“Die Formel Komplementäre oder Integrative Onkologie = Konventionelle Onkologie + Komplementärmedizin ist falsch”, betonte Dr. med. Jutta Hübner, Frankfurt, bei ihrem bemerkenswerten Referat über “Ganzheitlichkeit in der Onkologie” [1]. Oder noch deutlicher: “Integrative oder ganzheitliche Onkologie ist ohne komplementärmedizinische Zutaten – hier mal ein bisschen Mistel, da mal ein wenig TCM – möglich”. Auch das Referat von Prof. Dr. med. Karsten Münstedt, Gießen – “Alternative Therapien – Verführung oder Vision” – zeigte, dass die von Komplementärmedizinern kritisierte “Kolonalisierung” durch die “Schulmedizin” [2] eher eine fiktive Befürchtung ist, die sich vor allem durch die eigene Methoden-Überschätzung bei gleichzeitig oft fehlender wissenschaftlicher Evidenz begründet.
Mistel (Viscum album)
Die Definition von Ganzheitlichkeit fällt vor allem in der Medizin schwer, weil er gerade dort mit Sehnsüchten und Hoffnungen nicht zuletzt vieler Krebspatienten überfrachtet ist. Anders als vielleicht manche Anbieter solcher (falschen) Hoffnungen behaupten, so Hübner, steht Ganzheitlichkeit zwar in relativem Gegensatz zu den oft stark krankheits‑, symptom- und damit körperorientierten Konzepten der konventionellen, naturwissenschaftlich geprägten Onkologie. Weitaus stärker ist jedoch der Gegensatz zu jenen biopsychosozialen Modellen, die die frühchristliche Trichotomie von Körper, Seele und Leib wieder reaktivieren. Beispielsweise in einigen Bereichen aktueller Reha-Theorien oder bei zahlreichen paramedizinischen Schulen.
Der Mensch ist eine ungeteilte Entität – eben ein Ganzes
Aus Sicht von Hübner liegt der Grund hierfür auf der Hand: “In unserer unverstellten Wahrnehmung von Menschen, von Patienten, erscheinen diese als ‘ungeteilte’ Entitäten. Und gerade nicht als Sammeltopf ‘biopsychosozialer’ Wesensanteile. Patienten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, als Ganzes wahrzunehmen und ihre Hoffnung auf Ganz-Sein zu akzeptieren, ist eben Ganzheitlichkeit.” Dies hat nach ihrer Vorstellung auch den Charme, dass alle Beteiligten – auch Pflegekräfte, Psychologen oder Ärzte – wieder als Menschen in den Mittelpunkt rücken. Dementsprechend bedeutet ‘Integrative Onkologie’ die Integration, also die Einbeziehung, der Patientenperspektive als wesentliche Leitschnur bei allen Entscheidungen, die für und mit Patienten zusammen zu treffen sind. Ähnlich und doch anders als in vergangenen Zeiten wird damit die Beziehung zwischen Patient und Arzt – heute auf Augenhöhe – zu einem wesentlichen Element von Heilungs- oder therapeutischen Prozessen. Natürlich stellt sich die Frage, ob Onkologen überhaupt in der Lage sind, eine solche integrative Sicht im täglichen Umgang mit Patienten umzusetzen. Oder ob dies nicht eher Aufgabe von Seelsorgern oder Psychologen sein sollte.
Autonomie und Fürsorge bedingen sich gegenseitig
Dies ist nicht nötig, so Hübner, denn zwei der, für die ganzheitliche Onkologie wesentliche Begriffe sind heute in der modernen Medizin und im Denken vieler Ärzten gut etabliert – Autonomie und Würde. In der Arzt-Patienten-Beziehung ist Patienten-Autonomie kein irgendwie zu befürchtendes, begrenzendes Absolutum, sondern wird – je nach Erkrankung und Behandlungskonzept – in einem dynamischen Beziehungsprozess immer wieder neu ausgehandelt. Mit Verweis auf palliativmedizinische Symposien des Krebskongresses betonte sie anschließend, dass Patienten-Autonomie und ärztliche resp. pflegerische Fürsorge sich einander bedingende Konzepte sind – das eine ist ohne das andere kaum denkbar. “Und gerade wenn wir als Ärzte die Patientenautonomie sehr hoch halten”, so Hübner, “hat die hohe Bedeutung der hiervon abhängenden Fürsorge vielleicht mit dem zu tun, warum viele von uns mal Arzt geworden sind – mit der Hoffnung, Menschen helfen zu können”.
