In der industrialisierten Welt gibt es immer mehr alte Menschen – und diese haben Sex. Denn: Der Wunsch nach Sexualität ändert sich während des Alterns nicht signifikant. Für Paare, auch im hohen Alter, ist regelmäßige gemeinsame sexuelle Aktivität genauso normal wie z. B. Masturbation. Der Sexualtrieb und seine Befriedigung gehören nun mal zu den Grundbedürfnissen des Menschen wie Essen, Trinken oder Schlafen. Diese Feststellung scheint selbstverständlich – ist sie aber nicht! Das Thema ist heikel und wird relativ wenig in den Medien behandelt. Institutionen wie ProSenectute, Zürich, versuchen durch Informationsveranstaltungen aufzuklären. Eine Tagung im letzten Herbst war der “Sexualität im Alter” gewidmet. [1] Neben wissenschaftlichen und philosophischen Beiträgen kam auch Praktisches nicht zu kurz.
Elisabeth Bachmann, Betagtenbetreuerin vom Seniorenzentrum Zofingen, stellte die Ergebnisse ihrer Projektarbeit “Sex im Heim” [2] vor. Sie hatte durch anonymisierte Fragebogen und Interviews Meinungen und Wünsche sowohl der Heimbewohner als auch der Pflegenden zusammengetragen. Ein erstaunliches Ergebnis war, wie Bachmann darlegte, dass gerade die vorgeblich “aufgeklärten, jungen Pflegenden im Alter von 20–30 Jahren, sich nicht vorstellen konnten, dass Heimbewohner noch sexuelle Bedürfnisse haben”. Und damit fehlt eine wesentliche Grundlage, um die Bedürfnisse der Heimbewohner auch nur annähernd zu verstehen.
Dem jungen Pflegepersonal sind kaum Vorwürfe zu machen, denn ihr Verständnis spiegelt nur das der Allgemeinheit wider. So fällt bei Berichten im Fernsehen oder Artikeln in den Zeitungen die immer wieder stereotype Berichterstattung zu “Sex im Alter” auf. Selbst Mediziner oder Psychotherapeuten, die sich dem Thema fachlich nähern, rekapitulieren häufig lediglich die bekannten, soziokulturellen Vorurteile, ohne jedoch diese wissenschaftlich begründen zu können (ähnlich z. B. der bis noch vor wenigen Jahrzehnten von Ärzten vertretenen “Einsicht”, dass Onanie zu Gehirnerweichung und Rückenmarksschwund führt). In diesem, von vielen divergierenden Interessen gebildeten Dschungel aus Vorurteilen, Halbwahrheiten und nur wenigen wissenschaftlichen Einsichten von Bestand die “Wahrheit” zu finden, fällt selbst Experten schwer. Deswegen werden wichtige Positionen zum Themenkreis kontrapunktierend dargestellt. Auf der einen Seite die gängigen Vorurteile, ihnen gegenübergestellt moderne Gegenstimmen, die – zugegebenermaßen – eher seltener zu hören sind. Die Entscheidung zu diesem Stilmittel fiel auch aus der Überzeugung heraus, dass sich auf diese Weise ein interessantes Abwägen und Überprüfen auch eigener Vorstellungen ergeben kann.
Vorurteil 1: “Sex im Alter ist ein Tabuthema”
Richtig. Sexualität im Alter kommt kaum in den Medien vor, ist tabuisiert. Auf die schönste Sache der Welt haben nur junge Menschen einen Anspruch. Von alten Menschen wird altersgemäßes Verhalten erwartet, dazu gehören Würde, feinsinniger Lebensgenuss, Freude an der Erinnerung, kulturelle Erlebnisse, Reisen.
Vorurteil 2: “Wir leben in einer aufgeklärten Welt, in der Sex für junge Menschen kein Thema mehr ist”
Falsch, denn ausser einer Hochglanz-Sexualathletik ist Sex grundsätzlich tabuisiert. Zwar lassen sich in der Werbung mit sexy Abbildungen fast alle Produkte gut verkaufen. Deshalb gibt es viel Nacktes zu sehen. Doch ausser dem voyeuristischen Hingucker werden in den Medien sexuelle Themen kaum ernsthaft thematisiert. Ist es dennoch mal ein Thema, werden meist exotische Randerscheinungen wie Swinger-Clubs, (Kinder-) Prostitution oder Ähnliches reisserisch ins Bild gerückt. Berichte oder Informationen zu sexuellen Problemen zum Beispiel zwischen Paaren oder Aufklärung gibt es kaum. Trotz sexueller Revolution, schulischem Aufklärungsunterricht oder der erfolgreichen Fernsehserie “Sex in the City” bleibt Sex insgesamt tabuisiert. Das spiegelt sich wider in der steigenden Zahl an Mädchen-Schwangerschaften, anhaltend hohen Zahlen von Abtreibungen oder der steigenden Inanspruchnahme von Sexualberatungs-Institutionen.
