Johanniskraut: Vom Teufels- zum Herrgottskraut

Johan­nis­kraut (Hyperi­cum per­fo­ra­tum)

Als vor­über­ge­hen­de Behand­lung und zur Auf­hel­lung des ver­düs­ter­ten Gemüts wer­den ger­ne Prä­pa­ra­te aus einer bestimm­ten Heil­pflan­ze emp­foh­len: Johan­nis­kraut. Die tra­di­tio­nell bedeut­sa­me Pflan­ze steht auf­grund ihrer Phä­no­me­no­lo­gie sinn­bild­haft für das Son­ni­ge und ver­treibt nicht nur Geis­ter der Dun­kel­heit. Ihre ent­zün­dungs­hem­men­de Wir­kung bie­tet außer­dem eine brei­te Behand­lungs­pa­let­te an.

Johan­nis­kraut (Hyperi­cum per­fo­ra­tum) blüht dann, wenn die Son­ne am höchs­ten am Fir­ma­ment steht: Zur Zeit der Som­mer­son­nen­wen­de. Wer sie noch nicht kennt, soll­te sich im nächs­ten Jahr die Mühe einer ein­ge­hen­den Betrach­tung machen. Denn es gibt Eini­ges zu ent­de­cken: Am Augen­schein­lichs­ten sind die zar­ten, gold­gel­ben Blü­ten, die mit der Son­ne um die Wet­te strah­len. Ihre fei­nen Blü­ten­stän­de sind halb­ku­gel­för­mig über der Blü­te ange­or­det und weit gefä­chert. Mit ihnen scheint die Pflan­ze jeden mög­li­chen Licht­strahl auf­neh­men zu wol­len. Die grü­nen Blät­ter zei­gen eine Eigen­tüm­lich­keit: Sie sind durch­schei­nend punk­tiert – daher rührt der Art­na­me ‚per­fo­ra­tum’ was auf latei­nisch “durch­lö­chert” bedeu­tet (es han­delt sich um Exkret­be­häl­ter mit stark licht­bre­chen­den Lipid­trop­fen). Wer eine Blü­te pflückt und die­se in den Fin­gern zer­reibt, erlebt außer­dem eine Über­ra­schung: Blut­ro­ter Pflan­zen­saft tritt aus und färbt die Fin­ger. Übri­gens soll­te die­se Far­be nicht in die Klei­dung gera­ten, denn sie lässt sich schlecht entfernen.

Hexenkraut und Christusblut

Schon wegen die­ses blut­ro­ten Saf­tes beschäf­tig­ten sich Heil­kun­di­ge seit Jahr­tau­sen­den mit dem Johan­nis­kraut. Die Pflan­ze trug vie­le Namen, die durch­aus Schlüs­se auf den Gebrauch in der Volks­heil­kun­de zulas­sen. Im vor­christ­li­chen Mit­tel­al­ter hiess die Pflan­ze Manns­kraft oder Hexen­kraut, was auch auf magi­sche Prak­ti­ken hin­weist. So wur­den zum Bei­spiel Lie­bes­trän­ke aus Johan­nis­kraut und star­kem Met gebraut. Ver­lieb­te gaben die­se dem Men­schen ihres Her­zens zu trin­ken, um Des­in­ter­es­se aus­zu­trei­ben und statt des­sen Lie­be zu ent­fa­chen. Zur Zeit der Som­mer­son­nen­wen­de wur­de die Pflan­ze auch beson­ders zum magi­schen Schutz gepflückt. Denn gera­de dann, so dach­ten die Men­schen der dama­li­gen Zeit, waren gute wie böse Geis­ter oder Ele­men­tar­we­sen unter­wegs, um Scha­ber­nack mit den Men­schen zu trei­ben. Das Tra­gen eines Johan­nis­kraut-Zweigs schütz­te gegen die uner­wünsch­ten Anfein­dun­gen die­ser Mäch­te. Im chris­tia­ni­sier­ten Euro­pa wur­de die Pflan­ze umbe­nannt zum Bei­spiel in Herr­gotts­blut (Eifel), Chris­tus­blut (Ost­preu­ßen) oder Maria Bett­stroh (Nord­böh­men). Die heid­nisch-magi­schen Ritua­le wur­den durch­aus bei­be­hal­ten – aller­dings eher um damit Hexen­spuk und Teu­fels­mäch­te aus­zu­trei­ben. Volks­sa­gen berich­ten noch dar­über, wie bei­spiels­wei­se Menschen¬kinder mit Hil­fe des Johan­nis­krauts aus den Fän­gen des Teu­fels erret­tet wer­den konnten.

