Schröpfen ist eine uralte Technik, bei der Unterdruck Vorbeugung oder Heilung von Krankheiten bewirken soll. Das Verfahren ist Heilern aller Kulturen bekannt. Trockenes wie blutiges Schröpfen ist auch heute noch in vielen Ländern der Welt ein wichtiges naturheilkundliches Verfahren mit mannigfaltigen Einsatzmöglichkeiten.
Erzeugung von Unterdruck
Wer sich unter dem Schröpfen nichts vorstellen kann, braucht sich nur an die “Knutschflecken” in der Jugendzeit zu erinnern. Diese blutunterlaufenen Male leidenschaftlicher Zuneigung entstehen nach einem ähnlichen Prinzip: Durch das Saugen des Mundes wird Unterdruck erzeugt. Dieser zieht zum Druckausgleich zunächst betroffenes Gewebe in die Mundhöhle. Danach nimmt der Einstrom von Blut zu, die Durchblutung steigt. Reicht dies physikalisch nicht aus, tritt Blut aus den Gefäßen in das umgebende Gewebe aus. Und ein sichtbarer Bluterguss im Bindegewebe entsteht.
Knutschflecken mögen eine neuzeitliche Erfindung sein, Literaturangaben darüber sind keine zu finden. Schröpfen jedoch ist ein uralte Methode. Sie soll sogar älter sein als Aderlass und die Blutegelbehandlung. Als Geräte zur Unterdruck-Herstellung sind Bambusstab-Segmente (Asien), kleine, getrocknete Kürbisse oder Tierhörner (Afrika und Europa) bekannt. Seit Beginn der Glasherstellung sind die bei uns verbreiteten Schröpfgläser oder ‑glocken im Einsatz. Erste Berichte über das Schröpfen wurden schon im alten Ägypten verfasst. Im klassischen Griechenland war die Schröpfglocke so oft im Einsatz, dass Ärzte sie wegen ihrer Bekanntheit als Teil ihres Standes-Kennzeichen nutzten.
Ausleitendes Verfahren
Das Schröpfen gehört zu den sogenannten ausleitenden Verfahren. Eine Theorie dafür entwickelte der Vater der klassischen, europäischen Medizin Hippokrates von Kos. Der griechische Arzt prägte mit seinen Vorstellungen wesentliche Grundlagen der Humoralpathologie, die bis in die Neuzeit hinein reichen. Hippokrates stellte genaue Beobachtungen bei Erkrankungen an und dokumentierte ärztliche Erfahrungen. Er entwickelte die Theorie, dass Krankheit aufgrund einer fehlerhaften Beschaffenheit und Zusammensetzung der vier Haupt-Körpersäfte, Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, entstünde. Außerdem vermutete seine Ärzteschule Zusammenhänge zwischen dem Körperinneren und der Hautoberfläche. Man ging davon aus, dass schädliche Stoffe wie beispielsweise Gift oder ein schädliches Zuviel eines bestimmten Körpersafts ausgeleitet werden könnten. Beispielsweise durch einen Aderlass soll der kranke Körper “gereinigt” und so wieder in einen idealen, harmonischen Zustand von ausgeglichenen “Körpersäften” versetzt werden. Ausleitende Verfahren waren wesentlicher Bestandteil der Medizin in den nachfolgenden Jahrhunderten.
Eine Wirkung von aussen nach innen
Auch wenn sich die theoretischen Konzepte mittlerweile geändert haben, sind die Verfahren weiterhin wesentlicher Bestandteil der modernen Naturheilkunde. Theoretisch wird von einer vielschichtigen Vernetzung (energetisch, durch Nerven, Kreislauf) zwischen dem Körperinneren und der Körperoberfläche ausgegangen. Alle Organe sind demzufolge über komplexe neuronale und andere Regelkreise mit der Haut verknüpft. Und können über die ihnen zugeordneten Reflexbereiche auf der Haut direkt angesprochen werden. Die Schulmedizin kennt viele solche Bereiche auch. Zum Beispiel den McBurney-Punkt auf der rechten unteren Bauchoberfläche, der bei starker Blinddarm-Entzündung extrem schmerzhaft reagiert. Die beim Schröpfen zumeist verwendeten Reflexbereiche liegen über den ganzen Rücken verteilt. Sie dienen sowohl der Diagnostik als auch der Therapie. Mit ihnen und durch sie wird die Selbstregulation des Körpers aktiviert und reguliert. Über die Reflexbereiche können einzelne Organe oder Funktionsbereiche des Körpers wie Haut, Muskulatur, Skelett oder Darm erreicht und beeinflusst werden.
