Um den vor allem naturheilkundlich geprägten Begriff “Umstimmung” erklären zu können, ist ein kurzer Ausflug in die Sprachgeschichte nötig: Der Wortherkunft nach bedeutet der lateinische Begriff humor Feuchtigkeit. Im Mittelalter umfasst er dann auch die “Körpersäfte” und deren Mischung (“Säftelehre” – “Humoralpathologie”). Eine gute Säftemischung der vier Temperamente (im Englischen ursprünglich: good humour) bedeutet bis heute in vielen Sprachen ein Heiterkeit und gute Laune ausstrahlendes Temperament [1]. Im Zusammenleben mit der deutschen Sprache hat der Begriff Humor dann in merkwürdiger Weise Teile seiner ursprünglich breit angelegten Bedeutung auf andere Worte übertragen – vor allem auf das Wort “Stimmung”.
Dies gilt zwar nicht immer – zum Beispiel nicht bei der karnevalistischen “Stimmungs-Kanone”. Sehr wohl aber beispielsweise in der Musik – wo Stimmung ein harmonisches Zusammenschwingen verschiedener Töne bedeutet. In der Medizin hat Humor/Stimmung wiederum als “Umstimmung” oder “Umstimmungs-Therapie” überlebt.
Der Begriff Umstimmung, von den großen Meistern der Naturheilkunde Hufeland [2] oder Hahnemann [3] noch reichlich verwendet, verliert im 20. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Der große Aschner [4] erwähnt den Begriff kaum noch, obwohl er sich einer humoral orientierten Konstitutionstherapie verschrieben hatte. Im modernen “Leitfaden Naturheilkunde” wird der Begriff in früheren Auflagen noch definiert, heute fehlte diese Erklärung völlig [5]. Ähnlich wie in vielen anderen aktuellen Werken zur Naturheilkunde, die zwar noch von dem Wort Gebrauch machen, ohne jedoch den Begriff jemals zu definieren.
Eine aktuelle Definition versucht das Pschyrembel Wörterbuch Naturheilkunde [6]:
“Umstimmung: syn. Alteration; bewußte Auslenkung, z. B. von neuro-vegetativen, psycho-endokrinen oder immunologischen Parametern durch diagnostisch-therapeutische Reizsetzung, wodurch die Reaktionsbereitschaft des Organismus oder eines seiner Teilsysteme verbessert und schließlich in Richtung einer trophotropen Reaktionslage gelenkt werden soll.”
Das klingt gut! Aber letztlich sagt das geistlose Wortgeklingel über den zu definierenden Begriff nichts – außer: “Wir machen was!”. Allerdings gibt die Definition noch eine ganz entscheidende Zusatzinformation – und zwar über die moderne Naturheilkunde: Diese scheint heute von einer Theorie des Menschen und von belastbaren Konzepten zu Gesundheit und Krankheit des Menschen genauso soweit entfernt zu sein, wie es die Schulmedizin immer schon gewesen ist.
Umstimmung – eine idealistische Definition
Der folgende idealistische Definitionsversuch des Begriffes “Umstimmung” versucht solche Schwächen zu vermeiden:
“Ausgehend von den vier Elementen der alten Griechen – Erde, Feuer, Luft und Wasser – findet menschliches Leben im Wechselspiel mit diesen Grundbestandteilen der Schöpfung statt. Wobei die vier ” Elemente” keinerlei materielle und/oder statische, sondern energetische und/oder dynamische Qualitäten haben. Nach den Ideen der Säftelehre bedeutet Krankheit die ” Entmischung der Säfte” (“Dyskrasie”). Idealistisch und unter Verwendung des musikalischen Begriffes “Stimmung” weitergedacht, kommt es zu Krankheiten, wenn die Wechselwirkungen (“Schwingungen”) zwischen Menschen und den auf sie einwirkenden Grundkräften “verstimmt” sind. Dies kann zu leichten Disharmonien führen – mit lange kompensierbaren, geringen Beschwerden. Aber auch zu schrillen Mißtönen – voller Beschwerden oder akuter Lebensgefahr. Dieser Vorstellung folgend ist Umstimmung eine energetische Umorientierung des kranken Menschen innerhalb der Grundkräfte der Welt (“Elemente”). Diese Umorientierung kann letztlich zu relativ höherer Harmonie im dynamischen Wechselspiel der (Lebens-)Kräfte zwischen Mensch und Elementen führen. Eine Umstimmungsbehandlung ist die Gesamtheit der therapeutischen Maßnahmen, die dieses Ziel verfolgen.”
Übrigens: Bei dieser Therapie leuchtet manchmal die lebens- und gesundheitsbestimmende dynamische Grundidee des Menschen (Paracelsus nannte diese den “inneren Archaeus”) blitzartig auf. Und führt spontan – wie ein körperliches Aha-Erlebnis – zu Wohlbefinden und Freude. Im Rahmen dieser “Rückbesinnung” taucht das Menschenideal – wie der Phönix aus der Asche – so wieder auf, wie es ursprünglich vielleicht gedacht und erschaffen wurde. Der erkrankte Organismus erhält dadurch – aus sich selbst heraus – sein eigentliches Heilungsziel zurück. Und damit eine neue Chance auf Gesundung. Umstimmungsbehandlungen sind deshalb echte naturheilkundliche Therapien – Therapien, deren Dynamik aus der Natur selbst stammt.
