Naturstoffe spielen in Pharmakologie oder Medizin eine zunehmend bemerkenswerte Rolle. Einerseits sind und bleiben Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen weiterhin das wichtigste Reservoir für aktuelle Pharmazeutika und Medizinprodukte aller Art sowie für die moderne Arzneistoffforschung und medizinische Produkte der Zukunft [1]. Andererseits sind mit einer direkten Marktverwertung, zum Beispiel von Pflanzendrogen als Arzneimittel, kaum noch Gewinne zu erzielen, die mit patentierten Isolaten oder Derivaten eben dieser Drogen möglich sind. Die Politik reagierte vor einigen Jahren in dieser Situation aus Sicht von Verbraucherschützern irrational, weil sie mit dem Verbot der Kostenerstattung für pflanzliche Heilmittel durch die Krankenkassen unliebsame Mitkonkurrenten der Hersteller patentgeschützter Pharmaka vom Markt entfernte. Und dies, obwohl zum einen Umfragen immer wieder die höchste Akzeptanz der Vorbeugung und Therapie mit Naturstoffen in der Bevölkerung belegen [2]. Und zum anderen immer mehr Wissenschaftler vieler Disziplinen sich der Erforschung von Naturstoffen widmen, und mittlerweile in Deutschland so viele Lehrstühle für Phytotherapie oder Naturheilkunde existieren wie nie zuvor. Die in mehreren Teilen folgenden Beispiele aus der pharmazeutischen Biologie sollen zeigen – auch wenn die Naturstoff-Nomenklatur teilweise noch der Pharmakognosie des 19. und 20. Jahrhunderts folgt -, dass die tatsächlich wesentlichen Impulse für eine Medizin der Zukunft von einem immer weiter reichenden Verständnis der Naturstoffe ausgehen.
Teil 1: Alkaloide
Alkaloide sind stickstoffhaltige, komplex aufgebaute, meist basisch (alkalisch, daher der Name) reagierende Verbindungen, wobei das Stickstoffatom meist in einem Ringsystem steht. Es sind über 10.000 Alkaloide bekannt. Die Namen der Alkaloide leiten sich zumeist vom Gattungs- oder Artname der Pflanze ab (zum Beispiel Atropin aus Atropa belladonna, Aconitin aus Aconitum napellus). Alkaloide zeigen im Organismus eine hochgradige biologische Aktivität mit ausgeprägter pharmakologischer Wirkung [3].
Chemie
Alkaloide werden nach ihrer chemischen Struktur in N‑heterozyklische Naturstoffe und nichtheterozyklische organische Verbindungen unterteilt. Sie gehen zumeist von Aminosäuren aus und haben ein oder mehrere Stickstoffatome. Alkaloide sind fast stets lipophil (löslich in lipophilen organischen Lösungsmitteln wie zum Beispiel Chloroform, Äther), bilden jedoch in der Pflanze wasserlösliche Salze mit organischen Säuren, zum Beispiel Essig- und Oxalsäure, Milchsäure. Aus historischen Gründen werden auch einige N‑heterozyklische Verbindungen, die neutral bzw. sauer reagieren, zum Beispiel Coffein oder Amine mit aromatischem Ring, zum Beispiel die Phenylalkylamine oder Indolylalkylamine wie Capsaicin und Ephedrin, oder sich von Alkaloiden ableitende Verbindungen wie Colchicin, den Alkaloiden zugerechnet. Antibiotika werden hingegen, obwohl einige von ihnen alle Merkmale von Alkaloiden besitzen, zum Beispiel Mitomycin C, aus dieser Gruppe ausgeschlossen [4].
Biologie
Neben Pflanzen, synthetisieren auch Mikroorganismen und manche Tiere (zum Beispiel Salamander, Kröten) Alkaloide. Letzteres ist jedoch äußerst selten. Da die Alkaloide auch auf den tierischen Erzeuger-Organismus als Nervengifte wirken, sind sie meist peripher in Hautdrüsen isoliert. Auch Pflanzen versuchen eine Alkaloid-Selbstvergiftung zu verhindern, zum Beispiel mit besonderen Exkretzellen, wie zum Beispiel die Milchröhren der Papaveraceae (Mohngewächse), deren Milchsaft viele Alkaloide (unter anderem Morphin) enthält. Zudem sind die Alkaloide oft nur in bestimmten Teilen der Pflanzen zu finden, wobei Synthese- und Speicherort nicht identisch sein müssen (zum Beispiel Nicotiana: Synthese in den Wurzeln, Speicherung in den Blättern). Alkaloide sind Produkte des Sekundärstoffwechsels und entstehen über eine Vielzahl von Biosynthesewegen. Ihre Funktion ist weitgehend unbekannt. Sie sind für die Organismen nicht essentiell. Alkaloide sollen Pflanzen wegen ihres bitteren Geschmacks auch Schutz vor Fressfeinden bieten [5].
