Weissdorn hat eine lange phythotherapeutische Geschichte. Seine heute im Vordergrund stehenden herzstärkenden Fähigkeiten wurden jedoch erst im 19. Jahrhundert durch homöopathische Arzneimittel-Prüfungen bekannt. Seither wurde Weissdorn (Crataegus oxyacantha) ein wichtiges pflanzliches Herztherapeutikum.
Weissdorn-Blüten
Weissdorn (Crataegus spec.) – der Name verrät vieles: Der zwei bis vier Meter hochwachsende, lichte Strauch oder Baum blüht von Mai bis Juni in prachtvollem, üppigen Weiss – seine Zweige sind mit spitzen Dornen bewehrt. Der Strauch ist noch unter weiteren Namen bekannt, die oft regional geprägt sind, wie z. B. Heckendorn, Hagäpfli oder Hagedorn. Hag ist ein althochdeutsches Wort und bedeutet Umzäunung, Hecke, Gehege. Es weist auf die Verwendung des Weissdorns in früheren Jahrhunderten hin: Weissdorn-Sträucher wurden wegen seiner Dornen gerne zum Schutz rund um Gehöfte angepflanzt. Hieraus bildeten sich zehn Jahre nach ihrer Anpflanzung undurchdringliche, lebendige Hecken, wie im ‚Pierer’s Universal-Lexikon’ von 1857 nachzulesen ist. Praktisch war für die Besitzer auch die mannigfaltige Eignung des Strauches: Aus seinem ungewöhnlich harten Holz (Crataegus, griechisch krataiós =fest, stark) wurden Hammer, Beilstile, Dreschflegel, Drillinge, Kämme, Räder für Getriebe oder Spazierstöcke gefertigt. Das harte Holz verbrannte unter starker Hitze und war deshalb auch gutes Brennholz. Zu den weiteren Verwendungsmöglichkeiten heisst es bei Pierer’ s: “Mit den Früchten kann man Schweine mästen, daraus auch ein bierähnliches Getränk bereiten u. Branntwein brennen. Die Rinde der Wurzeln färbt gelb.” [1]
Vom Allheil- zum Herzmittel
Auch arzneilich wurde Weissdorn genutzt. Erste schriftliche Angaben zu Weissdorn lassen sich bei Petrus de Crescentiis (1233–1321) finden, der die Blüten gegen Gicht empfahl oder Hieronimus Bock (1498–1554) in dessen “New Kreütter Buch” Weissdornfrüchte als Mittel gegen Durchfall oder Fluss der Frauen beschrieben werden. Otto Brunfels (1488 bis 1534) stellte in seinem “Contrafayt Kreuterbuch” den Hagedorn als Mittel gegen nervöse Beschwerden und Ängste vor. Und in Samuel Hahnemanns (1755–1843) Apothekenlexikon, in welchem das pharmazeutische Wissen seiner Zeit zusammengetragen ist, wird über Weissdorn berichtet: “… ein in Zäunen sehr häufiger Strauch, der im Mai weiße Blumen trägt, welche, getrocknet, widrig riechen und von den Alten im destillirten Wasser gegen Seitenstich, noch jetzt aber in der Schweitz im Aufgusse wider den Keichhusten und in andern Brustkrankheiten als Hausmittel gebraucht worden sind. Seine im September reifenden, rothen, schleimicht süßlichten Beeren scheinen nichts arzneiliches zu enthalten, obgleich die Alten eine Harn und Nierengrieß treibende Kraft darin suchten. [2] Im 19. Jahrhundert wurde Weissdorn durch den irischen Arzt Thomas Green als homöopathisches Mittel gegen verschiedene Herzleiden bekannt gemacht. Etwa Krankheitszusammenhänge in der Volksmedizin über Jahrhunderte bekannt, beispielsweise abschwellende oder leistungsstärkende Effekte. Obwohl Weissdorn lange medizinal verwendet wurde, ist seine heutige Hauptwirkung erst vergleichsweise kurz bekannt. Die Frage ist, warum? zeitgleich untersuchten die Amerikaner Jennings und Clement die phytotherapeutischen Effekte des Weissdorn bei Angina Pectoris und veröffentlichten 1889 ihre Erkenntnisse im New York Medical Journal.[3] Erst seit diesem Zeitpunkt gilt Weissdorn als wirksames Herztherapeutikum. Heute ist die Pflanze neben dem Fingerhut das wichtigste phytotherapeutische Arzneimittel. Warum diese wichtige Indikation des Weissdorn erst so spät entdeckt wurde, ist ein kleines medizinhistorisches Rätsel. Normalerweise – wie am Beispiel des Fingerhut (Digitalis purpurea) belegbar – waren symptomatische Wirkungen von Phytotherapeutika auch bei fehlender Kenntnis der genaueren Krankheitszusammenhänge in der Volksmedizin über Jahrhunderte bekannt, beispielsweise abschwellende oder leistungsstärkende Effekte. Obwohl Weissdorn lange medizinal verwendet wurde, ist seine heutige Hauptwirkung erst vergleichsweise kurz bekannt. Die Frage ist, warum?
