Probiotika: Wie gesund sind sie wirklich

Pro­bio­ti­ka sind in aller Mun­de: Sie sind die Ren­ner im Kühl­re­gal oder Ver­kaufs­schla­ger in Tablet­ten­form. Und: Sie sind gesund. Das ver­spre­chen zumin­dest die Her­stel­ler. Was ist dran an den pro­bio­ti­schen Mobil­ma­chern für die Darmflora?

Pro­bio­ti­ka, soweit das Auge reicht

Blä­hun­gen, Völ­le­ge­fühl, Durch­fall oder Ver­stop­fung – wer kennt das nicht? Die­se häu­fig vor­kom­men­den Funk­ti­ons-Stö­run­gen kön­nen unter ande­rem mit der Darm­flo­ra zusam­men­hän­gen. Unter die­ser blu­mi­gen Bezeich­nung ver­ste­hen Fach­leu­te die Sum­me ver­schie­dens­ter Bak­te­ri­en und Pil­ze. Sie bevöl­kern den mensch­li­chen Dick­darm in für uns kaum vor­stell­ba­ren Mas­sen: “Der Dick­darm eines Erwach­se­nen ist schät­zungs­wei­se mit 100 Bil­lio­nen Bak­te­ri­en besie­delt, die aus 400 bis 600 bis­her bekann­ten Arten bestehen kön­nen”, so Dr. Micha­el Hom­bach, stell­ver­tre­ten­der Lei­ter Bak­te­rio­lo­gie des Insti­tuts für Mikro­bio­lo­gie, Uni­ver­si­tät Zürich. Der mensch­li­che Dick­darm ist Wirt für die Bak­te­ri­en, zu denen ein wech­sel­sei­ti­ges (sym­bio­ti­sches) Ver­hält­nis besteht: Der Mensch lie­fert im Dick­darm Nähr­stof­fe mit wel­chen die Bak­te­ri­en ihren Stoff­wech­sel auf­recht erhal­ten. Als Gegen­leis­tung über­neh­men sie für den Darm zum Bei­spiel den Abbau von für ihn unver­dau­li­chen Nah­rungs­be­stand­tei­len. Bak­te­ri­en pro­du­zie­ren auch kurz­ket­ti­ge Fett­säu­ren oder das Vit­amin K, wel­ches der Kör­per dann über die Darm­wän­de aufnimmt.

Stetige bakterielle Auseinandersetzung

Zwei bis drei Kilo Bak­te­ri­en trägt jeder Erwach­se­ne allein im Darm mit sich her­um. “Dabei ist die Darm­flo­ra ein dyna­mi­sches Sys­tem, das in stän­di­gem Wan­del begrif­fen ist”, so Hom­bach. “Die Zusam­men­set­zung kann sich durch Ernäh­rungs­um­stel­lung oder engem Kör­per­kon­takt mit ande­ren Men­schen ver­än­dern”. Die jeweils im Darm ansäs­si­gen Bak­te­ri­en­stäm­me kon­trol­lie­ren sich unun­ter­bro­chen gegen­sei­tig, wodurch das dyna­mi­sche Gleich­ge­wicht mit­ein­an­der erreicht wird. Und nicht nur das. Auch der Darm ist zu stän­di­ger Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­nen Bewoh­nern gezwun­gen: Zwei Drit­tel des gesam­ten mensch­li­chen Immun­sys­tems im und um den Ver­dau­ungs­trakt her­um hat nichts ande­res zu tun, die Sym­bi­on­ten unter Kon­trol­le zu hal­ten. Genannt wird es “das darm­asso­zi­ier­te Abwehr- oder Immun­sys­tem”. Es reagiert bei gesun­den Men­schen sofort auf inne­re und äuße­re Rei­ze: Sind zum Bei­spiel krank­ma­chen­de oder unbe­kann­te Bak­te­ri­en oder Erre­ger in den Dick­darm gelangt, kon­tert die­ser unter ande­rem mit Durch­fall: Mit dem Manö­ver wird Unge­woll­tes effek­tiv und vor allem zügig hin­aus­be­för­dert. Schon nach zwei bis drei Tagen ist dann der “nor­ma­le” Sta­tus von allein wie­der hergestellt.

