Krankenhausflure
In der nüchternen Sprache der Medizin erleiden 10–15% aller Patienten “unerwünschte medizinische Ereignisse”, die die medizinische Behandlung negativ beeinflussen oder sogar zum Tod führen können. Zwischen 50–75% dieser Ereignisse sind vermeidbar [1]. Lebenspraktisch bedeutet dies: Allein in US-Krankenhäusern sterben jährlich bis zu 100.000 Menschen an überwiegend vermeidbaren Medikamentenfehlern [2]. Für junge Männer ist ein Krankenhausbesuch dort – nach den Gefahren durch Schusswaffen – die häufigste vermeidbare Todesursache.
Das Signal des oben zitierten Reportes “Irren ist menschlich”, den die Clinton-Regierung 1999 veröffentlichte, ist in Deutschland bislang weitgehend ungehört verhallt. Außer Chirurgen-Berufsverbänden, einigen besorgten Ärztegruppen und einer Handvoll Kritikern an deutschen Universitäten ist die Bedeutung des US-Reportes in Deutschland nicht angekommen. Entsprechend dieses Berichtes kommt es in bundesdeutschen Krankenhäusern hochgerechnet zu mehr als 30.000 vermeidbaren Todesfällen pro Jahr. Dass diese Zahlen mehr als realistisch sind, zeigen auch Untersuchungen von Prof. Dr. Jürgen C. Frölich vom Institut für Klinische Pharmakologie an der Medizinischen Universität Hannover [3]. Seine Forschergruppe hat berechnet, dass alleine in internistischen Krankenhaus-Abteilungen – in Deutschland – bis zu 58.000 Todesfälle durch unerwünschte Arzneimittel-Zwischenfälle eintreten, von denen jeder zweite ein vermeidbarer Medikationsfehler ist. Vermeidbare Medikamentenfehler töten also weitaus mehr Menschen als die typischen gefürchteten Bedrohungen wie Verkehrsunfälle, Brustkrebs oder AIDS.
Fehler-Kultur? Angesiedelt am Institut für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität findet sich seit September 2004 das staatlich geförderte Projekt “Jeder Fehler zählt”, ein Fehlerberichts- und Lernsystem für Hausarztpraxen. So gut die Idee erscheint: Von 59.000 deutschen Hausärzten haben in dreieinhalb Jahren gerade mal 300 Ärzte einen anonymen Fehlerbericht erstellt, also über vermeidbare Zwischenfälle bei der Patientenbetreuung berichtet (https://www.jeder-fehler-zaehlt.de).
Warum Medien und Öffentlichkeit seit Jahren nicht auf diese katastrophalen Zahlen reagieren, hat einen einzigen Grund: Während die “nur” 5.000 Verkehrstote 2006 ein Grund zum Feiern für Verkehrspolitiker oder Autohersteller war, ist die Rate vermeidbarer Todesfälle in unserem Gesundheitssystem derartig hoch, dass selbst die hier genannten, eher zu niedrig angesetzten Zahlen unvorstellbar hoch erscheinen. Beispiel: Statistisch gesehen stirbt die gesamte Bevölkerung von Passau (2005: 50.651 Einwohner) innerhalb eines Jahres durch überwiegend vermeidbare Arzneimittel-Zwischenfälle. Und: Überhaupt noch nicht erfasst ist die Gesamtzahl aller vermeidbaren, behandlungsbedingten Todesfälle – zum Beispiel während oder nach Operationen – sowie in bundesdeutschen Arztpraxen.
[div-gruen]
Händewaschen vergessen Als “Heimsuchung” bezeichnete der Fuldaer Oberbürgermeister Gerhard Möller kürzlich die für mehrere Patienten tödliche Salmonellen-Epidemie in einer Fuldaer Großklinik. Doch Heimsuchung klingt nach einer unvermeidlichen biblischen Strafe, die einen unvorhersehbar überkommt. Weit gefehlt: “Händewaschen ist die bedeutendste Einzelmaßnahme, um der Ausbreitung von Infektionen in Krankenhäusern entgegenzuwirken”, betonen Experten schon seit Zeiten des Frauenarztes Ignaz Philipp Semmelweis (1818–65) ununterbrochen [4]. Doch selbst auf Intensivstationen, so eine aktuelle Analyse deutscher Krankenhaus-Hygieniker, halten sich durchschnittlich nur rund die Hälfte aller Angestellten (Ärzte, Krankenschwester u.a.) an das – für jeden eigentlich verständliche – Einfachst-Gebot des Händewaschens [5].
