Phytotherapie: “Der Extrakt ist der Wirkstoff”

Prof. Dr. Theo­dor Dingermann,
Phar­ma­zeut aus Frankfurt/​M.

- Neue Marktdaten und eine Expertenbewertung (Prof. Dingermann) -

Aktu­ell Heilpflanzen-Welt.de vor­lie­gen­de Ana­ly­sen des Markt­for­schungs­un­ter­neh­mens IQVIA (frü­her IMS Health) aus dem Mai 2018 geben einen Ein­blick über die aktu­el­le Bedeu­tung von Heil­pflan­zen­prä­pa­ra­ten und homöo­pa­thi­schen Arz­nei­mit­teln in der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gungs­wirk­lich­keit in Deutsch­land. Und sie wei­sen auf grund­sätz­li­che Ver­än­de­run­gen hin, die seit Jahr­zehn­ten statt­fin­den und zu deren Hin­ter­grün­den Heilpflanzen-Welt.de den Frank­fur­ter Phar­ma­zeu­ten Prof. Dr. Theo­dor Din­ger­mann befrag­te. Der aus­ge­wie­se­ne Exper­te ist sich jedoch sicher, dass der Markt der Heil­pflan­zen und Homöo­pa­thi­ka erhal­ten blei­ben wird, auch wenn die Kas­sen nur wenig davon bezahlen.

Phy­to­the­ra­peu­ti­ka Der Ver­kauf von pflanz­li­chen Arz­nei­mit­teln (Phy­to­the­ra­peu­ti­ka) über Apo­the­ken sta­gniert seit vie­len Jah­ren (jeweils rund 1,6 Mrd. Euro 2008 und 2017). Zum Leid­we­sen der Apo­the­ker mit klas­si­scher Laden-Apo­the­ke (“Offi­zin”) sinkt deren Markt­an­teil bei Phy­to­the­ra­peu­ti­ka jedoch jähr­lich um etwa ein Pro­zent ab. Davon pro­fi­tie­ren im Gegen­zug die gro­ßen Ver­sand­apo­the­ken (Zuwachs 2016:11,7%, 2017: 9,3%), deren Phy­to-Markt­an­teil 2017 auf immer­hin 16,4 Pro­zent anstieg.

Homöo­pa­thi­ka Anders sieht dies im Markt mit homöo­pa­thi­schen Arz­nei­mit­teln (Homöo­pa­thi­ka) aus. Gin­gen bei die­ser Prä­pa­ra­te­grup­pe 2008 noch Mit­tel im Wert von “nur” 430 Mio. Euro über die Apo-The­ke, war die­se Sum­me 2017 auf 630 Mio. Euro gestie­gen (eine Stei­ge­rung von +45 Pro­zent). Auch von die­sem Zuwachs bleibt bei den sta­tio­nä­ren Apo­the­ken nur wenig hän­gen, woge­gen der Apo-Ver­sand­han­del bei erheb­li­chen jähr­li­chen Zuwachs­ra­ten (2016: +21,1%, 2017: +11,7%) nun bereits einen Markt­an­teil von 18 Pro­zent erreicht hat.

Kos­ten­über­nah­me Nur etwa 15 Pro­zent der Phy­to- und Homöo­pa­thi­ka wer­den noch von Kran­ken­kas­sen bezahlt, was ins­ge­samt gera­de ein Pro­zent der gesam­ten Arz­nei­mit­tel­aus­ga­ben der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung (GKV) aus­macht. Die­ser gerin­ge Anteil ist Fol­ge ver­schie­de­ner Geset­zes­än­de­rung ab 2004, durch die die Erstat­tungs­fä­hig­keit die­ser Prä­pa­ra­te immer wei­ter ein­ge­schränkt wur­de, und die zum Unter­gang oder wirt­schaft­li­chen Schief­stand vie­ler klei­ner und mit­tel­stän­di­scher Arz­nei­mit­tel-Her­stel­ler führ­te (was zumin­dest vor­über­ge­hend zu Befürch­tun­gen eines “Unter­gan­ges der Phy­to­the­ra­pie” führ­te, sie­he zum Bei­spiel die­ser Bei­trag bei Heilpflanzen-Welt.de). Wenn aber die Kas­sen nicht zah­len, müs­sen die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten selbst in die Tasche grei­fen, wol­len sie die “natür­li­chen” und häu­fig als “neben­wir­kungs­är­mer” ein­ge­schätz­ten pflanz­li­chen oder homöo­pa­thi­schen Arz­nei­mit­tel verwenden.