Menschenwürde und die Gestaltbarkeit des eigenen Lebens
Befragungen zeigen, dass viele Patienten ihre Würde als noch wichtiger einschätzen als ihre Autonomie. Das erscheint selbstverständlich – denn wie soll man um Autonomie kämpfen können, wenn das Gegenüber, von dem es sich abzugrenzen gilt, einem das Menschsein und damit die Menschenwürde gar nicht zugesteht? Wenn der Mensch (nach Kant) zu einem “Mittel zum Zweck” degradiert wird, verliert er seine Menschenwürde. “Gewisse Diskussionen in der Gesundheits-Ökonomie über den quantifizierbaren Wert des menschlichen Lebens und andere ethische Fragen machen deutlich”, so Hübner, “warum die Menschenwürde auch und vor allem dann ein so wichtiger Aspekt ist, wenn wir uns um Ganzheitlichkeit, also eigentlich um integrative Medizin bemühen”. Dass solche Reflexionen und Diskussionen auch andere zentrale Fragen des Menschseins berühren – Respekt, Selbstwahrnehmung, Spiritualität und vor allem die Sinnfrage – hat jeder Onkologe bereits erlebt. Viktor E. Frankl stellte hierzu 1946 fest: “Die geistige Freiheit des Menschen, die man ihm bis zum letzten Atemzug nicht nehmen kann, lässt ihn auch noch bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden, sein Leben sinnvoll zu gestalten”.
Manche paramedizinische Schulen degradieren Patienten zu Objekten
Modell für Akupunkturpunkte
Was integrative, ganzheitliche Onkologie sicher nicht ist, wird vor diesem Hintergrund rasch deutlich: “Ein Fehler, der häufig gemacht wird, ist, dass man denkt – jetzt mache ich konventionelle Medizin, tue noch ein bisschen Mistel, TCM oder eine meiner eigenen Lieblingszutaten dazu, also ein bisschen was Komplementäres, und dann ist das Resultat angeblich ganzheitlich. Vergessen Sie das – das ist im besten Fall Kraut und Rüben”, so Hübner. Patienten kann eine solche Mixtur möglicherweise kurze Zeit zufriedenstellen. Aber die eigentliche Frage der Patienten zielt nicht auf Mistel oder Nahrungsergänzungsmittel, sondern darauf wie sie im weiteren Verlauf der Erkrankung eigentlich selbst beteiligt sind. Viele der paramedizinischen Schulen, die sich komplementär der Onkologie andienen, führen klassisches medizinisches Denken nur in andere Richtungen weiter, wenn auch ohne wissenschaftliche Evidenz, kritisierte Hübner. Dabei funktionalisieren sie Patienten in bekannter Manier und degradieren sie letztlich wieder nur zum Objekt, was mit Ganzheitlichkeit nichts zu tun hat. “Ich kann mir einen exzellenten Arzt vorstellen, der von Mistel und all dem entweder nichts hält oder keine Ahnung davon hat, aber trotzdem ein wunderbarer Arzt ist”.
Ganzheitlichkeit in der Onkologie ist möglich
Aus Sicht von Hübner kann es also gelingen, die Ganzheitlichkeit, die Integration von Patienten in den Behandlungsverlauf auf Augenhöhe und die Fokussierung auf die Patientenperspektive im ärztlichen Handeln in die moderne Onkologie zu integrieren. Für den einzelnen Arzt ist dabei zunächst wichtig, seine Wahrnehmung zu schulen, um Krebspatienten nicht als ‘biopsychosoziales Modell’, sondern als Menschen in ihrem gesamten Lebenskontext zu sehen und all das zu respektieren, was einem in diesem Menschen entgegentritt. Im weiteren Verlauf, nach sehr genauer Reflexion der nächsten Schritte, sollte dann die Kommunikation zum wichtigen Element im Arzt-Patienten-Verhältnis werden – nicht aber Versprechungen auf irgendeine Panazee der Paramedizin.
