Jetzt ist es klar – die Schweizer wollen die Komplementärmedizin (Naturmedizin): 67 Prozent der Wahlberechtigten haben bei einer Volksabstimmung am 17. Mai dafür gestimmt, dass die Komplementärmedizin in der Schweizer Verfassung verankert werden soll. Seither heißt es offiziell in der Bundesverfassung: “Bund und Kantone sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die Berücksichtigung der Komplementärmedizin” (BV Art. 118 a “Schutz der Gesundheit”). Nur in drei Kantonen betrug die Zustimmung weniger als 60 Prozent, am höchsten fiel die Zustimmung in der Westschweiz aus.
Sowohl das nationale als auch die kantonalen Parlament(e) sind nun gefordert, die folgenden fünf Richtungen der Komplementärmedizin (Naturmedizin) in die Grundversicherung aufzunehmen: Phytotherapie, klassische Homöopathie, Neuraltherapie, Traditionelle Chinesische Medizin und Anthroposophische Medizin. Weitere Kernforderungen des Verfassungsartikels “Ja zur Komplementärmedizin” betreffen berufsrechtliche Regelungen, die Integration der Komplementärmedizin in Lehre und Forschung sowie die Wahrung des bewährten Heilmittelschatzes. In der Schweiz sind seit 2005 alternative Therapien weitgehend aus der Kostenerstattung gekippt worden, weil sie als unwissenschaftlich aufgefasst wurden. Solange das entsprechende Gesetz nicht geändert wird, führt der Weg zur Kassenbezahlung auch weiterhin – wie bei der Schulmedizin – ausschließlich über den Nachweis der Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit. In der Schweiz wird vermutet, dass – trotz der weltweit einmaligen Verankerung der Komplementärmedizin in der Verfassung -, weitere Volksabstimmungen nötig sein werden, wenn es um die Bezahlung geht. Kritiker des Abstimmungsergebnisses geben sich jedenfalls noch lange nicht geschlagen, berichten Schweizer Medien.
Die deutsche Situation – Umfrageergebnisse
Befürworter alternativer Therapien sehen in dem Schweizer Abstimmungsergebnis eine Widerspiegelung der Situation in Deutschland. So haben in den vergangenen Jahren Umfragen, vor allem des Institutes für Demoskopie in Allensbach (IFD), wiederholt gezeigt, dass sich viele Patientinnen und Patienten eine ganzheitliche, alternative Medizin wünschen (zum Beispiel gaben 2002 73% der Befragten in Deutschland an, Naturheilmittel anzuwenden, siehe “Pflanzliche Heilmittel immer stärker gefragt”). Eine hohe Akzeptanz der Phytotherapie – gerade bei zahlreichen Ärzten und Wissenschaftsvertretern – soll sich nach Angaben von Befürworten auch daran zeigen, dass es in Deutschland noch nie so viele Lehrstühle für verschiedene Bereiche der Komplementärmedizin gegeben habe wie heute. Umgekehrt dürfen die deutschen Krankenkassen – wie in der Schweiz – die Kosten für diese Therapien nicht mehr erstatten, abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen. Am 1. April 2004, dem schwarzen Tag für die deutsche Phytotherapie, trat die vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossene Ausnahmeliste zum GKV-Modernisierungsgesetz in Kraft. Dieses Gesetz sollte ab 1.1.2004 erhebliche Einsparungen auch bei der Arzneiverordnung bringen. Seither werden Erwachsenen bis auf vier Ausnahmen keine pflanzlichen Heilmittel und andere naturheilkundliche Mittel durch ihre Krankenkassen erstattet (Ausnahmen: Mistel, Johanniskraut, Ginkgo biloba, Flohsamen – für stark begrenzte Anwendungsbereiche). Weitere Ausnahmen: Kinder bis zum 12. Lebensjahr, Jugendliche mit Entwicklungs-Störungen, bei der Behandlung “schwerwiegender Erkrankungen”).
Fehlende Proteste gegen “Auslöschung” der Heilpflanzenmedizin
Diese Entwicklungen haben in Deutschland nur zu wenigen Protesten geführt. Weder eine Petition noch eine parlamentarische Anfrage wurde von den Befürwortern der Naturmittel auf den Weg gebracht. Auch die Akzeptanz der Bevölkerung scheint bei weitem nicht so hoch, wie die genannten Umfrageergebnisse gerne nahelegen: Das “Grüne Rezept” (siehe z. B. “Das Grüne Rezept – Rettung für Pflanzen-Heilmittel?”, externer Link), eine Möglichkeit für Ärzte, naturheilkundliche Alternativmedizin für Selbstzahler zu verordnen, wird praktisch nicht von Patienten nachgefragt. Obwohl der Großteil der komplementärmedizinischen Präparate verkehrsfähig sind und in allen Apotheken verkauft werden können (anders als vor Jahrzehnten in Schweden, wo diese Arzneimittel nicht nur aus der Kostenerstattung entfernt, sondern weitgehend verboten wurden).