Im Wandel der medizinischen Konzepte
Weissdorn-Früchte: Können auch zu Marmelade und Chutney verarbeitet werden
Eine eindeutige Antwort gibt es in keinem der modernen phytotherapeutischen Werke. Klar ist jedoch, dass Herzerkrankungen, wie wir sie heute verstehen, früher unbekannt waren. Zwar beschrieben Ägypter schon vor Jahrtausenden genau einen Herzanfall. Ihre Erklärung, “dass etwas in den Mund gefahren ist, was dir nun den Tod bringt”, zeigt jedoch grundlegend andere Krankheitskonzepte als heute. Erst im 17. Jahrhundert entstanden Ansätze zur “Kardiologie”. Die Grundsteine legten William Harvey (1578–1675), der mit seinem De motu cordis 1628 die ersten medizinischen Vorstellungen zur Herzfunktion entwickelte. 1669 brachte Richard Lower die erste Abhandlung über das Herz das Tractatus de corde heraus. Sie entstand einundvierzig Jahre nach der Entdeckung des grossen Blutkreislaufs und der biomechanischen Funktion des Herzens. [4] Diese neuen medizinischen Konzepte änderten die Therapie von Herzkrankheiten: Standen vorher Geisteraustreibung, Beschwörungen oder die Therapievorschläge von Hippokrates oder Galen über viele Jahrhunderte im Vordergrund, wurden nun den neuen Erkenntnissen folgende Therapien entwickelt. Wichtig bei der neuen Krankheitsentität “Herz-Schwäche” wurde nun die “Stärkung des Herzens”. Und hier spielen ab dem 19. Jahrhundert Fingerhut und Weissdorn eine wichtige Rolle.
Breit angelegtes Wirkungsspektrum
Wie schon beschrieben, führten die Homöopathen den Weissdorn erstmals als Herzmittel ein, weil ihnen bei der homöopathietypischen Arzneimittelsuche (systematische Durchtestung möglicher Wirkstoffe) die spezifischen Herz-Kreislaufwirkungen auffielen. Heute gilt es – vor allem in der Phytotherapie – als universelles Herzmittel zur Behandlung funktioneller und organischer Herzkrankheiten. Auf dem Markt werden Präparate (homöpathische Urtinkturen, Kombinationspräparate) bestehend aus den Weissdornblättern mit Blüten (Crataegi folium cum flores) aus Crataegus monogyna und C. laevigata verwandt, wie es von der European Scientific Coöperative On Phytotherapie (ESCOP), einem Zusammenschluss nationaler Fachgesellschaften für Phytotherapie, empfohlen wird. Crataegus ist eines der gut untersuchten Pflanzenheilmittel und wird wegen seines breiten Wirkspektrums geschätzt. Obwohl die Forschungen noch längst nicht abgeschlossen sind, belegen zahlreiche aktuelle Studien die nachfolgenden Hauptwirkungen von Crataegus-Extrakten auf Herz und Kreislauf:
- Steigerung der Kontraktionskraft und der Anzahl pro Minute möglicher Herzschläge
- die Impuls-Übertragung von den taktgebenden Nervenknoten im Herzen zu den Herzmuskelzellen wird verbessert
- die Impuls-Entstehung und ‑Weiterleitung wird weniger störanfällig
- ein Sauerstoffmangel von Herzgewebe (z. B. bei einer Angina pectoris) führt weniger rasch zu Funktionsstörungen des Organs
- eine Senkung des arteriellen Gefässwiderstandes sowohl im Herz als auch im Körper