[/div-gruen]
Für die Naturheilkunde ist die Tödlichkeit des Gesundheitswesens nicht erstaunlich: Aus ihrer Sicht greifen viele diagnostische, therapeutische und sogar vorbeugende Maßnahmen der “Schulmedizin” aggressiv die Lebenskraft oder Selbstheilungsfähigkeit von Patienten an. Die alternativen Naturheilkundler selbst berufen sich hingegen auf hippokratische Traditionen mit dem Grundsatz “Primum nil nocere” (auch “Primum non nocere”, lat.: “zuerst einmal nicht schaden”) als zentrale moralische Forderung an ärztliches Handeln. Vermutlich wurde es schon in der Antike notwendig, von Ärzten zu fordern, den ihnen anvertrauten kranken Menschen zu helfen, und dabei – vor allem – darauf zu achten, ihnen nicht zu schaden und sie nicht zu töten.
Punktgenaue Forderung Paragraph 1 des zentralen Werkes der Homöopathie – “Organon der Heilkunst” – formulierte Samuel Hahnemann (1755–1843), Begründer dieser Medizinschule:
“Des Arztes höchster und einziger Beruf ist,
kranke Menschen gesund zu machen,
was man Heilen nennt” [4].
“Primum nil nocere” als ethischer Grundsatz des Handelns sollte aber nicht nur für Ärzte gelten, sondern auch für Heilpraktiker, Psychologen und alle anderen “Health Professionals”, die im Gesundheitswesen beschäftigt sind. Und es sollte auch eine Aufforderung an alle Unternehmen sein, die mit Medikamenten, medizintechnischen Geräten oder Gesundheitsprodukten das Angebot machen, Krankheiten zu lindern, zu heilen oder der Entstehung von Krankheiten vorzubeugen.
Selbstmedikation Die ehemalige Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation WHO, die frühere norwegische Ministerpräsidentin Dr. Gro Harlem Brundlandt, fasste Ende des letzten Jahrhundert die Grundrichtung zusammen, an der entlang auch deutsche Politiker ihre Position zur eigenverantwortlichen Selbstmedikation bestimmen:
“Selbstmedikation ist ein unerlässliches und vitales Element des Gesundheitssystems. Verantwortungsbewusste Selbstmedikation ist Teil der weltweiten Gesundheitsagenda. … Selbstmedikation ist nicht ein “Abladen” von Verantwortlichkeiten auf den Einzelnen; vielmehr ist ein informierter und interessierter Mensch in der Lage und willens, mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen. … Dies ist einer der Gründe, warum die WHO so intensiv versucht, die traditionelle Medizin evidenzbasiert in das konventionelle Medizinsystem zu integrieren [6].”
Perspektiven
Der Report “Irren ist menschlich” stellt fest, dass die Mehrzahl medizinischer Fehler in fehlerhaften Systemen, Abläufen und Umfeldbedingungen liegen. Persönliches Versagen von “Health Professionals” – zum Beispiel das nicht beachtete Gebot des Händewaschens bei Patientenkontakt – findet meist vor diesem Hintergrund statt. Das Gesundheitswesen ist also selber krank und bedarf einer Reform, damit es in Zukunft weniger tödlicher, weniger krankmachend wirkt. Der informierte, eigenverantwortliche Verbraucher kann und sollte solche Veränderungen einfordern und sich nicht damit zufrieden geben, dass er insgesamt immer mehr für seine Gesundheit ausgeben muss.
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Heilpflanzen-Welt (2006).
Quellen
1. Ernst R, Ulrich M: Fehler erkennen – Fehler vermeiden. Medizinische Fehlererfassungsprogramme im deutschsprachigen Raum. Studie im Auftrag der Ärztekammer Berlin, 2005 (Volltext).
2. Kohn LT, Corrigan JM, Donaldson MS: To err is human – Building a safer health system. National Academy Press, Washington, DC, 1999 (Volltext).
3. Schnurrer JU, Frölich JC: Zur Häufigkeit und Vermeidbarkeit von tödlichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Internist (Berl). 2003 Jul;44(7):889–95 (Medline).
4. Katz JD: Hand washing and hand disinfection: more than your mother taught you. Anesthesiol Clin North America. 2004 Sep;22(3):457–71, vi (Medline).
5. Eckmanns T, Rath A, Bräuer H, Daschner F, Rüden H, Gastmeier P: Compliance der Händedesinfektion auf Intensivstationen. Dtsch Med Wochenschr. 2001 Jun 22;126(25–26):745–9 (Medline).
6. Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst, 6. Auflage, 1842 (nach der Ausgabe von Richard Haehl 1921).
• Brundtland GH: Verantwortliche Selbstmedikation. Gemeinsame Jahresversammlung vom Weltverband der Arzneimittel-Hersteller (World Self-Medication Industry, WSMI) und dem Europäischen Fachverband der Arzneimittel-Hersteller (AESGP), Berlin, 10. Juni 1999 (Volltext).