Hohe Wert­schät­zung Doch die­se nack­ten Daten bil­den nur einen Teil der Ver­sor­gungs-Rea­li­tät in Deutsch­land ab. Also dem Land, in dem die Heil­pflan­zen­kun­de in Pra­xis, Ent­wick­lung und For­schung lan­ge Zeit eine welt­weit füh­ren­de Rol­le spiel­te. Und in dem die Homöo­pa­thie über­haupt erst ent­wi­ckelt wur­de, bevor sie sich über die gan­ze Erde aus­brei­te­te. Umfra­gen der letz­ten Jah­re bestä­ti­gen immer wie­der aufs neue, dass die meis­ten Men­schen in Deutsch­land Arz­nei­mit­tel aus Pflan­zen und homöo­pa­thi­sche Prä­pa­ra­te sehr schät­zen und oft­mals bevor­zu­gen wür­den (wenn dies mög­lich wäre).

Kli­ma­wan­del Aller­dings hat sich in der moder­nen Phar­ma­zie und Medi­zin die Bewer­tung von Vor­beu­gung oder The­ra­pie mit Heil­pflan­zen und Homöo­pa­thi­ka über vie­le Jahr­zehn­te hin­weg qua­li­ta­tiv geän­dert. Das “Kli­ma” hat sich in der Medi­zin gewan­delt, wenn Ver­brau­che­rin­nen und Ver­brau­cher auch noch vie­le Pro­duk­te aus eige­ner Tasche kau­fen. Einer der pro­fi­lier­tes­ten deut­schen Phar­ma­zeu­ten, Prof. Dr. Theo­dor Din­ger­mann, Frank­furt, hat die­se Zeit nicht nur mit­er­lebt, son­dern als Phar­ma­zeut, Hoch­schul­leh­rer und Fach­au­tor auch aktiv mit­ge­stal­tet. Im Inter­view mit Heilpflanzen-Welt.de äußert er sich zu dem Wan­del der Grund­auf­fas­sun­gen zwi­schen “All­o­pa­thie” (bis weit ins 20. Jahr­hun­dert die Bezeich­nung für “Schul­me­di­zin”), Phy­to­the­ra­pie und Homöo­pa­thie und den mög­li­chen Hin­ter­grün­den (Her­vor­he­bun­gen und Hyper­links im Text durch Heilpflanzen-Welt.de).

? Die nach dem Con­ter­gan-Skan­dal (Lexi­kon) immer stren­ger wer­den­den Vor­aus­set­zun­gen für die Zulas­sung von Arz­nei­mit­teln betra­fen auch Heil­pflan­zen-Prä­pa­ra­te. Kli­ni­sche Stu­di­en wur­den dadurch immer schwe­rer zu rea­li­sie­ren, nicht zuletzt auch vor dem Hin­ter­grund der feh­len­den Paten­tier­bar­keit von Heil­pflan­zen-Arz­nei­mit­teln. Hät­te an die­ser Stel­le nicht die öffent­li­che Hand mehr tun müs­sen, um den Erhalt der Phy­to­the­ra­pie zu för­dern (wie dies zum Bei­spiel immer wie­der auch von Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on WHO gefor­dert wird, oder in den USA prak­ti­ziert wird)? Wie sieht in die­sem Bereich Ihre Pro­gno­se für die Zukunft aus (Deutsch­land)?

Din­ger­mann Die Zulas­sung von Arz­nei­mit­teln beruht gene­rell auf dem Nach­weis von drei ganz ent­schei­den­den Eigen­schaf­ten: Qua­li­tät, Wirk­sam­keit und Ver­träg­lich­keit. Das gilt prin­zi­pi­ell natür­lich auch für Heil­pflan­zen-Prä­pa­ra­te (Phy­to­phar­ma­ka).

Das war nicht immer so. Frü­her – und das ist noch gar nicht so lan­ge her – wur­de ein Antrag auf “Regis­trie­rung” gestellt. Wenn die­sem statt­ge­ge­ben wur­de, war das Prä­pa­rat “ver­kehrs­fä­hig” (Lexi­kon). Das hat sich zwi­schen­zeit­lich geän­dert, auch weil immer mal wie­der Arz­nei­mit­tel wegen schwe­rer Neben­wir­kun­gen Schlag­zei­len machten.