Alle diese Herzkreislauf-Wirkungen tragen zur Erhöhung der Leistungskraft des Herzens (wichtig bei Herzschwäche), zur Verbesserung seiner eigenen Durchblutung (wichtig bei der Herzenge) oder zur Blutdrucksenkung bei. Zudem sollen auch Störungen der Herzfunktion gebessert werden (seien sie objektivierbar wie bei Herzrhythmusstörungen oder nur subjektiv belastend wie z. B. bei nervösen Herzbeschwerden, siehe Teerezept). Anwendungsgebiete sind demzufolge nachlassende Leistungsfähigkeit des Herzens (“Altersherz”), leichtere Formen der Herzschwäche (“Herzinsuffizienz”), Therapieergänzung bei Herzenge (“Angina pectoris”) oder anderen Formen der koronaren Herz-Krankheit (“KHK”). Ebenfalls untersuchte Effekte wie beispielsweise Schutz vor Gelenkknorpel-Schäden oder Arterienverkalkung treten bei den Herzkreislauf-Anwendungen vollständig in den Hintergrund.
Weissdorn-Tee bei nervösen Herzbeschwerden.
Typische Beschwerden sind spürbares heftiges Herzklopfen, Herzjagen, Herzstolpern, Herzstechen, Angst- und Engegefühl in der Brust oder manchmal auch Klossgefühl im Hals. Zur Herzstärkung oder bei nervösen Herzbeschwerden von ansonsten gesunden Menschen setzen naturheilkundliche Ärzte oder Heilpraktiker oftmals Weissdorn (Crataegus oxyacantha) ein. Die Anwendung ist einfach, beispielsweise als Tee aus Blättern und Blüten: 2 Teelöffel der Mischung mit 250 ml heißem Wasser übergießen, bedeckt ziehen lassen, nach 20 Minuten abseihen und dann heiß trinken (1–3mal täglich). Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind nicht bekannt, Weissdorn kann auch in Haustee-Mischungen verwendet werden. Über längere Zeit anhaltende nervöse Herzbeschwerden sollten grundsätzlich Anlass für einen Arztbesuch sein.
Neueste Forschungen
Ausschnitt: Weissdorn-Früchte
Die meisten neueren Forschungen beschäftigen sich wie erwähnt vor allem mit den Wirkungen auf Herz und Kreislauf – bis auf einige Ausnahmen: Japanische Forscher untersuchten beispielsweise 2005 die anti-entzündlichen Wirkungen von Weissdorn-Früchten. Diese führten bei chronisch entzündlicher Darmerkrankung (Colitis ulcerosa/Morbus Crohn im Tiermodell) zu einer deutlichen Besserung typischer Symptome wie Durchfall, Darmblutungen oder Gewichtsverlust im Vergleich zu unbehandelten Tieren. Weißdornfrüchte könnten, so die Forscher, zu einem innovativen Therapeutikum bei den überaus häufigen chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen werden (deren Ursache unbekannt ist und bei denen es nach wie vor keine spezifische Therapie gibt. [5]
Weissdorn in der Schweiz
Crataegus laevigata (POIRET) D.C., Zweigriffeliger Weissdorn, Aubépine épineuse, Epine blanche , Biancospino selvatico: Bis 4 Meter hoher Strauch mit Dornen. Blätter bis ca. 1/3 tief 3–5 lappig, mit schmalen Einschnitten, beidseits fast gleichfarbig. Blattnerven einwärts gebogen. Abschnitte breit gerundet, mit kurzen Zähnen. Blütenstiele kahl. Blüten weiss, selten rosa. Griffel 2–3. Frucht rot, kugelig bis eiförmig, mit 2–3 Steinkernen, Durchmesser 8–20 Millimeter. Crataegus monógyna JACQ., Eingriffeliger Weissdorn, Aubépine à un style, Epine blanche, Biancospino comune: Bis 4 Meter hoher Strauch mit Dornen. Blätter bis weit über die Mitte 3–5 teilig, mit abstehenden, vorn gezähnten, an den Seiten ganzrandigen Abschnitten, unterseits weisslich-grün. Blattnerven nach aussen gebogen. Blütenstiele behaart. Blüten weiss, selten rose, mit nur einem Griffel. Frucht rot, kugelig bis eiförmig, meist mit nur einem Steinkern, Durchmesser 6–10 Millimeter.
