Waldmeister (Asperula odorata)
Im Mai ist Waldmeister-Zeit. Den typischen, echten Geruch und Geschmack des Heilkrauts kennen oft nur noch Ältere. Weil Waldmeister Cumarin enthält, wird das Heilkraut wegen der einzuhaltende Höchstwert gerne nur als künstliches Aroma verwendet. Somit ist echter Waldmeister zu einem Geheimtipp geworden: Kenner verwenden nur das Original für ihre Bowle; Spagyrik-Anhänger setzen alchimistisch hergestellte Waldmeister-Arzneien bei vielfältigen Funktionsstörungen ein.
“Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus…” und der Waldmeister (Galium odoratum oder auch Asperula odorata L.). Wer denkt beim dem Heilkraut nicht an eine spritzige Maibowle? Das bekannte und beliebte Getränk ist – frisch angesetzt – lecker und unverkennbar im Geschmack. Der Benediktinermönch Wandalbertus schrieb 854 die einfache Rezeptur erstmals nieder: “Schüttle den perlenden Wein auf das Waldmeisterlein”. Seither wird sie in allen weissweinproduzierenden Gegenden Mitteleuropas kaum verändert angesetzt. Grundlage für die Bowle ist das frische Waldmeisterkraut. Echte Liebhaber werden sich “ihre” Waldmeisterplätze zum Sammeln merken, denn das mehrjährige, wiederkehrende Heilkraut ist nicht überall zu finden. Es braucht gute Laubböden und benötigt für sein Wachstum schattige und dennoch lichte Wälder. Weil ihm Buchenwälder genau diese Kombination bieten, ist er dort am häufigsten anzutreffen (aber auch in lichten Mischlaubwäldern). Der etwa fußhoch wachsende Waldmeister tritt nie als einzelne Pflanze sondern tausendfach auf und gleicht in seinem hellen, frischen Grün einem dichten Pflanzenteppich. Denn er verbreitet sich über kriechende, kurz über dem Erdboden verzweigte Erdsprossen (“Rhizome”). Hieraus erwachsen aufrechte, glatte und vierkantige Stängel mit acht um den Stängel im Wirtel stehenden lanzettförmigen Blättern. Die Meinungen sind geteilt darüber, wann Waldmeister am wirksamsten ist. Die meisten sammeln ihn vor der Blüte, weil er dann aromatischer sein soll. Ohne Blüten ist Waldmeister für Anfänger nicht leicht zu erkennen. So manches Unkraut kann ähnlich aussehen. Bei Unsicherheit brauchen jedoch nur ein paar Blätter zwischen den Fingern zerrieben werden: Wenn dann der typische Waldmeisterduft verströmt wird, kann das Kraut kurz über dem Erdboden abgeschnitten werden. Es wird gebündelt und an einem schattigen, luftigen und dunklen (wird sonst unansehnlich braun) Ort getrocknet. Der blühende Waldmeister ist bei der Suche leichter zu erkennen, nämlich an seinen weissen Blüten. Die vierzipfeligen, kleinen Blüten stehen gleich einem Sträußchen auf drei verzweigten Stielen aus denen später kleine, klettenartige Nüßchen erwachsen.
 Gegen Motten:
Tipp: Getrocknete Waldmeister-Sträusschen in kleine Baumwoll-Säckchen einnähen, weil er schnell brüchig wird und in seine Bestandteile zerfällt. Waldmeister-Säckchen werden gerne als Motten- und Insektenschutz in Kleiderschränke gehängt oder gelegt. Sie verbreiten einen angenehmen Geruch, der etwa nach einem Jahr verflogen ist. Dann sollte der Inhalt der Säckchen erneuert werden.
Unverkennbarer Geruch
Waldmeister hat ohne Blüten seine ganze Heilkraft
Der für den Waldmeister typische Geruch entsteht unter anderem durch Curmarine, die die Pflanze reichlich (bis zu 1,5%) enthält. Während die frische Pflanze kaum duftet, entfaltet sich der intensive Geruch während des Trocknungsprozesses durch die Freisetzung der chemischen Verbindungen der Cumarine und anderer ätherischer Öle. Deshalb wird bei älteren Rezepten empfohlen, zur Intensivierung des Geschmacks unbedingt getrockneten Waldmeister für die Bowle zu verwenden. Doch seitdem Cumarin wegen seiner Giftigkeit wieder einmal ins Gerede gekommen ist, sind solche Tipps seltener geworden. Die letzte Cumarin-Diskussion ist noch gar nicht so lange her: In der letzten Weihnachtszeit wurde sie wegen der cumarinhaltigen Zimtplätzchen geführt – sehr zum Ärger von Zimtliebhabern. Seither zählen verunsicherte Verbraucher ihren Zimtsterne vor dem Verzehr ab oder erwägen aus gesundheitlichen Gründen auf industriell hergestellte, zimtgewürzten Frühstücksgetreidesorten zu verzichten. In der Schweiz darf Waldmeister als Zusatz zur Aromatisierug oder als Gewürz unter Beachtung der Cumarinwerte der Fremd- und Inhaltsstoffverordnung verwendet werden (jedoch nicht als Nahrungsergänzungsmittel). In Deutschland hingegen ist der Einsatz von Waldmeister seit 1981 für die Lebensmittelindustrie verboten. Eis, Brausepulver oder Limonaden werden nur noch mit künstlichem Waldmeister-Aroma versetzt. Der oft bei Kindern beliebte, giftgrüne “Wackelpeter” ist somit geschmacklich ein völlig künstliches Produkt.
