Pressebericht / Interview vom 9. November 2011 vom 4. Europäischen Kongress für Integrative Medizin (ECIM), Berlin, Oktober 2011.
Obwohl der Begriff „Integrative Medizin“ (IM) schon seit knapp 20 Jahren existiert und sich ausbreitet, ringt die medizinische Fachwelt bis heute um eine einheitliche Definition, stellte Prof. Dr. Benno Brinkhaus, Kongresspräsident des diesjährigen „4. Europäischen Kongresses für Integrative Medizin“ (ECIM) bei der Eröffnung der international besuchten Veranstaltung fest. In seinem Vortrag machte er deutlich, dass dies nicht Ausdruck von Unvermögen ist, sondern die Dynamik dieser neuen Medizin wiedergibt, die in Deutschland vielerorts noch in den Kinderschuhen steckt und die Medizin der Zukunft gravierend verändern könnte. In den USA hingegen ist die Integrative Medizin bereits fest in der Patientenversorgung verankert, wie einer der renommiertesten Vertreter der Integrativen Onkologie, Prof. Dr. med. Gary Deng, New York, in einem Interview feststellte.
Schon der Vater der modernen Psychosomatik, Thure von Uexküll (1908–2004), versuchte das moderne Bild des Menschen als einer biochemischen Maschine in seiner „Integrierten Medizin“ zu überwinden. Ähnliches wurde, aber aus der Komplementärmedizin (englisch Complementary and Alternative Medicine, CAM) stammend, mit der Idee der „Integrativen Medizin“ versucht. Doch alleine die Forderung nach „Ganzheitlichkeit“ oder nach „Integration von evidenzbasierten CAM-Verfahren in die breite medizinische Versorgungswirklichkeit“ erwies sich als unbefriedigend. Denn trotz überzeugender Hinweise, dass beispielsweise Prävention als integraler Bestandteil der IM erfolgreich und unverzichtbar ist, behindert eine oft klassische Rollenverteilung zwischen Patienten und Ärzten die Umsetzung entsprechender Konzepte. Mittlerweile ist klar, dass Integrative Medizin eine Medizin auf Augenhöhe ist, bei der Ärzte ihren Patienten jenseits der körperorientierten Medizin zusätzliche – komplementäre – Handlungsoptionen für ihren Umgang mit Gesundheit und Krankheit aufzeigen. Dies erfordert, so Brinkhaus, von Patienten unter anderem ein deutliches Mehr an Selbstverantwortung oder Eigenbeteiligung und von den Ärzten, weiteren Therapeuten oder Pflegekräften unter anderem eine verstärkte empathische Zuwendung zu ihren Patienten. Integrative Medizin ist somit keine neue Mischung bestehender Methoden, sondern beschreibt fundamentale Änderungen unter anderem auch des individuellen Patienten-Arzt-Verhältnisses. Mit Menschlichkeit die moderne Hochleistungsmedizin zu befruchten, als Arzt „die Kunst des Heilens“ auszuüben, so Brinkhaus, bedeutet eine große Herausforderung für die Medizin insgesamt.
Integrative Krebsmedizin in den USA kein Wunschtraum mehr
Der Komplementärmediziner Deng, Präsident der US-Gesellschaft für Integrative Onkologie, arbeitet und forscht am Memorial Sloan Kettering Cancer Center (MSKCC) in New York, nach US-Einschätzung die zweitrenommierteste Krebsklinik der Welt. In seinem Grundsatzreferat stellte er die rasante Entwicklung der Integrativen Onkologie in den USA dar, die auch neue Chancen für die ganzheitliche Nachsorge umfasst. Besonders bemerkenswert ist, so Deng, dass die staatliche Forschungsförderung der USA primär an den vitalen und eindeutigen Patienteninteressen ausgerichtet ist – auch hinsichtlich der komplementären und alternativen Medizin. Dies zeigt sich nicht zuletzt an staatlichen Forschungsaufwendungen von mehr als 250 Millionen US-$ pro Jahr in diesem Bereich (vor allem erbracht über das National Center for Complementary and Alternative Medicine – NCCAM und das National Cancer Institute – NCI). Die Aufwendungen der deutschen Bundesregierung in dem gleichen Forschungsbereich erreichen gerade mal ein Tausendstel dieser Summe. Große und für Patientenversorgung und Forschung gleichermaßen wichtige Einrichtungen wie die 1999 in Essen etablierte „Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin“ (Direktor Prof. Dr. med. Gustav J. Dobos) sind in Deutschland noch selten. Während die Integrative Onkologie in den USA also zu einem real existierenden Element der onkologischen Versorgung geworden ist, bleibt sie in Deutschland oft nur ein Wunschtraum. Wir sprachen über dieses Thema mit Prof. Dr. med. Gary Deng vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center (MSKCC), New York.