Dos­ten (Ori­ga­num vul­ga­re) und Johan­nis­kraut schützt vor dem Teu­fel: In Wer­bach kam einst ein sechs­jäh­ri­ges Mäd­chen von sei­ner Pathe heim und sag­te sei­ner Mut­ter, es habe von jener erlernt, Mäu­se und Gewit­ter zu machen. Da unter­sag­te sie ihm stren­ge, je wie­der hin zu gehen, und näh­te ihm Dos­ten und Johan­nis­kraut in die Klei­der. Trotz des Ver­bots schlich das Kind wie­der zu der Pathe und wur­de von ihr in den Kel­ler geführt, wo der Teu­fel auf es paß­te. Beim Anblick des Mäd­chens rief er aber aus: “Dos­ten und Johan­nis­kraut, ver­führt mir mei­ne Braut”. Denn wegen der ein­ge­näh­ten Kräu­ter hat­te er über das Kind kei­ne Gewalt mehr.

Quel­le: Baa­der: Neu­ge­sam­mel­te Sagen aus dem Lan­de Baden. Deut­sche Mär­chen und Sagen

Ein uraltes, geschätztes Mittel

Selbst­ge­mach­tes Rotöl

Das Johan­nis­kraut ist wahr­schein­lich seit men­schen­ge­den­ken im Ein­satz. Erst­mals schrift­lich fest­ge­hal­ten wur­de es durch den berühm­ten Arzt des Alter­tums Dio­s­ku­r­i­des (1. Jahr­hun­dert nach Chris­tus). Er befasst sich aus­führ­lich mit der Heil­pflan­ze in sei­ner Arz­nei­mit­tel­leh­re. Dabei unter­schei­det er bei den “spar­ri­gen Sträu­chern” zwi­schen vier Hyperi­cum-Arten (Hart­heu, Hyperi­kon, Askyon oder Andro­sa­imon). Er gibt detail­lier­te Anga­ben zum Ein­satz der Arten, wobei sich die Indi­ka­tio­nen ähneln. So schreibt er, Johan­nis­kraut habe eine “harn­trei­ben­de, und (der Same) in einem Zäpf­chen ein­ge­legt, eine mens­trua­ti­ons­för­dern­de Kraft. Mit Wein getrun­ken ver­treibt es drei­tä­gi­ges Fie­ber, der Same 40 Tage ein­ge­nom­men, heilt Ischi­as und die Blät­ter samt Samen als Umschlag hei­len Brand­wun­den.“1 Alle Arten kön­nen “gal­li­ge Unrein­heit” ver­trei­ben oder als Brei­um­schlag (Kata­plas­ma) ver­wen­det wer­den, um Blut zu stil­len oder Brand­wun­den zu hei­len. 15 Jahr­hun­der­te spä­ter fin­det Para­cel­sus (1493–1541) über­schweng­li­che Wor­te, “es ist gar nicht mög­lich, dass eine bes­se­re Arz­nei für Wun­den in allen Län­dern gefun­den wird”, schreibt er und emp­fiehlt es bei Quet­schun­gen, Brü­chen oder auch als äußer­lich schmerz­lin­dern­des Mit­tel. Er macht auch die Beob­ach­tung, dass die Pflan­ze hilf­reich sei gegen “Krank­hei­ten ohne Cor­pus und Sub­stanz” wie zum Bei­spiel bei “tol­len fan­ta­s­ei­en, die Men­schen in ver­zweif­lung brin­gen”. 2