Vorurteil 3: “Alte Menschen haben weniger Sex”
Falsch. Wenn ältere Menschen gesund sind, haben sie keineswegs weniger Sex oder geringeres Interesse daran. Alte Menschen brauchen Nähe, Zärtlichkeit und Sex, denn es ist ein biologisches Grundbedürfnis wie Schlafen, Essen oder Trinken. Allerdings: Durchschnittlich sterben Männer bis zu sieben Jahre früher als Frauen, dadurch ergibt sich eine ungleiche Verteilung der Geschlechter – deshalb bietet sich für Frauen im höheren Alter oft keine Gelegenheit mehr, einen Partner zu finden, mit dem sie Sex haben könnten. Und: Nur weil wenig über Sexualität im Alter gesprochen wird, heisst das nicht, dass sie nicht stattfindet. Denn: Alte Menschen gehören einer Generation an, die früher nicht gelernt hat, über Sex zu reden. Moralische, kirchliche und gesellschaftliche Vorstellungen schlossen dies aus. Ausserdem haben alte Menschen in unserer Gesellschaft keine Lobby, die ihre Interessen vertritt und die durch Öffentlichkeitsarbeit mit Vorstellungen aufräumt, dass Senioren und Seniorinnen nur noch Interesse am beschaulichem Leben oder kultureller Betätigung haben.
Vorurteil 4: “Im Alter ist man dauernd krank”
Falsch. Von Medizin-Dienstleistern werden gerne Ursache und Wirkungen verkehrt: Alter ist keine Krankheit und auch keine eigenständige Ursache für Erkrankungen. Zwar nehmen über 60-Jährige im Durchschnitt mindestens drei Arzneimittel ein, viele sogar noch mehr. Zu den häufigsten hiermit behandelten Erkrankungen zählen Zuckerkrankheit (Erwachsenen-Diabetes, Typ II), Herzinsuffizienz, Arterienverkalkung, cerebrale Durchblutungsstörungen oder rheumatische Erkrankungen. Doch diese Erkrankungen sind chronische Zivilisationskrankheiten, beginnen zumeist Jahrzehnte früher (also in der Jugend oder im Erwachsenenalter) und treten – mit ihren Beschwerden – erst viel später in Erscheinung. Übrigens: Die zweithäufigste Erkrankungsgruppe bei Senioren wird von Ärzten selbst erzeugt: Es sind die nebenwirkungsreichen, immer wieder tödlichen Arzneimittel-Wechselwirkungen bei medizinisch unzureichender Behandlung, vorallem im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Verwendung mehrerer Mittel.
Vorurteil 5: “Sex im Alter ist würdelos und nicht altersentsprechend”
Falsch. Wir leben in einer Gesellschaft, die von Jugendlichkeitswahn geprägt ist und in der häufig Vorstellungen bestehen, dass zum würdevollen Alter zum Beispielnur feinsinnige, philosophische Gespräche, pflegen gemeinsamer Erinnerungen oder der Rückzug aus dem aktiven, sexuellen Leben gehören – weil körperliche Leidenschaften nachlassen. Jene Alten, die sich diesen Vorstellungen nicht beugen, gelten als “Lustgreise” oder “unter dementer Verwirrung leidend”. Doch derartige soziale Stigmatisierungen sind als Kontroll- und Ausgrenzungsmechanismen zu verstehen, als Teil eines Generationskonflikts zwischen Jungen und Alten.
Vorurteil 6: “Alle Lebensfunktionen inklusive der körperlichen Leistungsfähigkeit lassen im Alter nach”
Falsch. Bei gesunden, alten Menschen ist zum Beispiel die Wundheilung besser als bei Jüngeren. Auch die Immunreaktionen des Körpers normalisieren sich, sind oft nicht mehr so überschiessend wie zum Beispiel bei Allergien jüngerer Menschen. Ebenfalls bleiben Lernfähigkeit und Erinnerungsvermögen bis ins hohe Alter erhalten, übertreffen oft die Leistungen jüngerer. Gedächtnisverlust im Alter ist bei Gesunden ein überwiegend soziokulturelles Phänomen, das in vielen Gesellschaften überhaupt nicht vorkommt. Beispiel: In vielen asiatischen Kulturen und Gesellschaften ist Alter ein beneideter Reifezustand, dem Achtung der Jüngeren entgegengebracht wird.
Vorurteil 7: “Im Alter nimmt die sexuelle Leistungsfähigkeit ab”
Falsch. Bei Männern verringert sich zwar die Zahl täglicher Erektionen oder nächtlicher Penis-Schwellungen im Verlauf des Lebens. Aber: Bei einem Drittel aller “jungen” Männer im Alter von 18 bis 50 Jahre dauert das geschlechtliche Vergnügen kaum länger als zwei Minuten. Die gerne behauptete Leistungsschwäche des alternden Mannes führt hingegen zu einer Verlängerung des Geschlechtsverkehrs, was dann auch weibliche Bedürfnisse befriedigen kann. Im Alter erfolgt also eine Verschiebung von der Quantität hin zur Qualität.
