Arbeiten & Laufen
Sitzen und Bewegung sind schon seit Jahrzehnten Gegenstand der Forschung. Sie bekommen schon vor dem Hintergrund einen hohen Stellenwert, weil die meisten Menschen der Industrienationen täglich 8 bis 14 Stunden sitzen – um zur Arbeit zu gelangen, zu arbeiten oder sich abends von der Arbeit vor dem Fernseher zu “erholen”. Das “Dauersitzen” hat zahlreiche gesundheitliche Konsequenzen: “Ich habe Rücken” ist nicht nur eine humorvoll gemeinte Floskel. Rückenprobleme verschiedenster Art, durch Bürotätigkeiten verursacht, sind zur Volkserkrankung erkoren worden. Dabei sind Rückenprobleme das kleinste Übel beim Dauersitzen, wie nun gross angelegte Studien zeigen.
Übergewichtig durch zuviel sitzen
Dauersitzen macht dick oder sogar fettsüchtig, belegte auch Prof. James A. Levine von der renommierten Mayo-Klinik, einer amerikanischen Non-Profit-Organisation mit Sitz in Rochester und Minnesota. Seit 15 Jahren beschäftigt sich der Wissenschaftler mit dem pandemisch auftretenden Übergewichtsproblem. International wurde Levine bekannt, weil er erstmals exakte Daten lieferte, warum manche Dauersitzer dick werden und andere nicht. Er kam zum Schluss, dass nicht die zugeführte Kalorienmenge ursächlich ist, sondern minimale, verhaltensabhängige Unterschiede des Energieverbrauchs (die sogennante Nicht-Aktivitäts-assoziierte Thermogenese – NEAT). Ausserdem: Mehrstündiges Sitzen entspricht nicht dem natürlichen Bewegungsumfang der Menschen. Denn von ihren evolutionären, erblich determinierten Anlagen her sind sie Sammler und Jäger, nicht Autofahrer, Schreibtischsitzer oder Couchpotatoes. Der noch in historischer Zeit normale Bewegungsumfang wird von Wissenschaftlern mit 20 bis 30 Kilometer pro Tag angegeben. Doch hat die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen nichts mehr mit dem Zurücklegen solcher Distanzen zu tun. Im Gegenteil: Die durchschnittliche Strecke amerikanischer Bürger beträgt gerade einmal 600 Meter täglich.
Das tägliche Sitzen ab drei Stunden gilt nach moderner Einsicht als definitiv gesundheitsschädigend, odedrastischer ausgedrückt, als tödlich [3]. Das sind beunruhigende Tatsachen, die Viele betreffen – trotzdem werden sie nicht besonders publik gemacht. Mögliche Gründe könnten sein: Das teure Umrüsten von Büros auf gesundheitsförderliche Einheiten oder die z.B. vorstellbare kostenlose Bereitstellung betriebsinterner Fitness-Studios einschliesslich Fitness-Trainer, die zu viele Kosten verursachen. Oder die Bereitschaft seitens der Arbeitnehmer zu “gesünderen, verordneten Arbeitsbedingungen”, die oft nicht vorausgesetzt werden kann (Stichwort “sekundärer Krankheitsgewinn”). Apropos: Können Sie sich vorstellen, während der Arbeit täglich 5 bis 20 Kilometer zu gehen oder zu laufen? Diese Idee entwickelte Levine nämlich vor 15 Jahren und liess entsprechende Arbeitsplatz-Modelle in Zusammenarbeit mit Büroherstellern bauen. Mit seinem “NEAT-Desktop” wird ein Gutteil der Energie verbraucht, die sonst zu Übergewicht führt. Dazu werden modifizierte Laufbänder mit variablen Geschwindigkeiten wie im Fitness-Studio unter Stehpulte oder höhenverstellbare Schreibtische gestellt. Levine experimentierte mit diesen bis heute revolutionären Arbeitsplätzen und führte dazu etliche Studien durch. Die Ergebnisse: Das Arbeiten an solchen speziellen Arbeitsplätzen kann bei minimaler Laufgeschwindigkeit bei Übergewichtigen einen Gewichtsverlust von bis zu 30 Kilogramm im ersten Jahr bringen [4]. Einige wenige Sportgeräte- und Büromöbelhersteller bieten in Europa das Levinesche Konzept in ausgereiften Formen in verschiedenen Büro-Lösungen an.