Propagandamittel der alternativmedizinischen Szene
Die immer wieder zu beobachtenden Methoden solcher ‘Schlangenöl-Verkäufer’ beschrieb anschließend Prof. Dr. med. Karsten Münstedt, Gießen (unter zunehmenden Unmutsäußerungen im Auditorium). Er warf Vertretern der Alternativmedizin vor, etablierte pathogenetische Konzepte zu leugnen, dafür phantasievolle, aber irreale Thesen zur Krebsentstehung zu propagieren, sich extrem geschickt in Szene zu setzen und dabei erheblich zu polarisieren. Ihre Abgrenzung gegenüber der wissenschaftlichen Medizin ginge soweit, dass komplexe Verschwörungsszenarien aufgebaut werden, denen zufolge eine massive Unterdrückung alternativer Krebstherapien stattfindet und vor allem auch die jeweils vorgestellten “Innovationen” von der Wissenschaft ignoriert würden. In ihrer oft überaus eloquenten Selbstdarstellung würden Tatsachen verdreht und maßlos übertrieben, wobei alles ‘Gute’, ‘Ganzheitliche’, ‘Sanfte’, ‘Natürliche’ oder ‘Individuelle’ auf Seite der Alternativmediziner sei, während gleichzeitig Sinn und Nutzen der wissenschaftlichen Medizin heruntergespielt und herabgewürdigt werden. Die pseudowissenschaftlichen Selbstdarstellungen seien gekennzeichnet von selektivem Zitieren, Weglassen von Informationen, Verdrehen von Tatsachen, Darstellung nur von ins eigene Weltbild passenden Informationen oder deren Präsentation in einem völlig anderen, jedoch inhaltlich falsch gewähltem Zusammenhang.
Verunsicherung und Schüren von Ängsten
Angst
Diese auch für politische Propaganda typischen Verfahren werden begleitet von einer inszenierten, zusätzlichen Verunsicherung der Krebspatienten. Zum Beispiel indem durch übertrieben dargestellte unerwünschte Wirkungen der wissenschaftlichen Medizin Ängste geschürt werden. Dazu passend suggerieren Alternativmediziner gerne ihre Unterstützung der Eigenverantwortlichkeit von Patienten, während die Schulmedizin Patienten angeblich nur entmündige. Die Kommunikationstechniken sind trotz ihrer Banalität immer wieder wirksam: Mit Suggestivfragen, mit persönlicher Ansprache von Betroffenen, mit argumentativem Hindrängen in eine bestimmte Richtung werden Gefühle der individuellen Zuwendung und Empathie geweckt. Hinzu kommt ein Elitebewusstsein von Vertretern verschiedener Pseudowissenschaften, die sich gerne als ‘bessere’ Menschen darstellen und z. B. nicht auf materielle Vorteile bedacht seien.
Wirksamkeitsgarantie? – Alternativmediziner machen es möglich!
Die oft überaus persönlichen Angriffe gegen Kritiker und die Versuche, diese nachhaltig zu diskreditieren, desavouieren dieses “Gutmenschentum” allerdings gleich wieder. Die Beugung der Wirklichkeit findet auch in Hinsicht auf die Begründung der eigenen Methoden statt. So sollen mit der Umdeutung wissenschaftlicher Fachbegriffe Behauptungen der Pseudowissenschaft erklärt und ihnen ein wissenschaftlicher Anstrich verliehen werden. Mit Spekulationen über unbewiesene Zusammenhänge, Hinweise auf unerklärte Phänomene der wissenschaftlichen Medizin oder der Berufung auf Shakespeares Hamlet – “Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt” -, setzten alternativmedizinische Schulen zum finalen Anspruch an, eben all diese Dinge genau zu kennen. Dieser gipfelt letztlich in einer maßlosen Hybris, bei der sogar “Wirksamkeitsgarantien” zur vorgeschlagenen, abstrusen Krebsbehandlung abgegeben wird. Zumeist findet sich auf den endlos vielen Internet-Auftritten aber die übliche Mischung von höchst problematischen und durchaus akzeptablen Aussagen. Zum Beispiel bei der Website www.hoffnung-bei-krebs.com, wo auch – durchaus richtig – über die Bedeutung gesunder Ernährung oder sportlicher Aktivitäten bei Krebs informiert wird. Aber ein großer Teil des Rests ist einfach, so Münstedt, völliger Unfug.
