Das Kraut ist eine der wichtigsten Ritualpflanzen der Welt: Kein Schamane oder Heiler auf der nördlichen Halbkugel kam ohne sie aus. Beifuß ist ebenso eine uralte Heilpflanze. Doch während sie heute in Europa rituell wie medizinisch praktisch bedeutungslos ist, erfährt sie in Asien noch eine hohe Wertschätzung. Dort ist sie wesentlicher Teil der Moxa-Behandlung. In der Zukunft könnten Beifuß-Extrakte im Kampf gegen Malaria helfen.
Beifuß (Artemisia vulgaris) ist eine unscheinbare Heilpflanze. Obwohl sie auf allen nährstoffreichen Böden wuchert, Wegränder oder unbebaute Plätzen belebt, bleibt sie dennoch oft unbeachtet. Die meisten Menschen betrachten Beifuß als Unkraut und das mag auch mit ihrem Erscheinungsbild zu tun haben. Sie macht auf den ersten Blick einen unattraktiven Eindruck: Ihre Blätter sind tief gesägt und von dunkelgrün-grauer Farbe. Selbst die Blüten sind kaum als solche erkennbar, denn sie sind unauffällig und fast farblos. Vielleicht verleitet uns ihre Allgegenwart dazu, sie zu übersehen? Für unsere Altvorderen hingegen hatte sie eine geradezu sagenhafte Bedeutung. Die Sachsen verehrten Beifuß beispielsweise als heilige, schützende Pflanze des Wotan. Römer bauten sie entlang ihrer Heerstraße an, um Soldaten und Reisenden eine leicht greifbare Heil-Anwendung zu ermöglichen: Sie wurde um die Füße gebunden und half gegen Erschöpfung und müde Füße. Welcher Bedeutung Beifuß als magischer Pflanze beigemessen wurde, lässt sich an diesem angelsächsischen Zaubersegen erkennen:
“Erinnere dich, Beifuß, was du verkündest, was du anordnetest in feierlicher Kundgebung. Una heisst du, das älteste der Kräuter; Du hast Macht gegen 3 und gegen 30, Du hast Macht gegen Gift und Ansteckung, Du hast Macht gegen das Übel, das über das Land dahinfährt” [1].
Das Kraut wurde nicht nur bei Vergiftungen oder Bissen von Tieren aller Art eingesetzt, sondern auch vorbeugend gegen wilde Tiere, Sonnenstich oder sogar zum Schutz gegen den Teufel selbst verwandt. Denn wer “byfuß in synem huß hait, dem mag der tuffel keyn schaden zu fugen”.[2] Das machtvolle Kraut wurde deshalb auch zur Abwendung von Unheil oder dem bösen Blick über der Eingangstür aufgehängt. Am Johannistag umgürteten sich Menschen mit Beifuß und warfen ihn in der Nacht in ein Feuer – eine vorbeugende Maßnahme, um ein Jahr lang vor Krankheiten geschützt zu sein.
Magie/Schamanismus
So alt wie die magische Praxis des Entzündens von Räucherwerk ist, so alt ist die Verwendung von Beifuß – nachweisbar zehntausende von Jahren. Modernen Drogenforscher oder Pharmazeuten bleibt völlig unklar, warum unsere Vorfahren eine Pflanze ins Zentrum ihrer schamanischen Ritualpraktiken wählten, die nicht nur unscheinbar aussieht, sondern auch keinerlei nachweisbar psychotrope oder halluzinogene Wirkung hat. Aber Vorsicht: Diese Frage lenkt bereits so sehr von einer unvoreingenommenen wissenschaftlichen Phänomenologie der Beisfuss-Verwendung ab, wie nur irgendmöglich. Psychotrope oder halluzinogene Drogen erzeugen eben nur ein neuronales Ungewitter im Kopf. Dessen vergängliche Traumprodukte erlauben keine Unterscheidung, ob das Erleben einfach nur chemisch erzeugt ist oder nicht. Beifuß hingegen wird seit Jahrzehntausenden rituell und medizinisch verwendet. Das ist ein Fakt – auch wenn wir anhand seiner chemischen Zusammensetzung nicht verstehen, wie es beispielsweise den Teufel austreiben soll, an den wir sowieso kaum noch glauben. Zusammengefasst hat Beifuß bei den überlieferten Ritual-Praktiken zwei Hauptkomponenten: Erstens ist es ein wichtiges “Reisekraut”, das Verwendung findet, wenn Verbindung zwischen der “jenseitigen” Ahnen- oder Götterwelt aufgenommen werden sollen. Zweitens gilt es als dämonenvertreibend, zauberabwehrend oder reinigend. Der “Verlust” von Beifuß im christlichen Abendland – zu Gunsten halluzinogener Weihrauche – ist weitgehend erfolgreich. Lediglich die Weiterverwendung bei der ursprünglich aus dem Schamanismus stammenden Behandlungstechnik der Moxibustion – ebenfalls ein Entzünden von Räucherwerk – kommt Beifuß noch zu vollen magischen Ehren.