Methoden des Schröpfens
Grundsätzlich wird zwischen unblutigem (trockenen) und blutigem Schröpfen unterschieden. Vor allem das unblutige Schröpfen hat bei Patienten eine hohe Akzeptanz erlangt. Durch die bessere Durchblutung beispielsweise stark verspannter Rückenpartien, lassen die Rückenschmerzen häufig schon nach der ersten Behandlung spürbar nach. Für Therapeuten sind nicht nur die möglichen schnellen Behandlungsergebnisse, sondern das leichte Erlernen des Schröpfens (im Gegensatz beispielsweise zur Akupunktur) bedeutend. Auch der geringe zeitliche Aufwand und die geringen Kosten der Schröpf-Utensilien sprechen für sich.
Diagnose
Neben medizinischen Standard-Untersuchungen und qualifizierter ärztlicher Diagnosestellung vertiefen naturheilkundliche Therapeuten die Diagnose durch eine eingehende Abtastung von muskuloskeletalen System und Bindegewebe, um einen Eindruck zu gewinnen, wie der allgemeine Zustand des Bindegewebes ist. Ob lokale Wasser-Einlagerungen (Ödeme) vorliegen, partielle Muskelschwächen bestehen oder Probleme bei der Gewebe-Durchblutung erkennbar sind. Solche Eindrücke vermitteln erfahrenen Therapeuten Informationen über den gegenwärtigen Allgemeinzustand und den Energiestatus ihrer Patienten. Besonders sorgfältig wird der Rücken begutachtet. Erfahrene Schröpfende können beispielsweise “Schwachstellen” im Umkreis von Organ-Reflexzonen ertasten und damit bestimmte Erkrankungs-Dispositionen erkennen. Therapeuten unterscheiden fühlbare Zustände von Haut- und Muskelpartien. Sie können hart, schmerzend, “heiss” oder “kühl” oder schlecht durchblutet sein. Auch knoten- oder wulstartige Verhärtungen betroffener Hautgebiete geben dem Therapeuten Auskunft (Physiotherapeuten nennen solche punktuellen Muskelverhärtungen “Myogelosen”). Aus ihnen lässt sich beispielsweise auf eine Überbeanspruchung von Muskelpartien oder Teilen des Skeletts schliessen. Sie können aber genauso Ausdruck funktioneller oder entzündlicher Muskel- und Gelenkerkrankungen oder von Funktionsstörung innerer Organs sein. Entsprechend der individuellen Diagnose wird der Schröpfende sich für eine der Schröpfmethoden entscheiden.
Trockenes Schröpfen
Trockenes Schröpfen
Das trockene Schröpfen wird durch Aufsetzen von Schröpfgläsern auf unversehrter Haut praktiziert. Wie schon zu Beginn durch das Beispiel des Knutschflecks erwähnt, wird durch den Unterdruck die Durchblutung in den haarfeinen Kapillaren und der Einstrom von Lymphflüssigkeit gesteigert (“Perfusions-Steigerung”). Bei anhaltendem therapeutischem Unterdruck gelangen vermehrt Flüssigkeit und Blutzellen aus den Kapillaren in das umgebende Gewebe. Die komplexe Folgereaktion des Körpers zur Normalisierung dieser Reizsituation besteht unter anderem aus vermehrter Durchblutung mit Hautrötung (“Hyperämie”), vorübergehenden Schwellungen und immunologischen Lokal-Reaktionen (Abbau ausgetretener zellulärer Blutbestandteile). Also insgesamt einem lokal gesteigertem Stoffwechsel, der bei ebenfalls begrenzten lokalen Störungen, zum Beispiel massiv verhärteter Muskulatur oder bestimmten chronischen Hauterkrankungen, bereits therapeutische Effekte zeigt.
Trockenes Schröpfen wird angewandt
- zur vegetativen Funktionsanregung
- bei chronischen Schwächezuständen
- bei Narben-Nachbehandlung (lokale Förderung der Durchblutung von Haut, Unterhaut und Bindegewebe)
- bei Rückenschmerzen (Entspannung der Muskulatur), Fibromyalgie
- bei rheumatischen Erkrankungen
- zur Aktivierung des Immunsystems
Viel wesentlicher sind jedoch die durch das Schröpfen an der Hautoberfläche gesetzten massiven Reize. Diese können reflektorisch a. Funktionen des vegetativen Nervensystems stimulieren. Beispielsweise können so lebenswichtige Funktionen wie Atmung, Verdauung, Stoffwechsel, Hormon- oder Mineralstoffhaushalt harmonisierend beeinflusst werden. Über solche Wechselwirkungen können auch höhere Funktionen des Nervensystems moduliert werden. Zum Beispiel solche, die an neurotischen Störungen oder psychiatrischen Erkrankungen beteiligt sind (adjuvante Bedeutung des Schröpfens). b. Funktionen innerer Organe anregen oder harmonisieren. Beispiel: Wechselnd überaktive oder gelähmte Dickdarmfunktionen (Reizdarm-Syndrom) oder chronisch gestörte Beweglichkeit von Magen und Darm (Dyspepsie).