Quelle: Lauber Konrad, Wagner Gerhard: Flora Helvetica, Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart, Wien, 2. Auflage 1998, S. 558
Nahrungsquelle und Lebensraum
Weissdorn-Blütenfülle in Hecken, wichtig für Insekten und Kleinstlebewesen
Der Weissdorn gehört zur Familie der Rosengewächse (Rosaceae) und ist mit etwa 200 Arten weltweit in den gemässigten Klimazonen der Nordhalbkugel vertreten. In der Schweiz kommen die Arten Crataegus Laevigata und Crataegus monogyna am häufigsten vor. Die beiden Arten bastardisieren gerne, so dass eine sichere Bestimmung für Laien manchmal schwierig ist. Weissdornbüsche haben für die Tierwelt eine grosse Bedeutung. Eine Vielzahl von Insekten, Singvögeln und Kleintieren leben in, auf oder von den Sträuchern. Die weissblühende Pracht im Frühjahr sieht zwar schön aus, ist der menschlichen Nase nicht besonders angenehm: Der Geruch wird als faulig und fischartig empfunden und ist durch den hohen Amingehalt bedingt. Insekten hingegen fliegen geradezu auf Weissdornblüten. Der BUND zählte beispielsweise über 100 Schmetterlingsarten, die Weissdornsträucher als Lebensraum oder Nahrungsquelle nutzen. Auch für zahlreiche Vögelarten ist das dornige Geäst ideal: Dorngrasmücke, Hänfling, Neuntöter, Raubwürger oder Drosseln finden dort optimale Nistbedingungen oder Schutz. Im Herbst locken Weissdornsträucher wiederum mit ihren weithin rot leuchtenden Früchten sowohl Tiere als auch Menschen an. Während sie Vögeln als Nahrungsquelle dienen, finden Menschen für die “Äpfelis” mehr Verwendung: Früher wurden die Früchte in Notzeiten zu Mehl verarbeitet oder aus den getrockneten Kernen ein Kaffeersatz geröstet. Heute erleben Rezepte mit Weissdornfrüchten eine Renaissance und werden zu Wildfruchtmarmeladen, Saft oder Sirup verarbeitet. Der Geschmack ist sehr speziell, denn die mehligen Früchte haben einen säuerlich herben Geschmack. Deshalb werden sie auch gerne mit anderen Früchten zusammen, wie z.B. Quitten zu besonderen Gelees verarbeitet.
Autorin
• Marion Kaden, natürlich leben (2007).
Quellen
[1] Pierer’s Universal-Lexikon, S. 247285,(vgl. Pierer Bd. 19, S. 61https://www.digitale-bibliothek.de/band115.htm
[2] Samuel Hahnemann: Apothekerlexikon. DB Spezial: Samuel Hahnemann: Gesammelte Werke, S. 19984. [1]
[3] https://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/medizin/alexander-andreas/PDF/Alexander.pdf
[4] Roger Ruiliére: Die Kardiologie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, aus: Illustrierte Geschichte der Medizin, S. 2146.
[5] Fujisawa M, Oguchi K, Yamaura T, Suzuki M, Cyong JC: Protective effect of hawthorn fruit on murine experimental colitis. Am J Chin Med. 2005;33(2):167–80.