Vorurteil 8:“Viele alte Frauenwollen keinen Sex mehr”
Falsch. Frigidität – in jedem Lebensalter- wird bis heute als Krankheit bezeichnet, ist jedoch zumeist Ausdruck einer von Jugend an fehlenden, nie erlernten sexuellen Erlebensfähigkeit oft im Zusammenhang mit sexueller Traumatisierung zum Beispiel durch Missbrauch in der eigenen Familie. Deswegen gilt auch im Alter bei sexuellen Problemen: Beratungan statt Medikation.
Vorurteil 9: “Das Hormondefizit nach den Wechseljahren stört die sexuellen Funktionen”
Falsch. Mit der Menopause endet – biologisch sinnvollerweise – die weibliche Fruchtbarkeit. Gesundheitliche Einschränkungen wie Hitzewallungen, Schwindel, Schweissausbrüche durch den Wechsel sind ganz wesentlich kulturgebunden und hören nach Ende der Umstellung wieder auf. Wechseljahrs-Beschwerden als ärztlicher Behandlungsgrund ist in vielen Ländern unbekannt.
Manchmal entstehen durch den relativen Mangel an Geschlechtshormonen Probleme beim Sex, zum Beispiel durch dünnere Vaginalwände oder verringerte Bildung von Feuchtigkeit. Dann können Schmerzen, Schleimhautrisse oder kleinere Blutungen auftreten. Derartige Probleme lassen sich einfach durch die Verwendung von Gleitmitteln vermeiden. Dazu gehört auch Offenheit zwischenden Partnern. Durch das Sprechen über sexuelle Vorlieben oder Hinweise auf Beschwerden, zum Beispiel bei bestimmten Stellungen, lassen sich gemeinsame Wege zu befriedigendem Sex finden.
Vorurteil 10: “Der Eintritt der Wechseljahre führtzum Verlust von Weiblichkeit und Lust”
Falsch. Das weibliche Erscheinungsbild wird im Wesentlichen vom Erbgut bestimmt. Nur Hersteller von Hormonpräparaten und ihre ärztlichen Sprachrohre können so vermessen sein zu behaupten, das wesentlich Weibliche der Frau sei durch Östrogene oder Gestagene vermittelt. Deshalb wurde noch vor ein paar Jahren vielen Frauen eine vorbeugende, dauerhafte Hormonersatztherapie (HRT) empfohlen. Damit sollten Folgen wechseljahrsbedingter Körperveränderungen wie vermehrte Faltenbildung und Fetteinlagerungen, allgemeine Körperveränderung oder Gewichtszunahme eingeschränkt werden (Versprechen: “ewige Jugend”). Doch dann stellte sich vor rund 5 Jahren heraus, dass HRT für Frauen oft mit dem Tode und nicht mit ewiger Jugend endete und die Therapie wurde abgeschafft. Untersuchungen zeigen, dass viele Frauen – nicht nur in katholischen Ländern – das Ende der Schwangerschafts-Angst als Befreiung empfinden und ihre veränderte Weiblichkeit wie den Sex erleichtert und befreit erleben.
Vorurteil 11: “Das grösste Problem des alten Mannesist seine gestörte Erektionsfähigkeit”
Falsch. Auch der alternde Mann krankt ‑aus Sicht der Hormonhersteller – an einem, sich mit den Jahren immer mehr verschärfenden Hormonmangel (PADAM =partielles Androgen-Defizit des alternden Mannes) und sollte deshalb dauerhaft männliche Geschlechtshormone einnehmen. Doch die Testosteron-Ersatzbehandlung des Mannes wurde schon früh als wissenschaftliche Lächerlichkeit entlarvt.Obwohl der Testosteronspiegel des Mannes ab 40 um jährlich bis zu einem Prozent abnimmt, hat dies beim Sex keinerlei Bedeutung – ausser vielleicht bei Hundertjährigen. Sexuelle Probleme bei gesunden alternden Männern sind – wie bei Frauen- überwiegend psychosozial bedingt.
Vorurteil 12: “Alte Männer benötigen Medikamente,damit beim Sex noch was läuft”
Falsch. Das Gegenteil ist richtig, denn Medikamente sind oft die Hauptursache sexueller Störungen im Alter. Denn viele alte Menschen nehmen 3 bis 10 verschiedene Medikamente ein, die untereinander unabsehbare Wechselwirkungen haben und extrem häufig zum Beispiel Unlust und andere sexuelle Funktionsstörungen bewirken. Wird das medizinisch überprüft, kann oftmals der verursachende Medikamenten-Cocktail gegen eine nebenwirkungsärmere Mischung ersetzt werden. Übrigens: Der wesentliche Umsatz mit Viagra und Co. (sowohl über Rezept als auch per Schwarzmarkt) wird mit jungen, nicht mit alten Männern gemacht.
Autorin
• Marion Kaden, Natürlich (2006).
Quellen
1. Pro Senectute, Schweiz: Tagungs-Dokumentation, Sexualität im Alter, 15. November 2004, Kongresshaus Zürich
2. Bachmann, Elisabeth: Seniorenzentrum Zofingen, Projektarbeit Sex im Heim, Februar 2004, Bestellung bei: [email protected]