Blutiges Schröpfen
Der Gegensatz zum trockenen ist das blutige Schröpfen. Diese Methode gehört wegen der Infektionsgefahr und anderen unvorhersehbaren Reaktionen von Patienten in die Hände von Ärzten. Hierbei wird die Haut des Patienten nach einer Desinfektion mit einem speziellen Stichelgerät so tief eingeritzt, das beim Schröpfen Blut austritt. Erfahrene Schröpfende ritzen die Haut so ein, dass keine Narben entstehen. Dann wird das Schröpfglas aufgesetzt. Durch den erzeugten Unterdruck fliesst etwas Blut in das Schröpfglas. Je nach Ermessen des Schröpfenden werden weitere Gläser aufgesetzt. Der Arzt wird die Blutmenge vorher bemessen, damit es nicht zu einer Schwächung des Patienten kommt. Ausserdem wird der Patient während der Behandlung beobachtet. Denn unvorhergesehene Kreislaufreaktionen (vor allem im Bereich des unteren Rückens) können in seltenen Fällen zu einem Kreislaufkollaps führen. Diese Notfall-Situation muss der Arzt medizinisch problemlos beherrschen können. Wenn nicht, darf er das Verfahren nicht anwenden.
Indikationen
Blutiges Schröpfen wird eingesetzt, wenn es ein “Zuviel an Energie” im naturheilkundlichen Sinne im Körper gibt. Gerne wird diese Form des Schröpfens auch als Teil einer konstitutionellen Behandlung durchgeführt, um grundlegende Krankheitsneigungen zu verändern. Dies wird individuell mit diätetischen Massnahmen, Sport, phytotherapeutischen oder homöopathischen Medikamenten und andere Massnahmen kombiniert.
- chronische Entzündungen von Nasennebenhöhlen, Zähnen, Hals- und Rachenmandeln
- Kopfschmerzen, Migräne
- schmerzhafte Beschwerden von Galle, Eierstöcken, Dickdarm
- Lungenerkrankungen
- Herpes Zoster
- Bluthochdruck
- Wechseljahrsbeschwerden
Chinesisches Schröpfen
Das Schröpfen ist Teil der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Die Schröpfköpfe werden verwendet, wenn die zu Behandelnden körperlich zu schwach für die Akupunktur mit Nadeln sind. Nach TCM-Auffassung ist Schröpfen angesagt, um die in Organen blockierte Lebensenergie (Qi) an die Hautoberfläche zu bringen und zu verteilen. Dazu werden Schröpfköpfe auf den Akupunkturpunkten aufgesetzt. Beispielsweise gibt es den Akupunkturpunkt “Tor des Windes”, der auch von westlichen Schröpf-Experten verwendet wird. Er soll “den Wind aus den Lungen nehmen” und so Lungenerkrankungen heilen. Weitere Anwendungen: Erkältungen, Lungeninfektionen (Bronchitis), Rückenschmerzen, allgemeine Schmerzerkrankungen, Stimulation des Blutflusses.
Sprachliches: Schröpfen
Jemanden gehörig (ordentlich) schröpfen: ihn übervorteilen (vgl. niederländisch ›gruizen‹: übervorteilen, wörtlich: zu Gries mahlen), ihm viel Geld abnehmen, eigentlich ihn tüchtig bluten lassen… Der Bader setzte dazu dem Patienten Schröpfköpfe an, die sich vollsaugten und auf diese Weise krankes und überflüssiges Blut beseitigen sollten. Dieser Bezug wird in der längeren Wendung Die Leute schröpfen wie der Bader die Weiberhaut besonders deutlich. In der übertragenen Bedeutung: den Leuten überflüssiges Geld abnehmen, hat sich die Redensart durch die Jahrhunderte bis heute erhalten.
Quelle: Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Bd. 4. S. 1405. Herder Verlag.
Autorin
• Marion Kaden, natürlich leben (2007).
Quellen
Abele Johann: Das Schröpfen. Eine altbewährte alternative Heilmethode. Urban & Fischer.
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