Die Kon­se­quenz war eine ver­ord­ne­te Beweis­last­um­kehr (Lexi­kon). Es reich­te nicht mehr aus, nur zu behaup­ten, dass ein Arz­nei­mit­tel wirk­sam, ver­träg­lich und qua­li­ta­tiv akzep­ta­bel ist. Viel­mehr wur­de von den Arz­nei­mit­tel­her­stel­lern gefor­dert, dies auch mit Daten zu belegen.

Phytotherapie: Lange eminenzbasiert (Deutschland) anstatt evidenzbasiert (USA)

Für klei­ne­re Fir­men, dar­un­ter sehr vie­le Fir­men, die Phy­to­phar­ma­ka her­stell­ten, war dies damals aus eige­ner Kraft nicht zu stem­men. Man einig­te sich dar­auf, dass hier Hil­fe ange­bo­ten wur­de, die letzt­lich dar­in bestand, dass der Wirk­sam­keits­nach­weis für die Bestands­prä­pa­ra­te durch Kom­mis­sio­nen erar­bei­tet wur­de. Die­se Kom­mis­sio­nen begrün­de­ten Ihre Ent­schei­dun­gen damals haupt­säch­lich auf publi­zier­tem Wis­sen. Neu hin­ter­fragt wur­de die Wirk­sam­keit der Prä­pa­ra­te zunächst nicht (sie­he zum Bei­spiel Kom­mis­si­on E für Phy­to­the­ra­pie).

Das ist in den USA anders. Dort über­nimmt die öffent­li­che Hand teil­wei­se den Nach­weis der Wirk­sam­keit von pflanz­li­chen Arz­nei­mit­teln. Aller­dings wird die­ser Nach­weis durch teils auf­wen­di­ge kli­ni­sche Stu­di­en erbracht, die nicht immer “gut” ausgehen.

Man kann daher resü­mie­ren, dass die Wirk­sam­keit von Phy­to­phar­ma­ka im deutsch­spra­chi­gen Raum meist (jedoch nicht immer) nur indi­rekt belegt ist. Hin­sicht­lich der Qua­li­tät und Unbe­denk­lich­keit sieht es aber deut­lich bes­ser aus. Hier lie­gen den Zulas­sungs­be­hör­den Daten der Her­stel­ler vor, und ein Markt­zu­gang (Regis­trie­rung oder Zulas­sung) wird nur erteilt, wenn die Qua­li­tät und die Unbe­denk­lich­keit belegt sind (Lexi­kon).

Multi-Target-Ansatz auch für Phytotherapie nützlich

? Natur­ge­mäß sind Heil­pflan­zen-Extrak­te “Viel­stoff­ge­mi­sche” mit teil­wei­se Hun­der­ten oder sogar Tau­sen­den ver­schie­de­ner Inhalts­stof­fe. Wur­den die­se Arz­nei­mit­tel Phar­ma­zeu­ten und Medi­zi­nern ab den 70er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts viel­leicht immer “unheim­li­cher”, weil sie der damals neu­en Dok­trin von “einem Wirk­stoff = eine Wir­kung” widersprachen?

Din­ger­mann In der Tat waren lan­ge Zeit Kom­bi­na­tio­nen ver­schie­de­ner Wirk­stof­fe den klas­si­schen Phar­ma­ko­lo­gen (Lexi­kon) ein Graus. Das galt nicht nur für Phy­to­phar­ma­ka, son­dern durch­aus auch für che­misch-syn­the­ti­sche Wirk­stof­fe. Allei­ne aus dem Grund fan­den Phy­to­phar­ma­ka bei den Phar­ma­ko­lo­gen kaum oder gar kei­ne Akzep­tanz.

Das hat sich zwi­schen­zeit­lich geän­dert. Gegen “sinn­vol­le” Kom­bi­na­tio­nen hat heu­te kei­ner mehr etwas. Die­ser Wan­del hat auch den Phy­to­phar­ma­ka gehol­fen. Man spricht heu­te sehr posi­tiv von einem “Mul­ti-Tar­get-Ansatz”. Dar­un­ter ver­steht man, dass man bestimm­te Beschwer­den nicht effek­tiv kor­ri­gie­ren kann, wenn man mit einem Arz­nei­mit­tel nur eine Ziel­struk­tur ansteu­ert. Denn viel­fach resul­tie­ren die Beschwer­den aus einer Fehl­funk­ti­on ganz vie­ler “Stell­schrau­ben”.

