wun­der­te sich, als er sie allein kom­men sah, und frag­te, was ihnen begeg­net wäre. Als er die Bos­heit sei­ner Toch­ter ver­nahm, sprach er »ich kanns nicht glau­ben, daß sie so schlecht gehan­delt hat, aber die Wahr­heit wird bald an den Tag kommen,« und hieß bei­de in eine ver­bor­ge­ne Kam­mer gehen und sich vor jeder­mann heim­lich hal­ten. Bald her­nach kam das gro­ße Schiff her­an­ge­fah­ren, und die gott­lo­se Frau erschien vor ihrem Vater mit einer betrüb­ten Mie­ne. Er sprach »warum kehrst du allein zurück? wo ist dein Mann?« »Ach, lie­ber Vater,« ant­wor­te­te sie, »ich kom­me in gro­ßer Trau­er wie­der heim, mein Mann ist wäh­rend der Fahrt plötz­lich erkrankt und gestor­ben, und wenn der gute Schif­fer mir nicht Bei­stand geleis­tet hät­te, so wäre es mir schlimm ergan­gen; er ist bei sei­nem Tode zuge­gen gewe­sen und kann Euch alles erzählen.« Der König sprach »ich will den Toten wie­der leben­dig machen,« und öff­ne­te die Kam­mer, und hieß die bei­den her­aus­ge­hen. Die Frau, als sie ihren Mann erblick­te, war wie vom Don­ner gerührt, sank auf die Knie und bat um Gna­de. Der König sprach »da ist kei­ne Gna­de, er war bereit, mit dir zu ster­ben, und hat dir dein Leben wie­der­ge­ge­ben, du aber hast ihn im Schlaf umge­bracht, und sollst dei­nen ver­dien­ten Lohn empfangen.« Da ward sie mit ihrem Hel­fers­hel­fer in ein durch­lö­cher­tes Schiff gesetzt und hin­aus ins Meer getrie­ben, wo sie bald in den Wel­len versanken.

Autor
• Gebrü­der Grimm (1857)

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