Für jede Hausapotheke geeignet

Auch der soge­nann­te Kräu­ter­pfar­rer Sebas­ti­an Kneipp (1821–1897) hielt viel vom Johan­nis­kraut. Er wand­te es prak­tisch als All­heil­mit­tel an. Da ihm die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung der armen Bevöl­ke­rung beson­ders am Her­zen lag, bot ihm die Pflan­ze aller­lei Mög­lich­kei­ten. So liess sich bei­spiels­wei­se Johan­nis­kraut­öl (Rot­öl) ein­fach für die eige­ne Haus­apo­the­ke selbst her­stel­len. Die­ses Rot­öl emp­fahl er äußer­lich zur Behand­lung von Hexen­schuss, rheu­ma­ti­schen Erkran­kun­gen, Gicht oder Ver­ren­kun­gen. Zur inne­ren Anwen­dung, um Leib­schmer­zen zu kurie­ren, ver­ord­ne­te Kneipp 6–8 Trop­fen Johan­nis­kraut­öl auf Zucker. Johan­nis­kraut-Tee aus getrock­ne­ten Blü­ten und Blät­tern liess er bei leich­ter Ver­schlei­mun­gen von Brust, Lun­ge oder bei Magen­drü­cken verabreichen.

Das Ole­um Hyperi­ci (Johan­nis­kraut­öl, Rot­öl) wird auch heu­te ger­ne noch äußer­lich als Wund­heil­mit­tel zur Behand­lung und Nach­be­hand­lung von Ver­let­zun­gen, Mus­kel­schmer­zen (Myal­gi­en), Über­an­stren­gung (Mus­kel­ka­ter), Über­be­an­spru­chung bei Hal­tungs­schä­den, Wund­lie­gen (Deku­bi­tus) oder bei Ver­bren­nun­gen ers­ten Gra­des genutzt. Rot­öl kann in Dro­ge­rien oder Apo­the­ken gekauft wer­den. Es ist ein mit Öl berei­te­tes Mazer­at aus fri­schen Johanniskrautblüten.

Inter­ak­tio­nen mit ande­ren Medi­ka­men­ten möglich!

Eigene Zubereitung von Rotöl

20–30 Johan­­nis­­kraut-Blü­­ten kurz hin­ter dem Köpf­chen abpflü­cken. Sie wer­den unge­wa­schen und ganz ent­we­der in ein Weck­glas oder eine Fla­sche mit brei­tem Hals gege­ben. 300 Mil­li­li­ter gutes Öl (Son­­nen­­blu­­men- oder Oli­ven­öl) wer­den anschlie­ßend auf die Blü­ten gegos­sen. Danach Glas oder Fla­sche gut ver­schlie­ßen und vier Wochen lang an einen war­men, son­ni­gen Ort auf­stel­len (zum Bei­spiel eine Fens­ter­bank). Das Gefäss wird ein­mal in jeder Woche lang­sam drei bis vier­mal lang­sam auf den Kopf gedreht und wie­der zurück bewegt. Wäh­rend der vier Wochen nimmt das Öl lang­sam eine blut­ro­te Far­be an. Am Ende wer­den die Blü­ten aus dem Öl gefil­tert. Dazu eig­net sich ein Kaf­fee­fil­ter (dau­ert etwas län­ger) oder ein sehr fei­nes Sieb. Zum Schluss wird das fer­ti­ge Rot­öl in eine dunk­le Fla­sche umge­füllt und licht­ge­schützt auf­be­wahrt. Es ist ein Jahr haltbar.