Die­se Erkennt­nis ist für Phy­to­phar­ma­ka sehr nütz­lich. Natür­lich lei­tet sich dar­aus nicht ein Auto­ma­tis­mus ab, dass alle denk­ba­ren Wirk­stoff­kom­bi­na­tio­nen funk­tio­nie­ren soll­ten. Man braucht schon erheb­li­ches Glück, eine Arz­nei­pflan­ze zu iden­ti­fi­zie­ren, deren mole­ku­la­re Zusam­men­set­zung so abge­stimmt ist, dass mit einer Wirk­sam­keit gerech­net wer­den kann. Aber tat­säch­lich gibt es sol­che Arzneipflanzen.

? Die “Nor­mie­rung” und “Stan­dar­di­sie­rung” des Lebens seit ca. 200 Jah­ren hat auch ihren Nie­der­schlag in der Phy­to­phar­ma­zie gefun­den – in der Stan­dar­di­sie­rung von Extrak­ten. Ist dies ein – viel­leicht ver­zwei­fel­ter – Ver­such, die Kom­ple­xi­tät des Lebens auf eini­ge weni­ge, schein­bar ver­steh­ba­re Grun­den­ti­tä­ten (zum Bei­spiel die Hyperi­ci­ne in Johan­nis­kraut) zu redu­zie­ren? Wird das der Wirk­lich­keit von Pflan­ze, Extrakt und Pati­ent gerecht? Hat das Stan­dar­di­sie­rungs-Kon­zept nicht erheb­li­che Lücken, weil die kom­ple­xe Viel­stoff­wir­kung kaum Berück­sich­ti­gung findet?

Din­ger­mann Für mich sind Nor­mie­rung und Stan­dar­di­sie­rung unver­zicht­ba­re Vor­aus­set­zun­gen für gute Phy­to­phar­ma­ka. Man muss nur ver­ste­hen, was man damit errei­chen will. Natür­lich will man nicht die Kom­ple­xi­tät der Arz­nei­pflan­zen auf die­se Wei­se tri­via­li­sie­ren indem man den Anschein erweckt, als hät­te man die­se kom­ple­xen Sys­te­me final ver­stan­den. Hier geht es viel­mehr dar­um, die kom­ple­xen Sys­te­me mög­lichst gut repro­du­zier­bar zu machen.

Nicht die Pflanze, sondern der Extrakt ist der Wirkstoff

Man soll­te sich noch ein­mal vor Augen füh­ren, dass die Arz­nei­pflan­ze, oder bes­ser ein bestimm­ter Teil einer Arz­nei­pflan­ze (Dro­ge), nur der Roh­stoff für die Her­stel­lung eines Phy­to­phar­ma­kons ist. Der Wirk­stoff hin­ge­gen ist der Extrakt, der aus der Arz­nei­dro­ge mit Hil­fe unter­schied­li­cher Flüs­sig­kei­ten her­ge­stellt wird. Das kön­nen so unter­schied­li­che Flüs­sig­kei­ten wie Was­ser (dar­aus resul­tiert ein Tee), Alko­hol unter­schied­li­cher Kon­zen­tra­tio­nen oder auch Metha­nol, Ace­ton und Ethyl­ace­tat sein, um nur eini­ge weni­ge zu nen­nen. Man benö­tigt nicht viel Sach­ver­stand, um sofort zu rea­li­sie­ren, dass die ent­spre­chen­den Extrak­te sehr ver­schie­den sein müs­sen. Unter­schie­de erge­ben sich auch, wenn man unter­schied­lich lan­ge oder unter ver­schie­de­nen Bedin­gun­gen (erhit­zen, erhöh­ter Druck usw.) extrahiert.