Das Frauenheilmittel
Der Name des Krauts lässt sich auf die griechische Göttin der Jagd Artemis (lat. Diana) zurückführen, unter deren besonderen Schutz die Heilpflanze stand. In Ägypten war sie der Isis geweiht. Beifuß galt als besonders wirksam bei Frauen-Erkrankungen oder ‑Beschwerden. Hippokrates beispielsweise beschrieb die Pflanze als menstruationsfördernd, Loncicerus als erleichternd für Geburt und Nachgeburtsphase. Beifuß wurde auch als Wurmmittel verwendet. Diese Einsatzmöglichkeit wird von Dioskurides ausführlich dokumentiert. Der griechische Arzt beschreibt die Pflanze in seiner Arzneimittellehre aus dem ersten Jahrhundert nach Christi genau und unterscheidet zwischen Wermut, dem See- und SantoninBeifuß: “Der SeeBeifuß – einige nennen ihn auch Seriphon – (…) ist voll von kleinen Samen, etwas bitter, dem Magen nicht bekömmlich, von durchdringendem Geruch und mit einer gewissen Wärme adstringierend. Dieser (…) tödtet Askariden und runde Würmer und treibt sie leicht aus”.[3] Auch der SantoninBeifuß wird von Dioskurides mit ähnlicher Wirkung beschrieben.
Volksheilkundliche Verwendungen
In der Humoralpathologie wurde Beifuß als trocken, warm und zusammenziehend (adstringierend) eingeordnet. Deshalb wurden seine “erwärmenden” Fähigkeiten bei “kaltem” und “schlecht verdauendem Magen” oder bei Erkältungskrankheiten mit “kaltem, zähem Schleim” als Gegenmaßnahme empfohlen. Auch als Wärme zuführendes Zusatzmittel wie zum Beispiel zu Salben oder Pflastern ist Beifuß bekannt. Sie wurden in Form von Wickeln, Auflagen oder Kompressen bei Rheumaerkrankungen auf die schmerzenden Gelenke oder bei Rückenschmerzen verwendet. Der Pflanze kam auch eine reinigende Wirkung zu: Magen- und Darmstörungen einhergehend mit Mundgeruch oder übel riechenden Durchfällen wurden mit Beifuß behandelt. Traditionell kam auch die Wurzel zum Einsatz. Sie galt als Mittel gegen Angst- und Schwächezustände, Depression, allgemeine Reizbarkeit und Unruhe, wie auch Psychoneurosen oder Schlafstörungen. Beifuß, der in der Literatur oft als “kleiner Bruder des Wermut” bezeichnet wird, wirkt schwächer als Wermut und ist auch nicht so bitter. Seine verdauungsfördernde Wirkung ist bei uns nicht vergessen: Der aromatisch bittere Geschmack des Krauts und die süßlich-scharf schmeckende Wurzel werden immer noch geschätzt. Und so findet Beifuß bei traditionellen, schweren Gerichten wie zum Beispiel bei Aal, Enten, Hammel- oder Gänsebraten als Gewürz zur “Unterstützung der Verdauung” Verwendung.
Botanik:
Synonyme:
Gewürzbeifuß, Jungfernkraut, Beifußkraut, Weibergürtelkraut, Fliegenkraut, Gänsekraut, Johannishaupt, Johannisgürtelkraut, Sonnenwendkraut, Wilder Wermut, Besenkraut, Werzwisch, Amarella (it.), Armoise (franz.), Mugwort (engl.)