Eine aus­führ­li­che Anwei­sung zur Herstellung

Tee­zu­be­rei­tung: 1 bis 2 Tee­löf­fel (2–4 Gramm) getrock­ne­tes Johan­nis­kraut wer­den mit 150 Mil­li­li­ter (mitt­le­re Tee­tas­se) 60 Grad Cel­si­us heis­sem Was­ser über­brüht und nach 5 bis 10 Minu­ten durch ein Tee­sieb gege­ben. Da einer wich­ti­gen Wirk­stof­fe, Hyperi­cin, tem­pe­ra­tur- und licht­emp­find­lich ist, soll­ten höhe­re Tem­pe­ra­tu­ren ver­mie­den wer­den. Die opti­ma­le Aus­zugs­tem­pe­ra­tur der Wirk­stof­fe wird mit 60 Grad Cel­si­us angegeben.

Neben­wir­kun­gen: Durch die Ein­nah­me von Johan­nis­kraut­prä­pa­ra­ten – ob Öl, Extrakt, Tee oder in Tablet­ten­form – kann eine Licht­emp­find­lich­keit (Pho­to­sen­si­bi­li­sie­rung) auf­tre­ten, d. h. eine inten­si­ve Son­nen­be­strah­lung ist zu ver­mei­den. Es sind auch Magen-Darm­be­schwer­den mög­lich sowie all­er­gi­sche Reak­tio­nen mit Haut­aus­schlag, Juck­reiz, Müdig­keit oder Unruhe.

Das Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um infor­miert zudem dar­über, dass Johan­nis­kraut mög­lichst nicht zusam­men mit ver­schie­de­nen Arz­nei­mit­teln ver­wen­det wer­den soll wie zum Bei­spiel bei Anti­ko­agu­lan­zi­en, Immun­sup­pres­si­va, ora­len Kon­tra­zep­ti­va oder anti­vi­ra­len Medi­ka­men­ten. Soll­te Ihr Arzt Ihnen Johan­nis­kraut ver­schrei­ben wol­len, infor­mie­ren Sie ihn über Ihre Ein­nah­me sämt­li­cher Prä­pa­ra­te, die Sie zusätz­lich ein­neh­men. Und umge­kehrt: Infor­mie­ren Sie Ihren Arzt immer über die Ver­wen­dung auch frei­ver­käuf­li­cher Pflan­zen­mit­tel, ein­schließ­lich Heilpflanzentees.

Gut für die Nerven

Seit etwa dem 18. Jahr­hun­dert tau­chen die ers­ten Beschrei­bun­gen über den Gebrauch von Johan­nis­kraut bei Ner­ven­schwä­che auf. So emp­fahl J. Wein­mann 1742 in der Phytan­tho­za ico­no­gra­phia Johan­nis­kraut, denn sie “stärcket das sämt­li­che Ner­ven-Werck”. Der Schwei­zer Natur­arzt Albrecht von Hal­ler (1708–1777),beschreibt sie als hilf­reich zur Behand­lung von Melan­cho­lie. Als Ger­hard Mad­aus 1938 sein umfas­sen­des Werk “Lehr­buch der bio­lo­gi­schen Heil­mit­tel” ver­fasst, nimmt er auch die Fach­mei­nun­gen zeit­ge­nös­si­scher Kol­le­gen auf. So berich­tet Mad­aus: “In neue­rer Zeit set­zen sich eini­ge Ärz­te für die Anwen­dung des Johan­nis­kraut ein, so Bohn, der es als ein aus­ge­spro­che­nes Ner­ven­mit­tel bezeich­net, das es bei hys­te­ri­schem Nacht­wan­deln, Som­nam­bu­lis­mus, Kopf­schmer­zen … heil­kräf­tig sei”. 3