Die Bak­­te­ri­en-Erst­­be­­sie­d­­lung des Dar­mes wird beim Neu­ge­bo­re­nen über die Mut­ter initi­iert. Im Lau­fe des Lebens kann die Besied­lung Ver­än­de­run­gen unter­lie­gen. Doch das Gros der ursprüng­li­chen Bak­te­ri­en­stäm­me ach­tet durch gegen­sei­ti­ge Kon­trol­le auf ein Gleich­ge­wicht unter­ein­an­der. Frem­de Bak­te­ri­en­stäm­me (zum Bei­spiel pro­bio­ti­sche Stäm­me oder Krank­heits­er­re­ger) wer­den bei gesun­den Men­schen nach kur­zer Aus­ein­an­der­set­zung wie­der hin­aus­kom­pli­men­tiert. Um an einer Darm­be­sied­lung erfolg­reich teil­ha­ben zu kön­nen, müs­sen Pro­bio­ti­ka folg­lich in grö­ße­ren Men­gen, regel­mä­ßig und über einen län­ge­ren Zeit­raum ein­ge­nom­men wer­den. Endet ihre Zufuhr, endet auch die Besiedlung.

Moderne Hilfsmittel

auch als Getränk zu haben

Doch so ein Durch­fall kann beun­ru­hi­gend sein – wie auch übel­rie­chen­der, wei­cher oder zu har­ter, gel­ber oder schwar­zer Stuhl. Unkennt­nis­se über die kom­pli­zier­te Darm­funk­ti­on oder fal­sche Erwar­tun­gen las­sen Men­schen dann ger­ne zu Hilfs­mit­teln grei­fen. Wegen der guten Erreich­bar­keit des Darms unter­liegt er seit jeher för­der­li­chen oder weni­ger nütz­li­chen Mani­pu­la­tio­nen: Gro­ße und klei­ne Ein­läu­fe, Abführ- oder beson­de­re Nah­rungs­mit­tel hat­ten zu allen Zei­ten Hoch­kon­junk­tur. Die moder­nen Hilfs­mit­tel heis­sen Pro­bio­ti­ka. Sie bestehen aus lebens­fä­hi­gen Mikro­or­ga­nis­men (Milch­säu­re-Bak­te­ri­en, Hefen, kul­ti­vier­te, mensch­li­che Fäkal-Bak­te­ri­en), die funk­ti­ons- und damit gesund­heits­för­dern­de Effek­te auf den Darm haben sol­len. Dazu wer­den sie län­ger und in aus­rei­chen­der Zahl über den Mund auf­ge­nom­men. Pro­bio­ti­ka sind als Zuga­be von Lebens­mit­teln, func­tion­al food, Nah­rungs­er­gän­zungs- oder Arz­nei­mit­tel zu haben.

Umstimmung

Von der Wich­tig­keit des Ein­sat­zes pro­bio­ti­scher Mit­tel ist Karl-Heinz Rudat über­zeugt. Der Heil­prak­ti­ker aus Ortenburg/​Deutschland ver­wen­det Pro­bio­ti­ka, um eine Umstim­mung im natur­heil­kund­li­chen Sin­ne vor­zu­neh­men: Sie üben einen sti­mu­lie­ren­den Reiz auf die Selbst­hei­lungs­kräf­te des Darms aus und damit auf den gan­zen Orga­nis­mus. Die­ser kann sich dann, einem Neu­start gleich, neu aus­rich­ten. Rudat beob­ach­tet, dass bis zu 70 Pro­zent der Frau­en von funk­tio­nel­len Darm­stö­run­gen betrof­fen sind. Sei­ne Erklä­rung für die­ses Phä­no­men: Moder­ne Frau­en füh­len sich oft mehr­fach durch Beruf, Fami­lie und Bezie­hung belas­tet. “Stress, nerv­li­che Belas­tun­gen – von denen natür­lich auch Män­ner betrof­fen sein kön­nen – schla­gen nicht nur auf die See­le, son­dern auch auf den Darm.” so Rudat. Sei­ner Ansicht nach, füh­ren anhal­ten­de ner­vö­se Span­nungs­zu­stän­de zu einer Ver­kramp­fung der Darm­mus­ku­la­tur und schließ­lich zu ver­rin­ger­ten Darm­be­we­gun­gen. Die häu­fig auf­tre­ten­den Darm­be­schwer­den sieht der Heil­prak­ti­ker eben­falls in der moder­nen Lebens­wei­se begrün­det: All­tags­stress, über­mä­ßi­ger Kon­sum von Kaf­fee, Ziga­ret­ten, Alko­hol oder zu häu­fi­ge Ver­wen­dung von raf­fi­nier­tem Indus­trie­zu­cker wir­ken sich lang­fris­tig schäd­lich aus. “Der Kör­per über­säu­ert”, erklärt Rudat. Doch nicht nur funk­tio­nel­le Darm­be­schwer­den kön­nen Fol­ge sein, son­dern auch Müdig­keit, dif­fu­se Gelenks­schmer­zen oder depres­si­ve Ver­stim­mun­gen, berich­tet der Heil­prak­ti­ker. Im Fokus der Behand­lung ste­hen Mög­lich­kei­ten eines Lebens­wan­dels: “Oft­mals reicht es aus, die Pati­en­tin­nen an ihre eige­nen Rhyth­men zu erin­nern”. Auch ord­nungs­the­ra­peu­ti­sche Maß­nah­men wie aus­rei­chen­der Schlaf, Bewe­gung, maß­vol­le Ernäh­rung (zum Bei­spiel der pha­sen­wei­se Ver­zicht von Genuss­mit­teln) kön­nen dazu gehö­ren. Manch­mal kom­men aller­dings beson­ders ner­vös-gestress­te Men­schen in die Pra­xis. “Sie bekla­gen, noch nicht ein­mal Zeit für den regu­lä­ren Toi­let­ten­gang zu fin­den”, erzählt Rudat. Dass sich ein der­ar­tig gestress­ter Orga­nis­mus nicht zu einem bestimm­ten Zeit­punkt eine erwar­te­te Stuhl­men­ge abrin­gen lässt, soll­te für jeden Men­schen nach­voll­zieh­bar sein – meint Rudat.