Die Pflanze gehört zur Familie der Korbblütler (Asteraceae). Sie wird bis zu 1,50 Meter hoch. Die Stängel sind aufrecht, derb und kantig. Sie sind außerdem rispig verzweigt angeordnet, flaumig und behaart. Die Blätter sind 5–10 cm lang, derb, an der Oberseite von dunkelgrüner Farbe und meist unbehaart. Die Unterseite ist weiss und filzig. Beifuß hat untensitzende rosettenständig angeordnete kurzgestielte Blätter mit darunter sitzenden 1 bis 2 Paaren kleiner Seitenblättchen. Die übrigen Blätter sitzen fast stillos am Stängel und sind einfach lanzettlich, ganzrandig mit Zähnen versehen, die 3–6 Millimeter tief ins Blatt eingeschnitten sind. Die Blüten sind eiförmig und kurzgestielt. Sie können hängen oder aufrecht stehen und sitzen zahlreich in einer reichästig durchblätterten Rispe. Die Hüllblätter der Blüten sind außen grauweiss, filzig und mit grünem Mittelnerv. Die Blüten haben eine leicht gelbliche oder rotbraune Farbe. Die inneren Blüten sind zwittrig, die äußeren weiblich.
Im Kampf gegen Malaria
Beifuß enthält Öle wie Cineol, Thujon oder Kampfer sowie Bitterstoffe (Sesquiterpenlactone) und Gerbstoffe. In einjährigem Beifuß ist auch Artemisinin (0,1–0,09%), ein Sequiterpenlacton-Endoperoxid, enthalten. Dieser Wirkstoff und seine Anti-Malariawirkung beschäftigt Forscher in aller Welt, vor allem in China. Malaria ist eine in den Tropen und Subtropen weit verbreitete Erkrankung: Etwa 100 Millionen erkranken alljährlich neu an durch Moskitos übertragenen Malaria, etwa eine Million Menschen sterben daran. Die Erkrankung ist durch die weltweit zu¬nehmenden Resistenzbildungen der Erreger (Plasmodien) gegen Chinin und andere Antimalariamittel besonders bedrohlich und verschlechtert die Situation in den Endemiegebieten sehr. Artemisinin und einige halbsynthetische Derivate werden schon heute sehr erfolgreich in Süd-Ostasien und teilweise in Afrika bei unkomplizierten Malaria-falciparum-Erkrankungen eingesetzt. Im Gegensatz zu den klassischen Malariamitteln wurden bisher kaum Resistenzen beobachtet. Es wird angenommen, dass Artemisinin-Wirkstoffe sich in von Malariaerregern befallen roten Blutkörperchen (Erythrozyten) anreichern. Durch Abtötung früher Entwicklungsstufen der Malariaerreger (Schizonten) wird dann die Weiterentwicklung und Ausbreitung der Erreger über das Blut blockiert.
Die Moxabehandlung
Dass asiatische Wissenschaftler sich besonders mit dem Beifuß beschäftigen, hat besondere Hintergründe: In China, Tibet, Mongolei, Japan, Korea und Vietnam ist das Kraut auch heute noch wichtiger Therapie-Bestandteil traditioneller Medizinsysteme. Bei der Moxabehandlung (Moxibustion) häufig auch in Kombination mit der Akupunktur (chinesisch Zhen-Jiu) wird Beifuß in getrockneter und gepresster Form verbrannt. Während das Nadelstechen (Akupunktur) in Europa viele Anhänger als alternative Behandlungsmethode mit wissenschaftlicher Reputation hat, ist die Moxabehandlung eher eine exotische Therapieanwendung. Bei Moxabehandlungen wird zwischen direkter und indirekter Therapie unterschieden: Bei der direkten Moxabehandlung werden glimmende Moxakegel bei besonderen Indikationen direkt auf die Haut gebracht, wo sie langsam bis auf 2/3 Drittel ihrer Ausgangsgröße herunterbrennen. Oft werden auch Ingwer- oder Knoblauchscheibchen zwischen Kegel und Haut gelegt oder sogenannte Moxa-Boxen verwendet. Dies sind kleine hölzerne oder Kunststoff-Kästchen, in dem sich ein metallenes Gitter befindet. Auf diesem wird der Moxakegel abgebrannt. Um Verbrennungen zu vermeiden, müssen die Therapeuten sehr vorsichtig und umsichtig arbeiten. Beifußkegel werden häufig in Kombination mit Akupunkturnadeln (indirekte Therapie) verwandt: Auf speziellen Nadeln sitzen Moxakegel, deren in das Gewebe weitergeleitete Verbrennungswärme zusätzliche Stimulation der Akupunkturpunkte im Sinne der Traditionellen Chinesischen Medizin bewirken soll.