Moderne Phytotherapie

1984 wur­de Hyperi­cum per­fo­ra­tum von der Kom­mis­si­on E des dama­li­gen deut­schen Bun­des­ge­sund­heits­am­tes posi­tiv, das heisst als wirk­sam mono­gra­phiert, spä­ter eben­so von der ESCOP (Euro­pean Sci­en­ti­fic Coöpe­ra­ti­ve on Phy­to­the­ra­py). In der Schweiz sind zahl­rei­che Johan­nis­kraut-Prä­pa­ra­te zur Behand­lung von “gedrück­ter Stim­mung, Stim­mungs­la­bi­li­tät und Span­nungs­zu­stän­den”, so das offi­zi­el­le Indi­ka­ti­ons-Spek­trum, zuge­las­sen. Die­se rela­tiv unspe­zi­fi­sche Bezeich­nung steht für eine Stö­rung der Affek­ti­vi­tät (Ein­heit des Gefühls­le­bens mit Stim­mun­gen, Emo­tio­nen, Trie­ben), die mit depres­si­ven Sym­pto­men im Vor­der­grund steht. Zur medi­ka­men­tö­sen Stan­dard­the­ra­pie bei Depres­si­on gehö­ren vor allem Lithi­um, tri­zy­kli­sche und nicht-tri­zy­kli­sche Anti­de­pres­si­va sowie selek­ti­ve und nicht-selek­ti­ve wir­ken­de Sero­to­nin-Wie­der­auf­nah­me­hem­mer (SSRI). Die Anti­de­pres­si­va-Ver­ord­nung ist jedoch in die Kri­tik gera­ten. So stell­te die ame­ri­ka­ni­sche Arz­nei­mit­tel­be­hör­de FDA 2004 fest, dass sich die Stu­di­en­la­ge, auf­grund derer die von der Indus­trie ein­ge­reich­ten Anträ­ge auf Zulas­sung von SSRIs, aus­ge­spro­chen feh­ler­haft waren. Denn: Von ins­ge­samt 72 bewer­te­ten Stu­di­en fehl­te nur eine Ver­öf­fent­li­chung bei den 38 als posi­tiv beur­teil­ten Stu­di­en. Bei 36 Stu­di­en mit nega­ti­vem Ergeb­nis für die SSRI sind jedoch 22 über­haupt nicht ver­öf­fent­licht wor­den. Somit ergibt sich aus den ver­öf­fent­lich­ten posi­ti­ven Stu­di­en eine fal­sche Beur­tei­lungs­grund­la­ge für die tat­säch­li­che Wirk­sam­keit der SSRI. Wei­te­re Kri­tik­punk­te erge­ben sich unter ande­rem aus der bewuss­ten Ver­schleie­rung von Neben­wir­kun­gen, bei­spiels­wei­se inkor­rek­ten Anga­ben zur Selbst­mord-Häu­fig­keit (wegen der die Her­stel­ler seit­her zu immer deut­li­che­ren Warn­hin­wei­sen gezwun­gen wur­den, vor allem hin­sicht­lich jun­ger Pati­en­ten). Wis­sen­schaft­ler – auch der FDA – ver­mu­ten, dass die Wir­kung und Sicher­heit aller che­misch-defi­nier­ten Anti­de­pres­si­va im Rah­men kor­rekt durch­ge­führ­ter Stu­di­en erneut nach­ge­wie­sen wer­den muss (Aus­nah­me Lithium).

Pflanzliche Alternative

Für vie­le Ärz­te war und ist die Ver­ord­nung von stan­dar­di­sier­ten Johan­nis­kraut-Prä­pa­ra­ten bei leich­ten bis mit­tel­schwe­ren depres­si­ven Stö­run­gen nahe­zu glei­cher Wir­kung wie die che­misch-syn­the­ti­schen Anti­de­pres­si­va eine ernst­zu­neh­men­de Alter­na­ti­ve. Nicht zuletzt wegen der deut­li­chen gerin­ge­ren Neben­wir­kun­gen und der hohen Akzep­tanz von Pflan­zen­heil­mit­teln bei den Pati­en­ten. Der Ein­satz­be­reich der Phy­to­phar­ma­ka umfasst meis­tens die Ver­ord­nung bei sai­so­na­ler Depres­si­on zur Auf­hel­lung der Stim­mung oder von der leich­ten bis mit­tel­schwe­ren Depres­si­on. Fer­tig­prä­pa­ra­te aus Tro­cken­ex­trak­ten sind die Mit­tel der Wahl, wobei die Ver­ord­nung je nach Schwe­re­grad der Depres­si­on einer Dosie­rung von 300–600 Mil­li­gramm Tro­cken­ex­trakt pro Tag (Erwach­se­ne: 2–4 Gramm Dro­ge oder stan­dar­di­siert auf 0,2 bis 1,0 Mil­li­gramm Gesamt­hy­peri­cin) unterliegt.