Im Vergleich hierzu bleibt auch die Lexikondefinition des Roche-Lexikons [7] merkwürdig blutleer:
“Umstimmung: Änderung physiologischer Funktionen, d. h. der Reaktionsweise von Vegetativum und Endokrinium auf einwirkende innerliche oder äußerliche Reize, durch gezielte, langzeitige Aktivierungsmaßnahmen in angemessener Dosierung; im allgemeinen als Umschlagen in Richtung Vagotonie (Trophotropie). Nachgewiesen sind v. a. Änderungen des Mineralhaushaltes und der Kapillarpermeabilität, herbeigeführt mit unspezifischen Maßnahmen (Überwärmungsbad, Diät, Reizkörpertherapie [z. B. Eiweißinjektionen]) oder durch Verabfolgung spezifischer Heilmittel (z. B. Androgene als Antiöstrogene).”
Doch die Definition ist nicht nur blutleer, sie ist auch gefährlich falsch: Brauchen ein Allergiker, ein Krebspatient oder ein Rheumatiker wirklich “Aktivierungsmaßnahmen … in Richtung Vagotonie”? Im Einzelfall vielleicht ja, generell jedoch nicht (mal abgesehen davon, dass der Begriff Vagotonie Teil eines anachronistischen Medizin-Dualismus ist). Gerade diese Patienten brauchen keine therapeutische Übereifrigkeit, sondern – wenn überhaupt – eine tatsächliche Umstimmung ihrer verstimmten Lebenskraft.
Immer mehr naturheilkundlich orientierte (Kassen-)Ärzte, Heilpraktiker oder Krankenhaus-Abteilungen bieten in Deutschland ihre Dienstleistungen an. Trotzdem wünschen immer mehr Patienten eine alternative, sanfte, natürliche Medizin. Offenbar deckt das stark gestiegene Angebot irgendwie nicht die Nachfrage…?
Dies wundert kaum – denn eine geistlose Medizin zeigt im besten Fall nur kurzfristige Erfolge. Kranken Menschen kann sie kaum zur Heilung verhelfen. Egal ob die jeweilige Richtung Schulmedizin, Psychotherapie oder Naturheilkunde heißt, egal ob sie sich der jeweils anderen Schule anbiedert oder nicht. Im besten Fall springt ein Lehrstuhl an einer Universität heraus, vielleicht sogar eine teilweise Kostenübernahme durch Krankenkassen – tatsächlich kranken Patienten wird aber so kaum geholfen. Hinweis: Eine “Rückbesinnung” auf die “traditionelle europäische Medizin” (TEM) hilft – wenn der Behandler-Kopf leer und seine Hände mit Geldzählen beschäftigt sind – auch nicht weiter.
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Heilpflanzen-Welt (2008).
Quellen
1. Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. Auflage, Berlin, 2002.
2. “Der andre Vorzug (eines Seebades) aber ist die stärkende Seeluft, und selbst der ganz unbeschreiblich grosze und herrliche Anblick der See, der … auf einen nicht daran Gewöhnten eine Wirkung thut, welche eine gänzliche Umstimmung und wohlthätige Exaltation des Nervensystems und Gemüths hervorbringen kann. Ich bin überzeugt, dasz die physischen Wirkungen des Mittels durch diesen Seeleneindruck auszerordentlich unterstützt werden müssen.”
Hufeland CW: Makrobiotik – Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern, Erstausgabe, Jena, 1797.
3. “Nach dem bisher vorgetragenen ist es nicht zu verkennen […] daß diese Befindens-Verstimmung, die wir Krankheit nennen, bloß durch eine andere Befindens-Umstimmung der Lebenskraft zur Gesundheit gebracht werden könne, mittels Arzneien, deren einzige Heilkraft folglich nur in Veränderung des Menschenbefindens […] bestehen kann.” Hahnemann S: Organon der Heilkunst, 6. Auflage, 1842.
4. Aschner B: Technik der Konstitutionstherapie. 4. Auflage, Ulm, 1961.
5. Augustin M, Schmiedel V (Hrsg): Praxisleitfaden Naturheilkunde: Methoden, Diagnostik, Therapieverfahren in Synopsen. 3. Auflage, Ulm, Stuttgart, Jena, Lübeck, 1998 (ab der 4. Auflage fehlt dann der Eintrag “Umstimmung und Immunmodulation”).
6. NN: Pschyrembel Wörterbuch Naturheilkunde. 2. Auflage, Berlin, New York, 2000.
7. NN: Roche Lexikon Medizin. 4. Auflage, München, 1999.