Selbstbehandlungen sind wegen der Verbrennungsgefahr nicht ratsam. Außerdem sind für diese Therapieform umfassende Kenntnisse über die Akupunkturpunkte notwendig, da die Kegel immer gezielt nach individueller Diagnostik auf ausge¬wählten Punkten aufgestellt werden. Nach den Vorstellungen traditioneller chinesischer Mediziner wird durch Moxabehandlung Wärme zugeführt und damit fehlende Lebensenergie (Qi) ausgeglichen. Eintritts- beziehungsweise Austritts¬punkte für die Lebensenergie sind Akupunkturpunkte, die wiederum den Meridianen, einem komplexen Qi-Leitsystem zugeordnet werden. Diesem System sind verschiedene Funktionskreise, Gefühlsqualitäten oder Umwelteinflüsse zugeordnet. Über die Behandlung von Akupunkturpunkten können Therapeuten den gestörten Energiefluss in den 12 Haupt- und 2 Sondermeridianen verändern und damit zur Selbstheilung des Organismus beitragen.
Hao Zi (Zeichen)
In China wurde Beifuß auch als “Medizinkraut” bezeichnet. Seine Blätter waren Bestandteil eines stärkenden Tonikums. Es wurde als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden verwendet, die Asche gegen Nasenbluten und die Samen als Tee gegen Husten verordnet. Chinesische Ärzte setzten Moxa-Behandlungen bei Kindern, älteren oder geschwächten Personen ein, weil sie nicht so anstrengend wie die Akupunktur galt. Moxa-Behandlungen an bestimmten Akupunkturpunkten hatten schützenden Charakter. Der in China berühmte Pflanzenheilkundler Sun Simiao (581–681) verweist darauf, dass Beifuß auf den Akupunkturpunkten San li vor drei Erkrankungen schützt – Malaria, Pest und Geschwüre. Und so unterzogen sich kaiserliche Beamte, die Reisen in die südlichen Regionen vornehmen mussten oder dorthin versetzt wurden, vor der Reise einer Moxa-Behandlung, um die Lebensenergie anzuregen. Bemerkenswert ist, dass auch in diesem Kulturkreis die Zahl drei (san), genau wie beim Zauberspruch der Germanen, auftaucht. Den magischen Kräften der Pflanze bedienten sich die Taoisten: Sie nutzten das Kraut, um sich ein langes Leben zu sichern, oder versuchten damit Unsterblichkeit zu erlangen.
Beifuß. (Buck, St. Johanniskraut, ‑gürtel, Sonnwendgürtel; Artemisia vulgaris.)
Autor: Heinrich Marzell. In: Hanns Bächtold-Stäubli, Eduard Hoffmann-Krayer: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens
Walter de Gruyter & Co., Berlin, 1927–1942.
1. Botanisches.
2. Beifuß. als Apotropaeum.
3. Beifuß am Johannistag.
4. Beifuß gegen Müdwerden.
5. Beifuß im Liebeszauber.
6. Volksmedizinisches.
7. Beifuß verhindert das Abziehen des Bienenschwarmes.
8. Kohlen unter dem Beifuß
1. Botanisches. 1/2 bis 1 1/2 m hoher Korbblütler mit fiederteiligen, auf der Oberseite dunkelgrünen, unten weißfilzigen Blättern. Die kleinen unscheinbaren Blütenköpfchen sind ährig oder traubig angeordnet. Der Beifuß ist meist häufig auf Schutt, in Hecken, an Wegen, Zäunen und Mauern1). Bei den antiken Schriftstellern2) stand die »artemisia«3) als Heilpflanze in hohem Ansehen; unter diesem Namen erscheint der B. auch öfter im deutschen Volksaberglauben (z. B. in Segensprüchen)4).