Doch die ver­nich­ten­de Kri­tik an den che­misch-syn­the­ti­schen Anti­de­pres­si­va zieht immer wei­te­re Krei­se und berührt nun auch die Beur­tei­lung pflanz­li­cher Prä­pa­ra­te. Denn: Um die Wirk­sam­keit des Johan­nis­krauts dar­zu­le­gen, haben vie­le Her­stel­ler von Johan­nis­kraut-Prä­pa­ra­ten nicht nur pla­ce­bo­kon­trol­lier­te Stu­di­en durch­ge­führt (wobei die Wir­kung von Johan­nis­kraut gegen­über der von Pla­ce­bo meist bes­ser ist). Son­dern sie haben auch auf­wän­di­ge, kon­trol­lier­te, kli­ni­sche Stu­di­en im Ver­gleich zu Stan­dard­the­ra­peu­ti­ka (tri­zy­kli­sche Anti­de­pres­si­va, SSRI) durch­ge­führt. Und konn­ten dabei nicht sel­ten die Gleich­wer­tig­keit von pflanz­li­chen und syn­the­ti­schen Prä­pa­ra­ten bei leich­ten und mit­tel­schwe­ren Depres­sio­nen zei­gen. Pech ist nur, dass, wenn Stan­dard-Anti­de­pres­si­va nichts tau­gen, auch der angeb­li­che, im Ver­gleich erbrach­te Nach­weis einer Wir­kung von Johan­nis­kraut-Prä­pa­ra­ten nicht gera­de aus­sa­ge­fä­hig ist.

Hin­zu kom­men wei­te­re Erschwer­nis­se: Nach wie vor ist nicht klar, wel­che Inhalt­stof­fe von Hyperi­cum per­fo­ra­tum eigent­lich für die anti­de­pres­si­ven Effek­te ver­ant­wort­lich zeich­nen. Die Bedeu­tung, des bis­her im Vor­der­grund ste­hen­den Inhalts­stoff Hyperi­cin wird zuneh­mend ange­zwei­felt. Außer­dem for­dern schul­me­di­zi­nisch ori­en­tier­te Wis­sen­schaft­ler neue und sinn­vol­le Stan­dar­di­sie­run­gen der Extrak­te, um so über­haupt ver­gleich­ba­re Behand­lun­gen durch­füh­ren zu kön­nen. Bei einer Meta­ana­ly­se des Coch­ra­ne-Netz­wer­kes (einer unab­hän­gi­gen Insti­tu­ti­on von Wis­sen­schaft­lern und Ärz­ten, die welt­weit Über­sichts­ar­bei­ten zur Bewer­tung von medi­zi­ni­schen The­ra­pien auf Grund­la­ge von wis­sen­schaft­li­chen Publi­ka­tio­nen vor­neh­men) zur Stu­di­en­la­ge bei der anti­de­pres­si­ven Wir­kung von Johan­nis­kraut kam her­aus, dass etli­che Autoren der von der Coch­ra­ne-Col­la­bo­ra­ti­on ana­ly­sier­ten Stu­di­en finan­zi­ell nicht unab­hän­gig gear­bei­tet hat­ten 4. Und: In grö­ße­ren, metho­disch ein­wand­frei­en Stu­di­en, die als Ziel­pa­ra­me­ter der Wir­kung die eta­blier­te Hamil­ton-Depres­si­ons­ska­la ver­wen­de­ten, zeig­te sich ein zwar sta­tis­tisch signi­fi­kan­ter, aber den­noch nur sehr gerin­ger Vor­teil von Johan­nis­kraut gegen­über Placebo.