Anwendungen
Trotz der unklaren biologischen Funktionen [6] der chemisch extrem heterogenen Alkaloidgruppe fällt die ausgesprochen homogene Neurotropie bei der Naturstoffwirkung auf. Die meisten Alkaloide sind starke Gifte, die spezifisch auf bestimmte Zentren des Nervensystems wirken (zum Beispiel Strychnin, Nicotin). Vergiftungen mit Pflanzen werden oft durch Alkaloide verursacht. Durch ihre strukturelle Ähnlichkeit mit Neurotransmittern können Alkaloide in die nervale Regulation als Agonisten (zum Beispiel Morphin) oder Antagonisten (zum Beispiel Hyoscyamin und Scopolamin) eingreifen. Ebenso können sie, wie zum Beispiel Ephedrin, die Transmitterfreisetzung erhöhen. Durch Alkaloide kommt es auch zu einer Inaktivierung oder Hemmung von Enzymen, die Neurotransmitter blockieren oder second Messenger abbauen sowie zur Blockade von Ionenkanälen. Teilweise sind sie in geeigneter Dosierung auch als Heilmittel einsetzbar (zum Beispiel Morphin, Chinin, Atropin). Intrazellulär wirkende Alkaloide (Colchicin, Vincristin, Vinblastin) blockieren die Zellteilung und spielen in der Krebstherapie als Zytostatika eine Rolle. Andere Alkaloide werden als Anregungsmittel zum Beispiel in Kaffee (Coffein), Tee (Theophyllin) oder Kakao (Theobromin) genossen. Zu den Alkaloiden zählen auch Halluzinogene (LSD, Psilocybin) und Betäubungsmittel. Die euphorisierende Wirkung mancher Alkaloide (Morphin, Cocain) kann zu Gewöhnung und Sucht führen. Alkaloide zählen zu den ältesten Rausch- und Genussmittel der Menschheit (zum Beispiel Opium) [4, 7].
Pharmakologie
Die Resorption der im alkalischen Milieu des Darmes als lipophile Basen vorliegenden Alkaloide erfolgt rasch und fast vollständig (Ausnahmen: Alkaloide mit quartärem N‑Atom oder freien phenolischen PH-Gruppen). Fast alle Alkaloide passieren die Blut-Hirn-Schranke sowie die Plazentar-Schranke und treten auch in die Muttermilch über.
Phytotherapie
In der Phytotherapie werden Alkaloide fast ausschließlich in Form isolierter, genau dosierbarer Reinsubstanzen eingesetzt. Alkaloiddrogen wie Tollkirsche oder Bilsenkraut dürfen auch nur als normierte, auf ein Mindest- und Maximalgehalt eingestellte Drogen-Zubereitungen verwendet werden. Weitere Heilpflanzen mit schwächerer Alkaloidwirkung sind beispielsweise Schöllkraut, Erdrauch, Boldo oder Besenginster. Alkaloide wie Taxol, Vinblastin und Colchicin, bei denen es sich um teils partialsynthetisch gewonnene Reinsubstanzen handelt, kommen in der Onkologie zur Anwendung. Sie beeinflussen die Zellteilung [1, 8].
Alkaloidreiche Drogen mit | medizinischer Bedeutung (Auswahl) [3] |
Beinwellwurzel – Symphyti radix | Besenginsterkraut – Cytisi scoparii herba |
Bilsenkrautblätter – Hyoscyami folium | Boldoblätter – Boldo folium |
Brechwurzel – Ipecacuanha radix | Chinarinde – Cinchonae cortex |
Colombowurzel – Colombo radix | Eisenhutknolle – Aconiti tuber |
Ephedrakraut – Ephedrae herba | Erdrauchkraut – Fumariae herba |
Eschscholtzienkraut – Eschscholziae herba | Herbstzeitlosenknolle – Colchici tuber |
Jaborandiblätter – Jaborandi folia | Kanadischer Gelbwurzelstock – Hydrastis rhizoma |
Lobelienkraut – Lobeliae herba | Mutterkorn – Secale cornutum |
Opium – Papaver somniferum | Schlangenwurz – Serpentinae radix |
Schöllkraut – Chelidonii herba | Schwarzer Tee – Thea nigra |
Stechapfelblatt – Stramonii folia | Tollkirschblätter/-wurzel – Belladonnae folium/radix |
Beispiel Capsaicin
Zu der Gruppe der Phenylalkylamine (Mezcalin, Ephedrin, Cathinon), die in der Pflanze aus L‑Phenylalanin entstehen, gehört auch Capsaicin, das wie die anderen Capsaicinoide vor allem aus Cayennepfeffer und Paprika gewonnen wird (es gibt rund 200 Kultursorten der Gattung Capsicum). Capsaicinoide (Vanilloide) führen durch Reaktion mit dem Vanilloid-Rezeptor Subtyp 1 (VR1) zur Erregung von peripheren, nociceptiven Neuronen (polymodale Nociceptoren, C‑Fasern und Aκ-Fasern), das heißt von solchen Nerven, die für die Wahrnehmung schädigender Wärme- und Schmerzreize verantwortlich sind. Die Erregung provoziert die Freisetzung des Undecapeptids Substanz P, von CFRP (Calcitonin gene-related peptide), Somatostatin und vasoaktiven Polypeptiden. Folge ist zunächst eine lokale neurogene Entzündung, ausgelöst durch die Mediatoren von Substanz P (Histamin, Bradykinin, Prostaglandine) [6].