2. Die »artemisia« ist (wohl wegen ihres aromatischen Geruches) zeitlich und örtlich als zauberwidriges Mittel weit verbreitet. Ein griechischer Zauberpapyrus erwähnt ihren Saft als Zaubermittel5) und nach dem Kräuterbuch des (Pseudo-)Apuleius (4./5. Jh. n. Chr.) soll die im Hause aufgehängte artemisia die Dämonen vertreiben und den bösen Blick abwenden6). Ebenso erwähnt Vintlers Aberglaubenliste7) den »pipffis«, was möglicherweise den B. (ahd. pipôz) bedeuten könnte8). Eine Gießener Handschrift vom Jahre 14009) und eine solche aus dem Schlosse Wolfsthurn bei Sterzing aus dem 15. Jahrhundert10) kennen gleichfalls die »artemisia« als Mittel gegen Zauberei11). Die Kräuterbücher des 15. und 16. Jahrhunderts erwähnen, jedenfalls auf Apuleius zurückgehend, den Beifuß als zauberwidriges Mittel12). Wenn auch der Beifußaberglaube zum Teil auf antike Überlieferung zurückgeht13), so scheint der Beifuß doch auch eine echt germanische Zauberpflanze gewesen zu sein14). Der Beifuß wird gegen angezauberte Krankheiten verwendet (Solingen)15). Behexte Milch und Eier werden durch Beifuß entzaubert16). Wenn das Vieh bezaubert ist, wird der am Philippus- und Jakobustag gesammelte Beifuß im Stall aufgehängt17). In Mittelfranken und im Fichtelgebirge18) sowie in Tirol19) hält der Beifuß bösen Zauber fern. Gegen Blitz und Seuchen schützt der am Dachfirst aufgehängte Beifuß (Steiermark)20). Auch bei anderen germanischen Völkern stand der Beifuß in hohen Ehren. Im altenglischen Neunkräutersegen wird er als »Mutter der Kräuter« (»mater herbarum« im Mittellateinischen) angerufen21), und auch in Dänemark22) vertreibt er den Teufel. Ähnliches gilt auch für Frankreich23), Belgien24), für die Isle of Man25). Die Ainos in Japan und die Chinesen verwenden eine Artemisia-Art gegen Dämonen26).
3. Die apotropäische Verwendung des Beifußes gegen Krankheiten wird besonders mit dem Johannistag, bzw. dem ‑feuer in Verbindung gebracht27). Beim Tanz um das Johannisfeuer umgürtete man sich mit den Stengeln des Beifußes und warf diese dann ins Feuer. Das schützte das ganze folgende Jahr gegen Krankheiten28). Das Umgürten mit der vor Sonnenaufgang mit der linken Hand ausgerissenen artemisia als Mittel gegen Lendenschmerzen erwähnt schon der Gallier Marcellus von Bordeaux (4. Jahrhundert n. Chr.)29). Heutzutage scheint die Verwendung des Beifußes beim Johannisfeuer nicht mehr bekannt zu sein, jedoch weisen Volksnamen wie Sonnwend- oder Johannisgürtel auf die alte Sitte hin. In Niederbayern werden zur Sonnwendzeit Beifußkränze in den Ställen aufgehängt30). Auch in anderen Ländern werden dem an Johanni gesammelten Beifuß besondere Kräfte (vor allem gegen Zauberei und Krankheiten) zugeschrieben, so auf Sizilien31), in Frankreich32), in Mähren33), in Böhmen34). Als »Johanniskraut« schützt der an Johanni gesammelte Beifuß das Haus gegen den Blitz, wenn die Pflanze über die Haustür gelegt wird35), oder das Feld gegen Hagelschlag, wenn die vier Ecken mit Beifuß besteckt werden36). In Vorarlberg schützt das aus dem Beifuß verfertigte und über die Haustür gehängte »Johannisschäppel« das Haus vor Gefahren37).