Anhaltend sinkende Umsätze mit Phytos
Aktuelle Umsatzdaten von IMS Health, einem der führenden Anbieter von Informationen und Dienstleistungen für die Pharma- und Gesundheitsindustrie, belegen die anhaltend negative Entwicklung bei den pflanzlichen Arzneimitteln. Sowohl in den Apotheken (Tab. 1) als auch überwiegend bei den nicht apothekenbasierten Vertriebskanälen (Tab. 2). Lediglich bei Homöopathika lässt sich eine gewisse Erholung bei Umsatz und Absatz erkennen, sowie beim Abverkauf bei Discountern.
Tab. 1 Markt der rezeptfreien Phytopharmaka in der Apotheke in den Jahren 2006–2008 [1] | ||||||
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Umsatz OTC 2006* | Veränderung in %+ | Umsatz OTC 2007* | Veränderung in %+ | Umsatz OTC 2008* | Veränderung in %+ | |
Phytopharmaka | 1.400.559,9 | -8,8 | 1.361.295,4 | -2,8 | 1.292.627,2 | -5,0 |
Homöopathika | 378.279,4 | -2,4 | 399.506,0 | +5,6 | 402.232,7 | +0,7 |
* Gesamt in Tsd. Euro zum Apothekenverkaufspreis + gegenüber Vorjahr |
Tab. 2 Markt der rezeptfreien Phytopharmaka und Homöopathika in Vertriebskanälen außerhalb Apotheke in den Jahren 2007–2008 [2] | |||
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Umsatz OTC 2007 | Umsatz OTC 2008 | Veränderung in %+ | |
Phytopharmaka / Homöopathika gesamt | 163.517,8 | 156.072,8 | -4,6 |
Drogeriemärkte | 115.579,1 | 110.412,9 | -4,5 |
Verbrauchermärkte | 43.133,2 | 41.282,7 | -4,3 |
Trad. Lebensmitteleinzelhandel (<800QM) | 4.570,7 | 4.100,1 | -10,3 |
Discounter | 234,8 | 277,1 | 18,0 |
* Gesamt in Tsd. Euro zu Endverbraucherpreisen + gegenüber Vorjahr |
Die Arzneimittelausgaben der GKV betrugen 2007 27,8 Milliarden Euro (ohne Impfkosten). Bei einem Selbstmedikationsanteil von rund 80 Prozent (Tab. 3) betrug der Anteil der GKV-erstatteten Phytopharmaka noch nicht einmal 1 Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben der GKV (bei 20% Erstattungsanteil bei Phytos betragen die erstatteten Ausgaben 272 Mio. EUR) [3].
Tab. 3 Rezeptfreie Phytopharmaka und Homöopathika nach Anteil Selbstmedikation und verordnete Präparate (Umsatz) im Jahr 2008 [1] | |
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Anteil | 2008 |
Selbstmedikation in % | 79,5 |
Verordnungen in % | 21,5 |
* gemessen in Umsatz OTC Gesamt in Tsd. Euro zum Apothekenverkaufspreis, Phytotherapeutika und Homöopathika zusammen |
Marktbereinigung bei Produkten und Herstellern
Die – möglicherweise – geringe Akzeptanz von pflanzlichen Arzneimittel, die sich nicht zuletzt in ihrer Nichterstattung durch die Krankenkassen ausdrückt, hat auch zu einer “Marktbereinigung” bei den Herstellern geführt. Vor allem zugunsten jener Unternehmen, die bei ausreichender Größe und vor allem hohen Auslandsumgewinnen noch eigenständige Forschung betreiben können (Tab. 4). Im Gegensatz zu investorengesponsorten Thinktanks oder innovativen akademischen Ausgründungen z. B. im Bereich biotechnologischer Arzneimittel, bestehen für kleine forschende Unternehmen im Bereich Phytotherapie derzeit kaum ernsthafte Chancen in Deutschland. Der Fokus der “forschenden” Tätigkeit ist überwiegend auf die steigenden Anforderungen bei der (Nach-)Zulassung bestehender Präparate konzentriert. Nur so ist auch zu erklären, dass trotz rund 200 für die Anwendung zugelassenen Heilpflanzen (siehe “Liste der Monographien der E‑Kommission (Phyto-Therapie)”) nur noch knapp 90 Heilpflanzen unter den aktuell zugelassen Phyto-Arzneimitteln übrig geblieben sind.