“Ist der Mensch gesund, ist es der Darm auch”. So lau­ten gern ver­brei­te­te Glau­bens­sät­ze. Genau­so kur­sie­ren Vor­stel­lun­gen vom “per­fek­ten Stuhl”. Der darf nicht zu hart, nicht zu weich sein, und stin­ken darf er eben­falls nicht. Aus wis­sen­schaft­li­cher Sicht sind der­ar­ti­ge Ansich­ten unsin­nig. Denn im Darm fin­den bak­te­ri­el­le Zer­set­zungs­pro­zes­se statt, die auch stin­ken kön­nen. Mehr oder weni­ger – je nach kör­per­li­cher Ver­fas­sung oder Nah­rungs­auf­nah­me. Die Stuhl­kon­sis­tenz unter­liegt eben­falls viel­fäl­ti­gen Ein­flü­ßen: Flüs­sig­keits­zu­fuhr, Nah­rungs­zu­sam­men­set­zung kön­nen Far­be, Kon­sis­tenz und Geruch beein­flus­sen. Auch die Stuhl­häu­fig­keit kann von Mensch zu Mensch stark vari­ie­ren: Täg­li­che, zwei- bis drei­ma­li­ge oder sogar ein­mal wöchent­li­che Stuhl­ent­lee­rung ist nor­mal. Nur stär­ke­re, anhal­ten­de Schwan­kun­gen soll­ten vom Arzt über­prüft wer­den: Dazu gehört wäss­ri­ger Durch­fall oder “unnor­mal” hart erschei­nen­der Stuhl über einen län­ge­ren Zeitraum.

Verschiedene Probiotika

Die­sen Pati­en­ten emp­fiehlt er eine Ernäh­rungs­um­stel­lung: Die Ver­mei­dung von Hül­sen­früch­ten oder schar­fen Gewür­zen ist sinn­voll, genau­so wie die Ver­ban­nung säu­re­bil­den­der Nah­rungs­mit­tel (Zucker, Frucht­säf­te) oder Zitrus­früch­te vom Spei­se­plan. “Nütz­lich ist auch, die Essens­pha­sen den natür­li­chen Arbeits­rhyth­men des Darms anzu­pas­sen”, so Rudat. “Denn die­ser arbei­tet bei Nacht­ru­he weni­ger”. Der Heil­prak­ti­ker emp­fiehlt zur Beru­hi­gung des Ner­ven­kos­tüms heil­pflanz­li­che Beru­hi­gungs­mit­tel (Johan­nis­kraut­prä­pa­ra­te, ‑Tees) und Pro­bio­ti­ka, um die gestör­te Darm­flo­ra umzu­stim­men. “Die Pro­dukt­pa­let­te ist breit gefä­chert”, so Rudat. Je nach Vor­lie­ben sind kul­ti­vier­te pro­bio­ti­sche Bak­te­ri­en­stäm­me (Bac­to­San® pro FOS, bio­tan) oder Mol­ke­pro­duk­te (Mol­ko­san©, Bio­f­orce) ein­setz­bar. Rudat emp­fiehlt eine Beschrän­kung der Behand­lung auf etwa 10–12 Wochen, “in die­ser Zeit neh­men die zuge­führ­ten Bak­te­ri­en eine bak­te­ri­el­le Akti­vie­rung des Dünn­darms vor, die sich als ver­bes­ser­te Darm­be­we­gung im Dick­darm aus­wirkt”, erklärt Rudat.