4. Als »Machtwurz«, wie Höfler38) das englische mug-wort (vgl. auch die niederdeutschen Bezeichnungen Mâgert, Muggerk, Müggerk) deutet (ob mit Recht?), verleiht der Beifuß Kraft und Stärke. Nach einem verbreiteten Zauberrezept gibt der Saft vom Beifuß, wenn die Glieder damit eingerieben werden, große Stärke39). Es geht dies wohl auf die Angabe des Plinius40) zurück, daß die an die Füße gebundene artemisia den Wanderer vor Müdigkeit schütze. Das Mittel ist (oft in der Form, daß der Beifuß im Schuh getragen werden müsse) allgemein in die mittelalterliche Zauber- und Medizinliteratur übergegangen41) und erscheint häufig als »deutscher« Aberglaube42). Der Name Beifuß wird (wohl volksetymologisch) mit diesem Aberglauben in Verbindung gebracht (weil man die Pflanze »bei Fuß« tragen müsse). Der gleiche Aberglaube gilt auch vom Eisenkraut (s.d.), das übrigens ebenfalls ein »Johanniskraut« ist. Möglicherweise ist der den Wanderer vor Müdigkeit schützende B. ursprünglich ein Apotropaeum.
5. Als »Johanniskraut« wird der Beifuß auch im Liebeszauber gebraucht. Auch die antike Verwendung der artemisia als gynäkologisches Mittel43) dürfte hier mitbestimmend gewesen sein. Als Zaubermittel, um Liebe und Freundschaft zu erlangen, wird die artemisia in einem griechischen Zauberpapyrus (Pap. Lugdunensis) genannt44). Heiratslustige Witwen tragen den Beifuß als Liebeszauber bei sich (Posen)45). Das »Bifotbrecken« (Beifußbrechen) der Mädchen an Johanni, um einen Blick in die Zukunft, besonders in Liebesangelegenheiten, zu tun, dürfte ebenfalls hierher gehören46). Auch sonst wurde anscheinend die artemisia in der Wahrsagerei benutzt47).
6. In der antiken Medizin war die artemisia (Kraut der Artemis!) vor allem ein gynäkologisches Mittel48). Sie wird daher in den alten Kräuterbüchern49) ein »sonderlich frawenkraut« genannt. Ein Kranz davon gemacht, auf den Nabel gelegt und hernach bald wieder abgenommen, hilft in Kindsnöten50); auch zur Hervorrufung der Menses dient der Beifuß in der Volksmedizin51). Wenn man den Beifuß nach oben zu abschneidet, so stillt er den zu starken Monatsfluß, wenn nach unten (gegen die Erde), ruft er diesen hervor52). Überhaupt ist der Beifuß ein Mittel, das Blut (auch bei Verwundungen) zu stellen (Simmental)53), was offenbar auf die Signaturenlehre zurückgeht, da die Stengel öfter rötlich überlaufen sind (daher auch in alten Kräuterbüchern als »roter Buck« bezeichnet). In Schottland verkündet eine Meermaid die Heilkraft des Beifußes (mugwort)54). Wenn der Beifuß einem Kranken, ohne daß er davon weiß, unter das Haupt gelegt wird und der Kranke einschläft, so wird er genesen. Wenn kein Schlaf kommt, wird der Kranke sterben55). Das gleiche gilt vom Eisenkraut, mit dem ja der Beifuß öfter zusammengeworfen wird. Vereinzelt steht der Aberglaube, daß die am Tag der heiligen Rosalie gesammelte Wurzel des Beifußes unter das Kopfkissen gelegt gegen Zahnschmerzen gut sei56). Vielleicht darf man hier an die nicht seltene Verbindung Feuer (Beifuß als Pflanze des Johannisfeuers!) – Blitz – Zahn denken57).
7. Um das Abziehen des Bienenschwarmes zu verhindern legt man Beifuß in den Stock58). Zu dem gleichen Zweck werden auch andere aromatisch riechende Pflanzen wie die Melisse und der Quendel verwendet59).