? Dr. Deng, Ein häufiges Argument für den hohen Bedarf an Integrativer Onkologie sehen deren Vertreter in der Vielzahl unerwünschter Wirkungen von Krebstherapien wie zum Beispiel der Radio- oder Chemotherapie. Sehen Sie das auch so?
Deng Eine Vielzahl von Studien aus den USA, Europa, Asien und Ozeanien haben gezeigt, dass Komplementärmedizin („complementary and alternative medicine“, CAM) häufig in der Krebsmedizin eingesetzt wird. Da Krebs eine Erkrankung mit schlechter Prognose ist, möchten viele Krebspatienten sämtliche Therapieoptionen ausschöpfen; auch jene, die nicht Teil der Mainstream-Medizin des Westens sind. Einige dieser unkonventionellen Therapien werden als „Alternativtherapien“ beworben, obwohl bis heute keinerlei wissenschaftliche Evidenz zur Wirksamkeit vorliegt. Wir raten unseren Patienten von solchen Maßnahmen ab. Für andere CAM-Methoden konnte jedoch gezeigt werden, dass sie sicher sind und – mit ausreichender wissenschaftlicher Evidenz – deutliche Vorteile für die Patienten haben. Meistens indem sie Nebenwirkungen von Krebstherapien verringern, aber auch indem sie die Lebensqualität der Patienten verbessern (sowohl körperlich als auch emotional). Wir versuchen, diese Therapien in den gesamten onkologischen Behandlungsplan unserer Klinik zu integrieren – dies eben ist die Herangehensweise der „Integrativen Onkologie“.
Herkunft eines Verfahrens ist irrelevant, wichtig ist die Wirksamkeit
? In den USA gibt es ein breites Spektrum komplementärmedizinischer Verfahren – aus Europa, aus indigenen traditionellen Quellen Nordamerikas sowie von vielen anderen Völkern und Kulturen. Hat die vergleichsweise geringe Bedeutung bestimmter Verfahren in der Onkologie, zum Beispiel die Phytotherapie, vielleicht mit ihrer Zugehörigkeit zu einem Kulturkreis zu tun?
Deng Nein. Ich glaube, die Herkunft eines Behandlungsverfahrens ist nicht relevant für seine Wirksamkeit. So gibt es viele Beispiele sowohl für wirksame als auch für unwirksame pflanzliche Arzneimittel. Man sollte auch nicht vergessen, dass die meisten, wenn nicht sogar alle, pharmakologischen Wirkstoffe (ob natürlicher Herkunft oder nicht) Krebs nicht heilen können, zumindest nicht, wenn es zu Metastasen gekommen ist. Für uns als Ärzte ist allein der Nachweis der Wirksamkeit entscheidend, nicht die geographische oder kulturelle Herkunft einer Therapie.
? Kritiker behaupten, die Integrative Onkologie ist ein Feigenblatt der modernen Krebstherapie. Beispielsweise nehmen im gleichen Maße wie wissenschaftliche Publikationen zu gezielten Therapien auch die Veröffentlichungen zu Integrativer Medizin zu. Wie erklärt sich das?
Deng Ich glaube, das ist eine Koinzidenz. Gezielte Krebstherapie und Integrative Medizin sind zwei völlig unterschiedliche Konzepte. Gezielte Therapien sind in ihren Effekten sehr spezifisch, in dem sie gegen bestimmte Krebsentitäten, zum Beispiel mit gemeinsamen Mutationen, gerichtet sind. Dies ist ein äußerst reduktionistischer Ansatz. Integrative Medizin hingegen fokussiert auf den Patienten als gesamtes menschliches Wesen. Und versucht deren Wohlbefinden auf allen Ebenen des Seins – Körper, Seele und Geist – zu verbessern. Es ist ein holistischer Ansatz der Gesundheit.
Was erwarten Patienten von Integrativer Onkologie?
? Neue gezielte Therapien haben manche Krebserkrankungen von einer tödlichen Krankheit zu einer chronischer Krankheit werden lassen, wobei die Nebenwirkungen oftmals weitaus geringer sind als die der klassischen Krebstherapien. Warum scheint Komplementärmedizin für Krebspatienten trotzdem immer wichtiger zu sein?
Deng Kurz gesagt deswegen, weil erfolgreiche Krebs-Behandlung mehr ist als einfach nur die Schrumpfung eines Tumors. Schließlich sind Patienten menschliche Wesen, die auch körperliche, emotionale und spirituelle Bedürfnisse haben. Integrative Onkologie versucht diese Bedürfnisse mit in die Behandlung einzubeziehen. Und sie gibt Patienten Werkzeuge an die Hand, sich besser um sich selbst kümmern zu können. Dabei erfahren sie ein Gefühl von Autonomie und Selbstbestimmung („empowerment“), weshalb dieser Ansatz einer ganzheitlichen Krebstherapie so populär ist.