Alternativmedizin in der Onkologie: Nur in kontrollierten Studien
Mit einem kleinen Potpourri aus Hamers ‘Neuer Deutscher Medizin’, Raths ‘Hochdosis-Vitamin C‑Therapie’, Enzymbehandlung, Bella-Multitherapie, Galavit- oder Lätril-Applikation, und anderen Verfahren zeigte Münstedt abschließend auf, dass die allermeisten alternativen Verfahren keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhalten (und trotzdem millionenfach weiter eingesetzt werden …). Nur selten zeigen alternative Verfahren in onkologischen Pilotstudien soviel therapeutische Effekte, dass eine weitere Untersuchung überhaupt lohnt. Zum Beispiel im Fall der Galvanotherapie bei Prostata-Ca [3]. Sehr viel erschreckender ist jedoch, so Münstedt, dass Alternativmedizin gegenüber onkogischen Standardtherapien die Progressionsrate deutlich erhöhen und das Überleben von Krebspatienten signifikant senken kann, wie in einigen Studien gezeigt werden konnte [4, 5]. Deshalb sollten solche Methoden ausschließlich im Rahmen klinischer Studien angewandt und erforscht werden. Hinsichtlich der Krebspatienten, die nach der Krebsdiagnose einem verwirrenden Trommelfeuer unterschiedlichster Informationen und Meinungen ausgesetzt sind, gilt: “Jeder Patient hat ein Anrecht auf objektive Informationen, nicht zuletzt, weil Angst und Stress sehr schlechte Ratgeber sind, und rationale Entscheidungen oft unmöglich machen”. Hierzu sollten die behandelnden Onkologen über ausreichend beratungstaugliche Informationen verfügen, wie sie beispielsweise in den beiden folgenden onkologiespezifischen Lesetipps versammelt sind.
Lesetipps
* Jutta Hübner: Komplementäre Onkologie: Supportive Maßnahmen und evidenzbasierte Empfehlungen (2. Aufl.). Schattauer Verlag, Stuttgart, 2012. (Kostenfreie Lieferung durch Amazon)
* Karsten Münstedt, Leo Auerbach, Gerd Birkenmeier, Katja Boehm: Komplementäre und alternative Krebstherapien (3. Aufl.). ecomed Medizin, Landsberg, 2011.
Autor
Rainer H. Bubenzer, Heilpflanzen-Welt, 2012.
Quellen
[1] Bericht: Deutscher Krebskongress 2012, Berlin, 22.–25.2.2012. Symposium: “Kontroversen in der Komplementären Onkologie”. Veranstalter: Arbeitsgemeinschaft Prävention und Integrative Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft.
[2] Walach H: ‘Integrative Medizin’ – die Kolonialisierung des Anderen und die Notwendigkeit des ganz Anderen. Forschende Komplementärmedizin. 2010;17(1):4–6.
[3] Arsov C, Winter C, Albers P: Der Stellenwert der Galvanotherapie beim lokal begrenzten Prostatakarzinom. Urologe A. 2009 Jul;48(7):748–54. (Kurztext)
[4] Bagenal FS, Easton DF, Harris E, Chilvers CE, McElwain TJ: Survival of patients with breast cancer attending Bristol Cancer Help Centre. Lancet. 1990 Sep 8;336(8715):606–10 (DOI | PMID).
[5] Han E, Johnson N, DelaMelena T, Glissmeyer M, Steinbock K: Alternative therapy used as primary treatment for breast cancer negatively impacts outcomes. Ann Surg Oncol. 2011 Apr;18(4):912–6 (DOI | PMID).