8. Der Glaube, daß man am Johannistag unter dem Beifuß Kohlen, die gegen Epilepsie und Fieber wirksam seien, finde, ist häufig in der älteren botanischen und medizinischen Literatur verzeichnet60). Der Aberglaube wird auch aus der neuesten Zeit noch vielfach angegeben. Mit diesen unter dem Beifuß gegrabenen Kohlen bestreicht man ein Stück Vieh, das man zum Markte führen will, tags zuvor, dann erhält es auf 48 Stunden ein feistes, stattliches Aussehen61). Sie helfen gegen Epilepsie und Krampf62). Man findet diese Kohlen am Johannistag, während es 12 Uhr mittags schlägt; hat die Glocke ausgeschlagen, sind sie verschwunden63). Auch bei den Litauern helfen die in der Johannisnacht zwischen 11 und 12 Uhr gegrabenen Kohlen gegen Fieber. Sie werden von einem schwarzen Hund bewacht64). Die »Beifußkohlen« kennt auch der russische Aberglaube65). In England werden diese Kohlen im Liebeszauber gebraucht66). Da der Beifuß häufig auf Schuttstellen, verlassenen Kulturstätten und an ähnlichen Orten wächst, wäre der Fund von Kohlenresten erklärlich. Nach anderen sollen unter den »Beifußkohlen« die abgestorbenen Wurzelreste zu verstehen sein67). Vielleicht weisen aber diese »Kohlen«, die ab und zu als »glühend« bezeichnet werden, auf den Feuerkult der Sommersonnenwende hin68). Nach einem böhmischen Aberglauben kann man am Karfreitag an der Wurzel vom Beifuß ein schwarzes Würmlein (Gegenstück zur schwarzen Kohle?) finden, das man in ein Fläschchen tun und sorgfältig aufbewahren muß. Der Besitzer des Würmleins darf neun Tage lang nicht beten, sich nicht waschen und muß jeden Tag beim Mittagessen einen Bissen Brot unter den Tisch werfen. Am neunten Tag fängt das Würmchen zu reden an und gewährt dem Besitzer alles, was er will69). Hier spielt deutlich der Glaube an den Alraun herein (»Geist in der Flasche«!).
1) Marzell Kräuterb. 360 f. 2) Dioskurides Mat.med. 3, 113; Plinius Nat. hist. 25, 73. 3) Bezeichnung für den B. und verwandte Arten, vgl. auch Demitsch Russ. Volksheilmittel 182. 4) Marzell Heilpflanzen 222 ff. 5) Denkschr. Akad. Wiss. Wien. Phil. hist. Kl. 42 (1893), 15. 6) Apuleius De medicam. herbarum rec. Ackermann 1788, 165 = Thesaurus pauperum 1576, 112. 7) Pluemen der Tugent V. 7795. 8) ZfVk. 23, 118. 9) ZfdMyth. 2, 172. 10) ZfVk. 1, 323. 11) Vgl. auch Schönbach Berthold v. R. 148. 12) Z.B. Hortus Sanitatis, Mainz 1485, cap. 1: Tabernaemontanus Kreuterbuch 1588, 37. 13) Hoops Pflanzennamen 48 f. 14) Höfler Botanik 74 ff.; ZfVk. 24, 14. 15) ZfrwVk. 11, 172. 16) Montanus Volksfeste 141. 17) Saaltal: Schrift. d. Ver. f. Sachs.-Mein. Geschichte 1898, 54; Württemberg: Eberhardt Landwirtschaft 211; Anhalt: Mitteil. Anhalt. Gesch. 1922, 20. 18) Marzell Bayer. Volksbotanik 201. 204. 19) ZfVk. 15, 59. 20) Kronfeld Zauberpflanzen 1898, 18. 21) Hoops Pflanzennamen 47. 57. 22) Feilberg Ordbog 1, 506. 23) Sébillot Folk- Lore 3, 483. 486; Frazer Balder 2, 58. 24) Reinsberg-Düringsfeld Ethnogr. Kur. 2 (1879), 142; Frazer Balder 2, 60. 25) Frazer a.a.O. 59. 26) Frazer a.a.O. 60; Seligmann Blick 2, 55 f. 27) Grimm Myth. 1, 514; Zingerle Johannissegen 212 f.; Meyer Germ. Myth. 99. 