Körpereigene Antibiotika

Dem gene­rel­len Ein­satz von Pro­bio­ti­ka bei der brei­ten Bevöl­ke­rung kann Prof. Dr. Edu­ard Stan­ge, Robert Bosch Kran­ken­haus, Stutt­gart, nichts abge­win­nen: “Es ist nicht gesi­chert, dass gesun­de Men­schen durch den Kon­sum von Pro­bio­ti­ka weni­ger krank wer­den”, kri­ti­siert Stan­ge. “Für Erkrank­te mit Ent­zün­dun­gen an der Bauch­spei­chel­drü­se ist die Ein­nah­me von Pro­bio­ti­ka sogar lebens­be­droh­lich”. Auch eine ‚kran­ke’ Darm­flo­ra gibt es für den Gas­tro­en­te­ro­lo­gen nicht. “Bei älte­ren Men­schen kön­nen aller­dings Fäl­le bak­te­ri­el­ler Fehl­be­sied­lung auf­tre­ten”, so Stan­ge. “Dann wan­dern Bak­te­ri­en vom Dick- in den Dünn­darm. Doch als ein­zi­ge Maß­nah­me ist dabei die Behand­lung mit Anti­bio­ti­ka ange­zeigt”. Wis­sen­schaft­lich inter­es­sant sind für den Gas­tro­en­te­ro­lo­gen nur soge­nann­te Defen­si­ne. “Das sind von der kör­per­ei­gen Haut oder Schleim­häu­ten gebil­de­te Eiweis­se, die ande­re Bak­te­ri­en in Schach hal­ten kön­nen”, erklärt Stan­ge. Defen­si­ne wer­den bei Ein­nah­me des Bak­te­ri­en­stam­mes Esche­ri­chia coli Niss­le ver­stärkt gebil­det und sind bei der Coli­tis ulce­ro­sa, einer chro­nisch ent­zünd­li­chen Darm­er­kran­kung, gesi­chert in der Erhal­tung der Ruhe­pha­se wirk­sam. “Frü­her wur­de ange­nom­men, dass es sich bei der Erkran­kung um über­schie­ßen­de Reak­tio­nen des Dar­mes han­delt. Heu­te hin­ge­gen wird davon aus­ge­gan­gen, dass die Darm­bar­rie­re zwi­schen Darm- und Kör­per­in­ne­rem nicht rich­tig funk­tio­niert”, sagt Stange.

Zukünftig strengere Regelungen

Als Mikro­bio­lo­ge distan­ziert sich Hom­bach von allen Erklä­rungs­ver­su­chen. “Wir wis­sen tat­säch­lich noch sehr wenig”, sagt er und fügt hin­zu: “Zuge­ge­ben, vie­le Behand­lun­gen lau­fen unter dem Mot­to ‚Wer heilt, hat Recht’”. Doch er ver­weist dar­auf, dass alle der­zei­ti­gen Theo­rien zu den Wir­kun­gen von Pro­bio­ti­ka nur auf Annah­men basie­ren. “Die Bewei­se ste­hen noch aus”, sagt der Mikro­bio­lo­ge. Er ist jedoch zuver­sicht­lich. Denn in den letz­ten Jah­ren hat sich mit den Hilfs­mit­teln der Genom­for­schung die soge­nann­te gene­ti­sche Mikro­bi­om-Ana­ly­se ent­wi­ckelt. “Sie eröff­net ein neu­es For­schungs­feld und wird zukünf­tig sicher­lich neue Erkennt­nis­se brin­gen”, schätzt Hom­bach. Froh ist der Wis­sen­schaft­ler über die Ein­füh­rung stren­ge­rer Richt­li­ni­en zumin­dest auf EU-Ebe­ne: Seit 2007 bestehen für Lebens­mit­tel- oder Nah­rungs­er­gän­zungs­mit­tel-Her­stel­ler höhe­re wis­sen­schaft­li­che Auf­la­gen: Sie müs­sen Wirk­sam­keits­nach­wei­se vor­le­gen, wenn sie werb­li­che Gesund­heits-Aus­sa­gen (z. B. ‚gut für die Abwehr,) ver­wen­den wol­len. “Die­se Art von Ver­brau­cher­schutz könn­te hel­fen”, meint Hom­bach. Gegen­wär­tig hakt es jedoch bei der Umset­zung. Die euro­päi­sche Health Claims-Ver­ord­nung hat – neben vie­len, von Her­stel­lern ange­streng­ten Gerichts­ver­fah­ren gegen die EU – wesent­li­che Pro­ble­me gezeigt: Zum Bei­spiel sind Lebens­mit­tel und Nah­rungs­er­gän­zungs­mit­tel kei­ne Arz­nei­mit­tel, wes­we­gen die begut­ach­ten­de Behör­de EFSA (Euro­päi­sche Behör­de für Lebens­mit­tel­si­cher­heit) in Par­ma der­zeit kei­ne wei­te­re Ent­schei­dun­gen mehr trifft (für Arz­nei­mit­tel sind ande­re Zulas­sung­stel­len ver­ant­wort­lich). Und des­halb wer­ben Unter­neh­men ein­fach weiter…

Autorin
• Mari­on Kaden, natür­lich leben (2011).

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