An der Haut kommt es dadurch zu Wärmeempfindungen, schmerzhaftem Brennen und durch lokale Vasodilatation zu lokaler Hyperämie. Es folgt eine durch Verarmung an Substanz P bedingte Phase der Unempfindlichkeit (tachyphylaktische Analgesie). Chronische Anwendung von Capsaicin führt zur Schädigung der betroffenen Neuronen. Für Capsaicin werden auch antientzündliche Wirkung beschrieben, wobei das Alkaloid die Aktivierung von NF-αB durch TNF‑α hemmt. Es resultiert eine Stunden bis Wochen lang anhaltende analgetische und antiphlogistische Wirkung bis hin zu irreversibler Desensibilisierung [5, 7].
Offizinell sind eingestellte Cayennepfeffertinkturen oder ‑dickextrakte, Salben und Capsaicinoidpräparate. Verwendet werden meist Fertigarzneimittel zur äußerlichen Anwendung. Die Anwendung sollte ohne ärztliche Anweisung auf 2 Tage beschränkt werden (3–4mal tägliche Anwendung) und darf frühestens nach 14 Tagen am gleichen Applikationsort wiederholt werden [8].
Die ausgewiesene Indikation ist schmerzhafter Muskelhartspann im Schulter-Arm-Bereich sowie im Bereich der Wirbelsäule bei Erwachsenen und Schulkindern. Signifikant schmerzlindernde Wirkungen lassen sich auch bei postzosterischer und postoperativer Neuralgie, Fibromyalgie, rheumatoider Arthritis, chronischen unspezifischen Rückenschmerzen, diabetischer Polyneuropathie und Arthrose erzielen [4].
Anregung zur Weiterbeschäftigung
Recherche: Warum gilt Capsaicin im Reitsport als Doping-Mittel?
Überlegung: Cayennepfeffer-Anwendung hat analgetische und hyperämisierende Wirkungen bei Muskelhartspann (Myogelose). Wie ist zu erklären, dass es hierdurch neben symptomatischer Linderung auch zu einer nachhaltigen Lösung der Muskelverhärtungen kommt?
Selbstversuch: Tragen Sie auf die Oberseite des rechten – warmen! – Fußes einen ca. 1 cm langen Strang Capsaicin-Salbe auf und beobachten Sie während der nächsten Stunden die Veränderungen an beiden Füßen. Wie kommt es zu den Mitreaktionen am linken Fuß?
Recherche: Welche nicht-medizinische Capsaicin-Anwendung führt immer wieder zu Todesfällen?
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Heilpflanzen-Welt (2018).
Quellen
[1] E. Teuscher, M. F. Melzig, U. Lindequist: Biogene Arzneimittel (6. Aufl.). Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 2004.
[2] Studie Naturheilmittel 2002, Institut für Demoskopie Allensbach, Bonn, 2002 (Ergebnisse).
[3] S. Bäumler: Heilpflanzenpraxis Heute (1. Aufl.). Elsevier, München, 2007.
[4] A. Kleemann, J. Engel, B. Kutscher, D. Reichert: Pharmaceutical Substances (4. Aufl.). Thieme, Stuttgart, 2001.
[5] L. Roth, M. Daunderer, K. Kormann (Hrsg.): Giftpflanzen – Pflanzengifte (4. Aufl.). ecomed, Landsberg, 1994.
[6] G. Schneider: Arzneidrogen – Ein Kompendium für Pharmazeuten, Biologen und Chemiker. BI Wissenschaftsverlag, Mannheim, 1990.
[7] T. Dingermann, D. Loew: Phytopharmakologie – Experimentelle und klinische Pharmakologie pflanzlicher Arzneimittel. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 2003.
[8] H. Schilcher, S. Kammerer: Leitfaden Phytotherapie (1. Aufl.), Urban & Fischer, München, 2000.
weitere Infos
• Monographie BGA/BfArM (Kommission E): Capsicum (Paprika). Bundesanzeiger, Heft 22A, 1.2.1990.
• Monographie BGA/BfArM (Kommission E): Chelidonii herba (Schöllkraut). Bundesanzeiger, Heft 90, 15.5.1985.
• Monographie BGA/BfArM (Kommission E): Fumariae herba (Erdrauchkraut). Bundesanzeiger, Heft 173, 18.9.1986.
• Monographie BGA/BfArM (Kommission E): Symphyti radix (Beinwellwurzel). Bundesanzeiger, Heft 138, 27.7.1990.
→ bitte weiterlesen: Wichtige pflanzliche Wirkstoffgruppen, Teil 2: Kohlenhydrate
→ bitte weiterlesen: Wichtige pflanzliche Wirkstoffgruppen, Teil 3: Polyphenole