28) Brunfels Kreuterbuch 1532, 237; Fuchs New Kreuterbuch 1543 cap. 13; Matthioli Kreuterbuch 1563, 357; Sebastian Frank Weltbuch 1534, 51b; Boemus Omnium gentium mores 1539, 219; vgl. auch ZfVk. 24, 13 f.; 29, 41 f.; Schmeller Bair.Wb.2 2, 302; Jahn Opfergebräuche 42; Grimm Myth. 2, 1013. 29) De medicamentis ed. Helmreich 26, 41; vgl. Höfler Kelten 245. 30) Marzell Bayer. Volksbotanik 43. 31) Pitrè Usi 3, 257. 32) Frazer Balder 2, 59; RTrp. 25, 464. 33) Hoelzl Galizien 153. 34) Grohmann 90; Hovorka u. Kronfeld 2, 193; FL. 35, 43. 35) Montanus Volksfeste 141; ebenso in Frankreich: Rolland Flore pop. 7, 64. 36) Sebizius Vom Feldbau 1598, 10 = Meyer Baden 366. 37) Vonbun Beiträge 131. 38) Botanik 75. 39) Jahn Hexenwesen 356; Buck Volksmedizin 33; Wirth Beiträge 6/7, 31. 40) Nat. hist. 26, 150. 41) Vgl. z.B. Megenberg Buch d. Natur, hrsg. von Pfeiffer 385; Meddygon Myddfai, transl. by Pughe 1861, 422; Hortus Sanitatis, Mainz 1485, cap. 1. 42) Z.B. Zingerle Tirol 1857, 64; SAVk. 7, 48; 19, 216; ZfrwVk. 8, 146; Höhn Volksheilkunde 1, 158; Bohnenberger 113; Woeste Mark 56; Fogel Pennsylvania 284 (von der ähnlichen Ambrosia artemisifolia!); vgl. auch ZfVk. 4, 154. 43) Plinius Nat. hist. 25, 73. 44) Fleckeisens Jahrb. 16. Suppl. Bd. 1888, 784 = Abt Apuleius 92. 45) Wuttke 106. 46) Brunner Ostd. Vk. 234. 47) Philo Magiologia 1675, 316. 48) Marzell Heilpflanzen 222. 49) Z.B. Brunfels Kreuterbuch 237. 50) Schroeder Med.-Chym. Apotheke 1693, 881; nach Plinius Nat. hist. 25, 73 führt die Pflanze ihren Namen nach der Artemis Ilithya, der Geburtshelferin! 51) Dioskurides Mat. med. 3, 113; Zahler Simmenthal 64; Stoll Zauberglauben 108. 52) Gockel Tractatus 1717, 99; Most Sympathie 161; Montanus Volksfeste 141; Lammert 147. 53) SAVk. 19, 230. 54) Grimm Myth. 1014; Dyer Folkl. of plants 296; Britten and Holland Plant-Names 346. 55) Lammert 98. 56) Grohmann 91. 57) Vgl. auch Marzell Bayer. Volksbotanik 45. 58) Urquell 5, 22. 59) Marzell Heilpflanzen 151. 158. 60) Z.B. Brunfels Kreuterbuch 237; Wolff Scrutinium amulet. medic. 1690, 371; Schroeder Med.- Chym. Apotheke 1693, 881; Ephemerides naturae Curiosorum 1706, 243 ff.; Wolf Beiträge 1, 235; Brand Pop. Ant. 183; SAVk. 15, 180. 61) Frischbier Hexenspr. 154; ähnlich auch im oberen Frankenwald: Marzell Bayer. Volksbotanik 43. 62) Urquell 3, 67; Knoop Hinterpommern 181; Jahn Hexenwesen 361 = Knorrn Pommern 123. 63) Bartsch Mecklenburg 2, 290. 64) Bezzenberger Lit. Forsch. 76. 65) Yermoloff Volkskalender 295. 66) Kuhn Westfalen 2, 176. 67) Marzell Heilpflanzen 224. 68) Marzell Volksleben 92. 69) Reinsberg-Düringsfeld Böhmen 130; vgl. Marzell Heilpflanzen 225.
Autorin
• Marion Kaden, Berlin (natürlich leben, Nov. 2008).
Bildnachweis
• Marion Kaden, Berlin.
Quellen
1. Gerhard Madaus: Lehrbuch der biologischen Heilmittel. Thieme, Leipzig, 1938 (Monographie Beifuß).
2. Bäumler S: Heilpflanzen Praxis heute. 2007. Elsevier Verlag, München.
3. Arzneimittellehre in fünf Büchern des Pedanios Dioskurides aus Anazarbos. Übersetzte Wiederausgabe. Ferdinand Enke, Stuttgart, 1902 (Volltext).
weitere Infos
• Kommission E des Bundesgesundheitsamtes: Monographie Artemisia vulgaris (Beifuß). Bundesanzeiger 43, 2.3.1998 (Volltext).