Tab. 4 Die zehn führenden rezeptfreien Phytotherapeutika/Homöopathika im Jahr 2008 waren* [1] | ||
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Tebonin | Phyto | Ginkgo biloba |
Sinupret | Phyto | Kombination |
Umckaloabo | Phyto | Pelargonium sidoides |
Gingium | Phyto | Ginkgo biloba |
Gelomyrtol | (vermutlich Phyto) | “Geheimmittel” |
Iberogast | Phyto | Kombination |
Biochemie | Homöop. | potenzierte Mineralsalze |
Meditonsin | Homöop. | Kombination |
Prospan | Phyto | Efeublätter |
Wobenzym | (teilweise Phyto) | Ananas, Tierorganextrakt |
* nur Verkäufe in öffentlichen Apotheken der Bundesrepublik Deutschland zu effektiven Verkaufspreisen. Führende Hersteller (nach Umsatz): Schwabe, Bionorica, Klosterfrau, Spitzner, Steigerwald, Heel, Hexal, DHU, Pohl-Boskamp, Engelhard, Duopharm (Salus-Unternehmensgruppe) |
Kommentar Heilpflanzen-Welt.de
Auch wenn firmengesponsorte Kampagne wie “ProPhyto” die Akzeptanz der Heilpflanzenmedizin in Deutschland erhöhen sollten, haben sie im besten Fall nur zur intendierten Umsatzsteigerung einzelner Hersteller beigetragen. Nicht aber zur vom IfD Allensbach beobachteten, steigenden Akzeptanz. Als Hauptproblem erscheinen dabei weder Hersteller, noch akademische Phytopharmazie- und Phytotherapie-Forscher (bei Heilpflanzen-Welt.de gerne auch als “wissenschaftliche Totengräber” der Phytotherapie bezeichnet) oder Ärzte, Heilpraktiker und Apotheker. Auch der Ausschluss der Phytos aus der GKV-Erstattungsfähigkeit ist nicht das zentrale Problem. Die zentrale Entwicklung der letzten Jahrzehnte – unabhängig von angeblichen Anti-Heilpflanzenkampagnen der chemisch-pharmazeutischen Industrie, wie sie von Verschwörungsfreunden gerne behauptet werden – ist der Verlust des Interesses an Heilpflanzen und ganzheitlicher Medizin bei Patienten/Verbrauchern/Kunden. Sie wünschen mehrheitlich nicht mehr die naturmedizinischen Produkte aus “Gottes Apotheke”.
Eine – von zahlreichen – möglichen Begründungen bringt das Desinteresse von Verbrauchern an “naturnahen” Produkten jeder Art in Zusammenhang mit der zunehmenden Abhängigkeit der Verbraucher vom “mediko-industriellen Komplex”. Ohne nach Verantwortlichkeiten oder Schuld zu fragen, wäre die “Angst vor der Natur” vor allem psychodynamisch zu interpretieren, die Abhängigkeit vom Gesundheitsapparat wiederum von dem kindlichen Bedürfnis, sich der Eigen-Verantwortung für Gesundheit und Welt zu entledigen. Mit der Nagelschere die Rasenkante zu trimmen, verträgt sich eben nicht wirklich mit einem verantwortungsvollen Umgang mit Heilpflanzen und Naturmitteln.
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Heilpflanzen-Welt (2009).
Quellen
1. IMS OTC/GMS Report Apotheke: Verkäufe von rezeptfreien Arzneimitteln und Nichtarzneimitteln/Diätetischen Lebensmitteln in öffentlichen Apotheken der Bundesrepublik Deutschland zu effektiven Verkaufspreisen. Die Paneldaten der Apotheken werden durch eine gewichtete Hochrechnung nach Apothekengrößenklassen und Gebieten auf die Grundgesamtheit projiziert (Heilpflanzen-Welt.de dankt für die Zuverfügungstellung der Daten).
2. IMS OTC Report/Gesundheitsmittelstudie: Verkäufe von rezeptfreien Arzneimitteln und Nichtarzneimitteln/Diätetischen Lebensmitteln in öffentlichen Apotheken, Drogerie- und Verbrauchermärkten sowie Discountern in der Bundesrepublik Deutschland, zu effektiven Verkaufspreisen. Die Paneldaten der Apotheken werden durch eine gewichtete Hochrechnung nach Apothekengrößenklassen und ‑gebieten auf die Grundgesamtheit projiziert. Die Daten der Drogeriemärkte und Discounter werden entsprechend den Geschäften regional hochgerechnet. Die Daten der Verbrauchermärkte werden entsprechend den Geschäften und Verkaufsflächenklassen regional hochgerechnet (Heilpflanzen-Welt.de dankt für die Zuverfügungstellung der Daten).
3. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2008 – Aktuelle Daten, Kosten, Trends und Kommentare. Springer Medizin Verlag, Heidelberg, 2009.