Der Skan­dal rund um die Anti­de­pres­si­va zeigt, dass die Zulas­sungs­be­din­gun­gen von che­misch defi­nier­ten Prä­pa­ra­ten einer drin­gen­den Über­ar­bei­tung bedür­fen. Es zeigt auch, dass eine unkri­ti­sche Anleh­nung an schul­me­di­zi­ni­sche Kri­te­ri­en zum Nach­weis der Wir­kung pflanz­li­cher Arz­nei­en sehr leicht in metho­di­sche, inhalt­li­che oder intrans­pa­ren­te Sack­gas­sen füh­ren kön­nen. Lei­der gibt es euro­pa­weit kei­ne Regie­run­gen, Phar­ma-Lob­by­is­ten oder glo­bal täti­ge Unter­neh­men, die ernst­haf­tes Inter­es­se am Erhalt der Phy­to­the­ra­pie haben. Nötig wären groß­zü­gi­ge Inves­ti­tio­nen (statt Auf­rüs­tung, Erfor­schung des Welt­alls), um Inhalt­stof­fe und Wirk­wei­sen pflanz­li­cher Prä­pa­ra­te inter­es­sen­frei zu erfor­schen. Das wäre ganz im Sin­ne der meis­ten Bevöl­ke­run­gen Euro­pas, die nach wie vor Wert auf neben­wir­kungs­ar­me und heil­wirk­sa­me Phy­to­the­ra­peu­ti­ka legen.

Botanik

Johan­nis­kraut gehört zur Fami­lie der ist eine lang­le­bi­ge Pflan­ze. Im Erd­reich ist sie mit einer spin­del­för­mi­gen, reich­äs­ti­gen Wur­zel ver­an­kert und des­halb robust und wider­stands­fä­hig. Sie schätzt tro­cke­ne, kalk­hal­ti­ge Böden und ist nur an son­ni­gen Stand­or­ten anzu­tref­fen. Sie steht auf Hügeln, Ber­gen, Mau­ern und an Wegen. Sie kann bis zu einem Meter hoch wer­den. Ihre Sten­gel sind auf­recht, im obe­ren Teil ästig, mit vie­len, kur­zen Sti­len besetzt an denen Blät­ter wie Blü­ten sit­zen. Die Laub­blät­ter sind ellip­tisch-eiför­mig oder läng­lich geformt. Sie sind durch­schei­nend punk­tiert (es han­delt sich um Exkret­be­häl­ter mit stark licht­bre­chen­den Lipid­trop­fen). Die Blü­ten haben einen aus­ge­brei­te­ten, trug­dol­di­gem Blü­ten­stand. Die Kelch­blät­ter sind ei-lan­zett­lich zuge­spitzt. Jede Blü­te hat 50–60 Staub­blät­ter. Sie kann bei uns von Juli (Haupt­zeit) bis Sep­tem­ber blü­hen. Im Herbst wird die Pflan­ze schnell braun und ent­wi­ckelt Kap­sel­früch­te, die breit- bis schmal-eiför­mig sind und bis zu 10 mm lang wer­den. Zu den vier ver­wand­ten Spe­zi­es Hyperi­cum hir­su­tum, H. macu­la­tum, H. mon­ta­num, H. tetrap­ter­um besteht Ver­wechs­lungs­ge­fahr. Die­se Arten sind oft mit H. per­fo­ra­tum ver­ge­sell­schaf­tet und nei­gen zur Bastardisierung.

Mehr:

Johan­nis­kraut: Vor­sicht bei der Ein­nah­me ande­rer Medikamente!


Autorin
• Mari­on Kaden, Ber­lin, 2009.
Quel­len
1. Arz­nei­mit­tel­leh­re des Peda­ni­os Dio­s­ku­r­i­des aus Anaz­ar­bos. Ver­lag von Fer­di­nand Enke, Stutt­gart 1902, S. 361 ff.

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