Kopfschmerzen möglich
Die angebliche Giftigkeit des Cumarins (zum Beispiel Leberschädigung) wurde in den 60iger Jahren durch unrealistisch überhöhte Cumarin-Gabe und nur im Rahmen von Tierversuchen festgestellt (Paracelsus: “Alle Dinge sind ein Gift und nichts ist ohne Gift. Nur die Dosis bewirkt, dass ein Ding kein Gift ist.“”). Beim Menschen sind bei erheblicher Überdosierung von Waldmeister Kopfschmerzen oder Benommenheit möglich. Doch bei welchen Mengen dies der Fall ist, darüber liegen nur wissenschaftliche Spekulationen vor. Es gibt jedoch einen Richtwert. Dieser liegt für eine echte Waldmeisterbowle bei höchstens 3 Gramm frischem Kraut (etwa 2–3 Pflanzen) für einen Liter Flüssigkeit 1. Bei der deutschen, gesetzlichen Reglementierungswut wurde wahrscheinlich – wie so oft in der Phytotherapie – der gesunde Menschenverstand außer Kraft gesetzt. Denn genauso wie der Einsatz von großen Gewürzmengen ein Gericht verderben kann, ist die büschelweise Verwendung von Waldmeister für eine Bowle ungeeignet. Sie würde den angenehm anregenden Geschmack des Getränks in ein bitteres, unverträgliches Gebräu verwandeln. Für die auftretenden Kopfschmerzen nach reichlichem Genuss von Waldmeister-Bowle gibt es auch noch einen anderen, leicht nachvollziehbaren Grund – den Alkohol des Weines. [1]
Cumarinhaltige Pflanzen als Aromatika
Cumarine wurden schon 1820 aus den Tonkabohnen, den Samen eines in Guayana heimischen Baumes, isoliert. In Cayenne tragen die Samen den wohlklingenden Namen “Coumarouna”. Von diesem wurde die Bezeichnung für die intensiv duftende und chemisch schön auskristallisierende Einzelsubstanz abgeleitet. Später wurde der Name als Gruppenbezeichnung für Pflanzenstoffe verwendet, die chemisch dasselbe Cumarin-Grundgerüst wie die Einzelsubstanz aufwiesen (cis-o-Hydroxyzimtsäure). Cumarine kommen zahlreich im Pflanzenreich vor: So sind Cumarine nicht nur in Waldmeister, sondern auch in einigen Orchideenarten, Gräsern, Schmetterlingsblütlern, Rötegewächse oder Korbblütlern chemisch nachzuweisen. Zudem sind Cumarine in kleinen Mengen in beliebten Obstsorten wie Erdbeeren, Brombeeren, Kirschen, Aprikosen oder Datteln zu finden. Wegen des intensiven, angenehmen Geruchs wurde Waldmeister früher in der Pharmazie verwendet, um unangenehm riechende Rezepturen zu überdecken (“Aromatikum”). Heute wird es in der Schweiz noch zur Aromatisierung von Lebensmitteln verwendet. In Deutschland hingegen darf es seit 1981 selbst in der Lebensmittelindustrie nicht mehr eingesetzt werden. Das Verbot wurde erlassen, ohne Rücksicht darauf, dass Cumarine schon bei Untersuchungen mit verschiedenen Tierarten vollkommen unterschiedlich wirkte. Wissenschaftler stellten beispielsweise fest, dass Hunde nur geringe Cumarin-Mengen (10 Milligramm) über kurze Zeit ohne toxische Effekte vertrugen. Ratten hingegen überlebten extrem hohe Mengen (50–100 Milligramm/kg KG/Tag) Cumarin über die ganze Lebenszeit ohne Schäden überlebten. Da aus ethischen Gründen der Nachweis der Toxizität beim Menschen nie experimentell erbracht wurde, reichen solche Befunde nicht aus, um die Verwendung von Cumarin oder cumarinhaltiger Heilpflanzen für Menschen zu verbieten. Denn – eines muss klar sein: Waldmeister und andere cumarinhaltige Pflanzen sind in ihren biologischen Wirkungen nicht mit der isolierten Einzelsubstanz zu vergleichen.
