Textbesprechung: Mährchen, zur Fortsetzung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (Johann Wolfgang von Goethe) zitiert aus “Kindlers neues Literaturlexikon” – Kindler Verlag GmbH

Erzäh­lung von Johann Wolf­gang von Goe­the, erschie­nen 1795 in F. Schil­lers Zeit­schrift ›Die Horen‹. – Von allen in die Rah­men­hand­lung der Unter­hal­tun­gen ein­ge­streu­ten Erzäh­lun­gen trägt nur die­se letz­te einen eige­nen Titel. Die rei­ne Gat­tungs­be­zeich­nung weist – dar­in Goe­thes Novel­le ver­gleich­bar – dar­auf hin, daß hier der Gat­tungs­ty­pus “Mär­chen” exem­pla­risch gestal­tet wer­den soll­te, und läßt somit schon etwas von der poe­to­lo­gi­schen Bedeu­tung ahnen, die dem Mär­chen im Zusam­men­hang der Unter­hal­tun­gen zukommt. Die vor­aus­ge­hen­den Erzähl­tei­le stei­gern sich von anek­do­ten­haf­ten Gespens­ter­ge­schich­ten und Lie­bes­aben­teu­ern über mora­li­sche Erzäh­lun­gen, deren sitt­li­cher Gehalt auf das Publi­kum bil­dend wir­ken soll, bis hin zum Mär­chen, dem “Pro­dukt der Ein­bil­dungs­kraft”, mit dem die Unter­hal­tun­gengleich­sam ins Unend­li­che aus­lau­fen” (Goe­the an Schil­ler am 17.8.1795). Das Gesche­hen in der nai­ven und zugleich höchst bedeut­sa­men Welt des Mär­chens ist der Kul­mi­na­ti­ons­punkt die­ser Ent­wick­lung, und nur in die­sem Bil­dungs­pro­zeß offen­bart sich das Geheim­nis des Mär­chens.

Bil­der und Sze­nen ver­bin­den sich zu einem Gesche­hen, des­sen Rea­li­tät die des Trau­mes ist: Land­schaft und Per­so­nen erschei­nen mit der Selbst­ver­ständ­lich­keit von Alt­be­kann­tem (“der gro­ße Fluß”, “der alte Fähr­mann”, “zwei gro­ße Irr­lich­ter”). Die Geset­ze der Natur haben kei­ne Gül­tig­keit, aber es herrscht eine für alle glei­cher­ma­ßen ver­bind­li­che Gesetz­mä­ßig­keit, es gel­ten bestimm­te Regeln und die Bedingt­heit eines irrever­si­blen Ablaufs der Zeit. Die­se Gesetz­mä­ßig­keit, die nicht der Natur folgt, rührt von einer bösen Ver­zau­be­rung, die auf allen las­tet: Die schö­ne Lilie ist unglück­lich, durch ihre Berüh­rung wird alles Leben­di­ge getö­tet; der jun­ge Königs­sohn ist durch ihren Blick aller Kraft und Herr­schaft beraubt und irrt ziel­los umher. Lilies Reich dies­seits des Flus­ses ist in rei­ner Schön­heit erblüht, aber ihm fehlt das Leben; sei­ne Pflan­zen kön­nen kei­ne Früch­te tra­gen. Die Ver­bin­dung zum jen­sei­ti­gen Ufer ist nur unter gewis­sen Vor­au­set­zun­gen gewähr­leis­tet: allein in der Mit­tags­zeit auf dem Rücken der Schlan­ge oder nur am Abend auf dem Schat­ten des Rie­sen oder im Kahn des Fähr­manns, der nur in einer Rich­tung – näm­lich fort von Lilies Reich – über­set­zen darf.

Ein Tem­pel auf der ande­ren Sei­te des Flus­ses ist unter der Erde mit­ten in natür­li­chen Fel­sen erbaut und somit dem Zugang der Welt ent­zo­gen. Sei­ne Mau­ern beher­ber­gen die Sta­tu­en von vier Köni­gen: der ers­te aus rei­nem Gold, der zwei­te aus Sil­ber, der drit­te aus Erz und ein vier­ter aus die­sen drei Mate­ria­li­en kunst­los zusam­men­ge­setzt. In die­sem Tem­pel fällt die ers­te Andeu­tung über das nahe Ende des Ban­nes; aus dem Mund des Alten mit der Lam­pe, dem die leuch­ten­de Schlan­ge das “offen­ba­re Geheim­nis” mit­ge­teilt hat, kommt zum ersten­mal das ver­hei­ßungs­vol­le “Es ist an der Zeit”. Die Zeit der Erlö­sung naht, doch die­se Erlö­sung, auf die alle Hoff­nun­gen gerich­tet sind, weil sie das neue Leben und die Auf­lö­sung aller Para­do­xa bewir­ken wird, kann nicht das Werk eines ein­zel­nen und nicht das Ergeb­nis eines Augen­blicks sein, son­dern erst das Zusam­men­wir­ken aller Kräf­te, die sinn­vol­le Orga­ni­sa­ti­on jedes ein­zel­nen im Gan­zen, begüns­tigt von der “rech­ten Stun­de”, schaf­fen die Vor­aus­set­zung für die Opfer­tat der Schlan­ge, die dann end­lich die ersehn­te Erlö­sung brin­gen wird.