Laufband & Hubschreibtisch
Beispielsweise konnten dänische Wissenschaftler (Studie: 71.000 Männer, Frauen zwischen 18–99 Jahren) eine eindeutige Beziehung zwischen Sterblichkeit durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der Dauer des Sitzens herstellen. Kurzgefasst lautet das Ergebnis: Je höher die tägliche gesamte Sitzzeit, desto höher die Sterblichkeitsrate – insbesondere bei inaktiven Erwachsenen. Also jenen, die weder Sport treiben, noch zu allgemeiner Bewegung im Alltag kommen [1]. Eine Studie aus den USA (155.000 Probanden im Alter von 59–82 Jahren) lieferte quasi dasselbe Resultat. Da die Untersuchten dieser Studie im Durchschnitt wesentlich älter waren, lagen sowohl das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen als auch die Sterblichkeit dadurch proportional noch höher. Unterschieden wurde in der Studie des National Cancer Institute zwischen “aktiven” und “nicht aktiven” Teilnehmern. Diejenigen, die sich beispielsweise täglich aktiv mehrere Stunden mit Haus- und Gartenarbeiten beschäftigten oder viel zu Fuss unterwegs waren, hatten wesentlich geringere Sterblichkeitsraten als “nicht aktive”, resümierten die Forscher [2].
Erfahrungsbericht: Laufband am Arbeitsplatz
Rainer H. Bubenzer (BB), Medizin- und Wissenschaftsjournalist und Gesundheitsberater aus Berlin, hat viele Jahre lang die Forschung von Levine und die Entwicklung seiner Arbeitsplatz-Alternativen verfolgt. Seit eineinhalb Jahren erledigt der Freiberufler seine Arbeit selbst immer öfter auf dem Laufband. Seine Erfahrungen hier in Form eines kleinen Interviews:
Natürlich: Warum haben Sie sich für das Laufband entschieden?
BB: Alle bisherigen Empfehlungen für “bewegtes Arbeiten” sind bei wissenschaftlicher Überprüfung vollständig wirkungslos. Zum Telefonieren aufzustehen, ab und zu ein paar Mobilisierungs- und Dehnübungen zu machen oder einen “aktiven” Bürostuhl zu benutzen, hilft nichts gegen die Tödlichkeit von mehr als drei Stunden Sitzen am Tag. Hier hat Levine einen grossartigen Impuls gegeben, der natürlich auch längst Bekanntes aufgreift, wie zum Beispiel das klassische Stehpult.
Natürlich: Ist das Arbeiten am Laufband überhaupt effektiv?
BB: Die körperliche Aktivierung beim moderaten Laufen während der Arbeit hilft nicht nur gegen Übergewicht, sondern ist eine tiefgreifend gesundheitspflegende Massnahme. Fast noch entscheidender ist jedoch die “Befreiung des Kopfes”: Beim Schreiten oder beschleunigten Gehen am Schreibtisch (z. B. mit drei Kilometer pro Stunde) wird der Körper natürlicherweise aufrecht gehalten, wodurch die kopftragenden Halsgelenke nahezu unbelastet und entspannt sind, und was eine geistige Kreativität, Phantasie, Konzentration oder Fokussierung in einem Umfang bewirkt, der sonst nur bei geistig anregenden Spaziergängen im Grünen möglich ist.
Natürlich: Welche Büroarbeiten sind beim Laufen möglich?
BB: Nach einer mehrwöchigen Eingewöhnungszeit, bei der das Lauftempo allmählich gesteigert wird (z. B. von 0,6 auf 2,6 km/h oder schneller), können Sie nahezu alle üblichen Arbeiten durchführen. Schreiben am PC, eMails erledigen, Recherchieren, Surfen oder Onlinetexte lesen. Etwas Eingewöhnung braucht die Maus-Nutzung bis alle alltäglichen mausgestützten Büroaktivitäten sauber koordiniert durchführbar sind. Lediglich sehr hochaufgelöstes Arbeiten mit Maus oder Stylus, z. B. beim pixelgenauen Zeichnen mit einer Bildbearbeitung, erfordert bei mir den Stopp des Laufbandes.
Natürlich: Gibt es noch andere Arbeiten, die Sie nicht laufend erledigen können?
BB: Ja, tatsächlich gibt es eine Tätigkeit, die ich wegen einer speziellen Fokussierung auf mein Gegenüber meistens lieber im Sitzen erledige – und das ist Telefonieren, selbst wenn ich meine Büro-Freisprechanlage benutze. Und natürlich gibt es Tage, da sitze ich einfach lieber… Grundsätzlich können Sie also alle Bürotätigkeiten realisieren, die Sie auch am Stehpult erledigen könnten.
Natürlich: Welche Auswirkungen auf Ihre Gesundheit stellen Sie fest?
BB: Vordergründig hat mir der NEAT-Desktop, wie Levine ihn genannt hat (Non-Exercise-Activity-Thermogenesis ist ein Element des menschlichen Energieverbrauchs, für dessen Erforschung Levine der herausragendste Experte weltweit ist), sehr beim Abnehmen geholfen. Ich schätze, meine moderate Nutzung des Arbeitsplatz-Laufbandes bewirkte bis zum Erreichen meines Normalgewichtes einen monatlichen Gewichtsverlust von ein bis anderthalb Kilogramm Körpergewicht.