Quelle: Steinegger , Ernst, Hänsel Rudolf: Lehrbuch der Pharmakognosie und Phytopharmazie, 4. vollständig überarb. Ausgabe, Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, 1988
Heilkundliche Anwendungen
Das Waldmeisterkraut hat volksheilkundlich über die Jahrhunderte ein breites Anwendungsspektrum erhalten. Madaus fasst zusammen: Lonicerius beispielsweise empfahl das Heilkraut, um die entzündete Leber oder hitzige Geschwüre zu kühlen. Waldmeister-Wickel verordnete er, um Eiterungen der Leber zu resolvieren oder die Milz zu stärken. Der Schweizer Naturarzt Albrecht von Haller setzte die Pflanze als gutes Leber- und Wundkraut ein. Osiander empfahl Waldmeisterkraut als Hustenmittel und andere als Diuretikum (“Harnausscheidung fördernde Mittel”) und Diaphoretikum (“schweißtreibendes Mittel”) bei Wassersucht (“Ödem-Bildungen”). Sebastian Kneipp ließ Waldmeistertee zur Linderung von Unterleibsschmerzen verabreichen. Weitere traditionell bekannte Anwendungen dienen der Vorbeugung und Behandlung von Erkrankungen und Beschwerden im Bereich der Atemwege, des Magen-Darm-Traktes, zur Durchblutungsförderung, “Blutreinigung”, als entzündungswidriges und gefäßerweiterndes Mittel wie z. B. bei Venenerkrankungen oder auch als Beruhigungsmittel bei Schlafstörungen und zur Förderung der Einschlafbereitschaft. [2]
Teebereitung:
2 Teelöffel (1,8 Gramm) voll getrocknetes Waldmeisterkraut werden mit 150 bis 250 Milliliter kaltem Wasser angesetzt, mehrere Stunden stehen gelassen und anschließend abgeseiht. ODER: 1 gehäufter Teelöffel voll Waldmeisterkraut mit 250 Milliliter kochendem Wasser übergießen, 5 Minuten bedeckt ziehen lassen und dann abseihen.
Dosierungshinweise: Tagsüber oder vor dem Schlafengehen eine Tasse trinken. 2–3 Tassen täglich. 1 Teelöffel = etwa 0,9 Gramm
Während Waldmeister schulmedizinisch bedeutungslos ist, wird er noch heute in der Spagyrik und Homöopathie eingesetzt. In beiden naturheilkundlichen Schulen werden jeweils die die frischen, oberirdischen Teile kurz vor dem Erblühen zur Herstellung von Heilmitteln verwendet. In der Spagyrik wird Waldmeister unter anderem zur Behandlung von vielfältigen Funktionsstörungen (zum Beispiel Herzneurose) oder Organ-Erkrankungen (zum Beispiel Haut, Herz, Leber, Gallenblase, Nieren) im Rahmen individueller Therapiekonzepte eingesetzt. In der Homöopathie ist Waldmeister ein seltenes und nicht zuletzt schlecht dokumentiertes Arzneimittel. In den einschlägigen Werken zur Arzneimittelfindung kommt es überhaupt nicht vor. Immerhin: Wer Phytotherapie mit Waldmeister betreiben wird, kann immerhin die homöopathischen Urtinkturen erwerben und verwenden (“Galium odoratum Ø”).
Alchemie und Spagyrik
Zauberhafte Waldmeisterblüten
“Darumb so lern alchimiam, die sonst spagyria heisst, die lernet das falsch scheiden vom gerechten. Also ist das licht der natur” so fasste Paracelsus die Spagyrik zusammen. Er gilt als einer der größten mittelalterlichen Alchemisten und Spagyriker. In der Alchemie wird hinsichtlich der Rohstoffverarbeitung von “löse und trenne” (lateinisch: solve et coagula) gesprochen, womit chemische Prozesse von Extraktion, Sublimation und Destillation gemeint sind. In langwierigen alchemistischen Prozessen wird “das Wesentliche” beispielsweise einer Heilpflanze in Trägersubstanzen (“Essenz” etc.) überführt und kann so als Arzneimittel eingesetzt werden. Was ist nun das Wesentliche einer Substanz? Spagyriker sehen in der eigentlichen heilenden Qualität einer Pflanze die Antwort. So wirkt nicht nur der materielle, aus Atomen oder Molekülen bestehende Pflanzenteil auf einen erkrankten Menschen. Sondern auch der eigentlich “geistige” (“energetische”) Pflanzenteil, der kranke Menschen – im richtigen Moment – zur Heilung anregen kann. Dieses Feinstofflich-Geistige – manchmal auch Seele der Pflanze genannt – wird durch die spezielle Aufbereitung (zum Beispiel Gärung) zur Essenz der Spagyriker, zur “wahren Medizin”. Im 19. Jahrhundert wurde Paracelsus’ Spagyrik wieder aufgegriffen und unter anderem von Carl Friedrich Zimpel, Cesare Mattei, Alexander von Bernus oder Rudolf Graber weiterentwickelt. Ihre speziellen Heilverfahren werden von nur wenigen Therapeuten eingesetzt.
Autorin
• Marion Kaden, natürlich leben (2006).
Quellen
[1] Teucher Erhard: Biogene Arzneimittel, Ein Lehrbuch der Pharmazeutischen Biologie. Wisschenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart. Stuttgart 2004.
[2] Madaus, Gerhard: Lehrbuch der biologischen Heilmittel. Mediamed Verlag. Ravensbruck 1987 Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1938.