Doch noch ist nicht alles Unglück aus­ge­stan­den. Die Frau des Alten mit der Lam­pe muß immer mehr um ihre rech­te Hand fürch­ten, denn seit sie sich mit die­ser Hand dem Fluß gegen­über ver­bürgt hat, eine alte Fähr­schuld der Irr­lich­ter in Form von Früch­ten der Erde abzu­tra­gen, ist sie durch die Berüh­rung mit dem Was­ser schwarz gewor­den und schwin­det nun mehr und mehr. Auf dem Weg zu Lilie trifft die Frau den unglück­li­chen Königs­sohn, die grü­ne Schlan­ge und die Irr­lich­ter haben sich eben­falls bei der schö­nen Lilie ver­ab­re­det: Alles kon­zen­triert sich auf Lilies Reich, wo sich zunächst das Unglück zu sei­nem Höhe­punkt stei­gert. Die Frau trifft Lilie in gro­ßer Trau­er um ihren Kana­ri­en­vo­gel an; eine Berüh­rung mit ihr hat­te ihm das Leben geraubt. Die ver­hei­ßungs­vol­len Zei­chen meh­ren sich, und Lilie über­hört nicht die Andeu­tun­gen der Frau und der Schlan­ge, aber noch sind nicht alle Weis­sa­gun­gen erfüllt.

Erst die Ver­zweif­lungs­tat des trau­ri­gen Jüng­lings, der sich an Lilies Brust stürzt und ent­seelt zu Boden fällt, ruft den Alten mit der Lam­pe her­bei. Alle sind nun “zur rech­ten Stun­de ver­eint”, und in fei­er­li­chem Zug bege­ben sie sich auf dem Rücken der Schlan­ge auf die ande­re Sei­te des Flus­ses. Dort opfert die Schlan­ge sich selbst auf und schenkt damit dem Jüng­ling wie­der krea­tür­li­ches Leben; ihre Über­res­te aus schöns­tem Edel­stein wer­den in den Fluß gewor­fen, und aus ihnen wird sich eine der Weis­sa­gun­gen erfül­len: Eine Brü­cke wird ent­ste­hen, auf der “Pfer­de und Wagen und Rei­sen­de aller Art zu glei­cher Zeit … her­über- und hin­über­wan­dern sol­len”. Nach­dem im Tem­pel aus dem Mun­de des Alten zum drit­ten­mal das bedeu­tungs­vol­le “Es ist an der Zeit” gefal­len ist, bewegt sich der Tem­pel unter dem Fluß hin­durch ans ande­re Ufer und tritt – an der Stel­le der Fähr­manns­hüt­te, die nach kunst­vol­ler Ver­wand­lung als Altar erscheint – ans Tages­licht; die drei Königs­sta­tu­en erhe­ben sich, und damit tre­ten “die Weis­heit, der Schein und die Gewalt” ihre Herr­schaft an; wäh­rend der vier­te König zu einem unför­mi­gen Koloß in sich zusam­men­sinkt, über­rei­chen die drei ande­ren dem Jüng­ling die Herr­schafts­in­si­gni­en; doch erst in der Umar­mung mit Lilie, in der Begeg­nung mit der vier­ten Macht, mit der “Kraft der Lie­be”, erwacht er ganz zum neu­en Leben. Der Bann ist gebro­chen, die Weis­sa­gun­gen sind erfüllt: Der Tem­pel steht am Ufer des Flus­ses, über den vor aller Augen sich eine präch­ti­ge Brü­cke spannt.

Um das Mär­chen und sei­nen Reich­tum an Sym­bo­len und Bezie­hun­gen ist seit sei­nem Erschei­nen viel gerät­selt wor­den. Schon Goe­thes Freun­de und Zeit­ge­nos­sen ver­such­ten sich in Deu­tun­gen und baten den Dich­ter um sei­ne eige­ne Inter­pre­ta­ti­on, wel­che die­ser jedoch schalk­haft ver­wei­ger­te: “Es fühlt ein jeder, daß noch etwas drin steckt, er weiß nur nicht was” (Gespräch mit Rie­mer). Vom huma­ni­tä­ren Bil­dungs­pro­zeß bis zum poli­ti­schen Bekennt­nis reicht die Ska­la der Aspek­te, unter denen das Mär­chen in der Art eines alle­go­ri­schen Schlüs­sel­werks aus­zu­deu­ten ver­sucht wur­de. Dabei geht jedoch eine Fest­le­gung auf einen bestimm­ten Sach­ver­halt oder gar auf eine dezi­dier­te “Aus­sa­ge” an dem Kunst­werk vor­bei. Es soll “an nichts und an alles” erin­nern, sagt der Alte in sei­nen ein­lei­ten­den Wor­ten sei­nen Zuhö­rern; “an nichts” in dem Sin­ne, daß es sich jeder spe­ku­la­ti­ven Aus­deu­tung wider­setzt; “an alles”, inso­fern in sei­nen Bil­dern und Sym­bo­len die Gesamt­heit alles Lebens sinn­lich wahr­nehm­bar wird. Goe­thes Mär­chen stellt den Pro­zeß orga­ni­schen Wer­dens dar, und die “mehr als zwan­zig Per­so­nen”, die “in dem Mär­chen geschäf­tig” sind (Xeni­en, 1796), sym­bo­li­sie­ren das Wer­den der poe­ti­schen Form selbst.

Autor
• Goe­the, Weimar.
Quel­len
Ausgaben
Tübin­gen 1795 (in Die Horen, 10, S. 108–152).
Tübin­gen 1808 (in Wer­ke, 13 Bde., 1806–1810, 12).
WA, I, 18.
A, 9 [Einf. P. Stöcklein].
HA, 6 [Anm. B. v. Wiese].*Stg. 1962 (in Novelle/​​Das Mär­chen [Komm. E. Reus­ner; RUB]).
AkA.
MA, 4,1 [Komm. R. Wild].
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