? Aus heutiger Sicht sind viele Krebserkrankungen systemische Krankheiten, von denen eine zunehmende Zahl mit modernen Krebstherapien kontrolliert werden kann. Heilung wird dabei oft gleichgesetzt mit „Progressions-Verlangsamung“ oder „Remissions-Verlängerung“. Hilft Integrative Onkologie dabei, das implizite Ziel der Onkologie – die Kuration des Leidens – zu erreichen?
Deng Nein, wohl kaum! Auch die Integrativen Onkologie kann nicht aus medizinischer Behandlung und angemessener Pflege körperliche „Heilung“ werden lassen („not … turning care to cure“). Im Gegenteil: Das Ziel der Integrativen Medizin ist es, Menschen zu der bestmöglichen Lebensqualität zu verhelfen – trotz der prinzipiellen Unheilbarkeit von Krebs.
? Der modernen Onkologie wird vorgeworfen, dass viele therapeutische Errungenschaften verloren gehen, weil wir unseren Krebspatienten keine nachhaltige, vielleicht lebenslange medizinische, psychologische oder soziale Nachbetreuung zukommen lassen.
Deng Ja, das ist völlig richtig. Gerade als Health Professionals sollten wir unseren Blickwinkel nicht darauf einengen, Krebsbehandlung bestünde nur aus Tumorverkleinerung oder der Entfernung von Krebszellen aus dem Körper des Patienten. Und dass wir unseren Job getan hätten, wenn der Krebs dann (erst mal) „weg“ ist. Vielmehr sollten wir Krebspatienten zunächst als „Patienten“ betrachten und erst in zweiter Linie als „Krebspatienten“.
„Integrative Onkologie“ – eine Erfindung des MSKCC?
? Viele Publikationen zu Integrativer Medizin und vor allem zu Integrativer Onkologie stammen aus Ihrem Haus, dem Memorial Sloan-Kettering Cancer Center. Wurde dort der Begriff „erfunden“?
Deng Nein, ich glaube nicht. Fast alle Comprehensive Cancer Centers in den USA haben heute eigene Programme für Integrative Onkologie. Das MSKCC etablierte seine eigenen, umfänglichen CAM-Programme als Reaktion auf den hohen Bedarf, den die Patienten angemeldet haben und auf die Realität der Gesundheitsversorgung in den USA.
? Steht die von Nixon ins Leben gerufene Initiative „War on Cancer“ mit ihrem martialischen Säbelrasseln im Gegensatz zu der von Ihnen betonten holistischen Komplementärmedizin?
Deng Ich glaube nicht, dass der Ausdruck „Krieg gegen den Krebs“ heute noch besonders populär ist. Besonders, weil viele Menschen realisiert haben, dass Krebs etwas ist, mit dem wir uns arrangieren und zurechtkommen müssen. Und nicht etwas, gegen das man einen Krieg führen und das man auslöschen könnte. Sie werden auch kaum noch führende Onkologen finden, die diesen Begriff noch benutzen. Schließlich sind wir in dem Maße klüger geworden, in dem wir immer mehr über die Biologie der Krebserkrankungen gelernt haben.
! Dr. Deng, vielen Dank für das Interview (das Interview führte Rainer H. Bubenzer, Fachmedizinjournalist, Berlin)
Weitere Informationen zum Interview
• Erfahrungen mit Integrativer Onkologie an einem akademischen Krebszentrum: Deng G: Integrative cancer care in a US academic cancer centre: The Memorial Sloan-Kettering Experience. Curr Oncol. 2008 Aug;15 Suppl 2:s108.es68-71 (freier Volltext).
• Aktuelle Leitlinien für evidenzbasierte Konzepte der Integrativen Onkologie: Deng GE, Frenkel M, Cohen L, Cassileth BR, Abrams DI, Capodice JL, Courneya KS, Dryden T, Hanser S, Kumar N, Labriola D, Wardell DW, Sagar S; Society for Integrative Oncology: Evidence-based clinical practice guidelines for integrative oncology: complementary therapies and botanicals. J Soc Integr Oncol. 2009 Summer;7(3):85–120.
• Veranstaltung: 4. Europäischer Kongress für Integrative Medizin (ECIM). Berlin 7.–8.10.2011. Kongresspräsidenten: Prof. Dr. Benno Brinkhaus, Berlin, Prof. Dr. Gustav Dobos, Essen und Dr. Ines von Rosenstiel, Amsterdam. Veranstalter: European Congress for Integrative Medicine in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kongress für Integrative Medizin.