Natürlich: Wem können Sie solche Schreibtisch-Laufbänder als Arbeitsplatz empfehlen?
BB: Trotz der sehr überschaubaren Kosten, ein günstiges Komplettsystem mit Laufband, Steuerkonsole und Stehpult wird in Europa z. B. unter 1.500 EUR angeboten, in den USA für deutlich unter 1.000 US-$ (vergleichen Sie das mal mit den Preisen für Highend-Bürostühle!), erscheint ein solcher Arbeitsplatz bei uns noch sehr exklusiv. Selbstständige, freie Unternehmer, Mitarbeiter aller Firmen im Gesundheits- und Fitness-Bereich oder in öffentlichen Einrichtungen wären prädestiniert, täglich an einem NEAT-Desktop zu arbeiten. Übrigens sollte ein solcher Arbeitsplatz immer auch die Möglichkeit bieten, zwischendurch nach Lust und Laune im Sitzen zu arbeiten.
Natürlich: Gibt es Nebenwirkungen?
BB: Ja, definitiv! Sie werden mit der Zeit bewegungssüchtig, können es morgens manchmal nicht abwarten, sich endlich auf dem Laufband zu bewegen, z. B. beim Erledigen der eMail, der Tagesplanung oder der Mitarbeiterbesprechung. Ansonsten müssen Sie lernen, dass andere Menschen sie überaus merkwürdig und fragend anschauen, wenn sie von Ihrer Arbeitsweise erfahren …
Lesetipps:
Born to Run: Ein sehr unterhaltsam geschriebenes Buch zum Laufen, und warum diese Tätigkeit jedem Menschen liegt, ist “Born to run”. McDougall, Journalist und selbst ambitionierter Läufer, besucht verschiedene Lauf-Experten, Trainer und Wissenschafter, um aktuelles Wissen und Erfahrungen zusammen zu tragen. Im letzten Drittel berichtet McDougall von einer Reise zum Stamme der Tarahumara in Mexico, um ihr Geheimnis zu ergründen. Alle Stammesmitglieder, Frauen, Männer, Kinder absolvieren nämlich mit beneidenswerter Leichtigkeit, Grazie und Mühelosigkeit Ultramarathonstrecken. Am Ende des Buches kann beim Lesenden der Wunsch entstehen – am besten Barfuss – aus Spass und Lebensfreude täglich viele Kilometer absolvieren zu WOLLEN.
Christopher McDougall: Born to Run. Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt. Karl Blessing Verlag, München. 2010 (amazon: direkter Link)
“Active Office. Warum uns Büros krank machen und was wir dagegen tun können” ist der Titel eines Buches, dass in den ersten Kapiteln die Arbeit in konventionellen Büros aufs Korn nimmt. Welche Auswirkungen z.B. Büroarbeit auf Skelett, Muskulatur, Stoffwechsel haben werden ausführlich dargelegt. Im letzten Teil machen die Autoren Vorschläge für ein “aktives Büro” – allerdings vollständig ohne die NEAT-Desktops. Schrittweise Vorschläge zur Veränderung der Lebensführung einschliesslich Ernährung/ Bewegung fehlen nicht.
Glöckl J., Breithecker D.: Active Office. Springer Gabler. Springer Fachmedien Wiesbaden 2014.
Autorin
• Marion Kaden, natürlich leben (2016).
Quellen
[1] Bjørk Petersen C1, Bauman A, Grønbæk M, Wulff Helge J, Thygesen LC, Tolstrup JS.: Total sitting time and risk of myocardial infarction, coronary heart disease and all-cause mortality in a prospective cohort of Danish adults. Int J Behav Nutr Phys Act. 2014 Feb 5;11:13. doi: 10.1186/1479–5868–11–13.
[2] Matthews CE1, Moore SC, Sampson J, Blair A, Xiao Q, Keadle SK, Hollenbeck A, Park Y.: Mortality Benefits for Replacing Sitting Time with Different Physical Activities. Med Sci Sports Exerc. 2015 Sep;47(9):1833–40. doi: 10.1249/MSS.0000000000000621.
[3] Patel AV1, Bernstein L, Deka A, Feigelson HS, Campbell PT, Gapstur SM, Colditz GA, Thun MJ.: Leisure time spent sitting in relation to total mortality in a prospective cohort of US adults. Am J Epidemiol. 2010 Aug 15;172(4):419–29. doi: 10.1093/aje/kwq155. Epub 2010 Jul 22.
[4] https://www.mayoclinic.org/documents/mc5810-0307-pdf/doc-20079082
weitere Infos
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