Hier erkennt man sofort das Dilem­ma, mit dem man sich bei Phy­to­phar­ma­ka kon­fron­tiert sieht. Zusätz­lich zu der natür­li­chen Vari­anz durch ver­schie­de­ne Wachs­tums­be­din­gung der Arz­nei­pflan­zen, führt die “Belie­big­keit” der Wirk­stoff­her­stel­lung zu belie­bi­gen Pro­duk­ten. Folg­lich ist auch der the­ra­peu­ti­sche Effekt belie­big. Und ihre Wirk­sam­keit ist nicht zuver­läs­sig, son­dern zufäl­lig. Das darf nicht sein! Und als eine der weni­gen prak­ti­ka­blen Aus­we­ge aus die­sem Pro­blem bie­ten sich “Stan­dar­di­sie­rung” und “Nor­mie­rung” an.

Im Übri­gen zeigt sich auch hier der enor­me Bera­tungs­be­darf beim Erwerb von Phy­to­phar­ma­ka. Die­se Bera­tung bekommt der Pati­ent im Ver­sand­han­del sicher­lich nicht.

? Die For­mu­lie­rung, dass eine Heil­pflan­zen-Wir­kung mehr ist als die Sum­me der Ein­zel­wir­kung der Inhalts­stof­fe, deu­tet auf ein kom­ple­xe­res Gesche­hen bei der Hei­lung hin als allei­ne eine Ein­zel­wirk­stoff-Wir­kungs-Rela­ti­on (wor­auf zum Bei­spiel der Phy­to­the­ra­peut Prof. Dr. Rudolf Fritz Weiss immer wie­der hin­ge­wie­sen hat)? Wie könn­te die­ses “Mehr” erklärt wer­den? Gibt es viel­leicht eine Ebe­ne in der The­ra­pie­ge­mein­schaft aus Pati­ent, Arzt und Apo­the­ker, die im Kon­text der “Hei­lungs­ab­sicht” (inten­ti­on to heal) eine völ­lig ande­re Dimen­si­on von Wir­kung aufzeigt?

Din­ger­mann “Stan­dar­di­sie­rung” und “Nor­mie­rung” ste­hen nicht im Wider­spruch zu der Erkennt­nis, dass eine Heil­pflan­zen-Wir­kung mehr ist als die Sum­me der Ein­zel­wir­kung der Inhalts­stof­fe. Der Sinn die­ser wich­ti­gen Maß­nah­me ist ein­zig eine Annä­he­rung an die Repro­du­zier­bar­keit der Effek­te von Char­ge zu Charge.

Was in Ihrer Fra­ge als “Mehr” als die Sum­me der Ein­zel­wir­kung der Inhalts­stof­fe in den Raum gestellt wird, kommt noch ein­mal oben drauf. Ohne Fra­ge trägt ein Ver­trau­ens­ver­hält­nis zwi­schen Arzt und Pati­ent aber auch zwi­schen Apo­the­ker und Pati­ent zu einem “Mehr” an Wirk­wahr­schein­lich­keit bei. Teil­wei­se ist dies auch als Pla­ze­bo-Effekt ganz klar messbar.

? Eine Ver­än­de­rung der Phy­to­phar­ma­zie des 20. Jahr­hun­derts, sicher auch bedingt durch genaue­re Ana­ly­tik und Stan­dar­di­sie­rung, war eine Abkehr von den hohen Extrakt- und Wirk­stoff­kon­zen­tra­tio­nen der Ver­gan­gen­heit. Stich­wort “Mite-Phy­to­phar­ma­zie”. War der Preis hier­für nicht ein Ver­lust an poten­ti­el­ler Wirk­sam­keit von Phy­to­the­ra­peu­ti­ka und ihre dadurch zuneh­men­de Mar­gi­na­li­sie­rung in der Medizin?

Din­ger­mann Dem wür­de ich zustim­men. Mir sagt der Begriff “Mite-Phy­to­phar­ma­zie” nichts. Mich inter­es­siert, was tat­säch­lich wirkt. Dar­über soll­te man nicht phi­lo­so­phie­ren, son­dern man soll­te das mes­sen. Hier sind kli­ni­sche Stu­di­en erfor­der­lich, die lei­der sehr teu­er sind und daher nur sel­ten durch­ge­führt wer­den. Wie bereits oben erwähnt, geht man in den USA hier ande­re Wege. Hier wer­den die Stu­di­en von der öffent­li­chen Hand finan­ziert, weil man sagt, dass die Bevöl­ke­rung ein Recht dar­auf haben soll­te, sich auf die Wirk­sam­keit auch von Phy­to­phar­ma­ka ver­las­sen zu können.

“Heilpflanzen- und Homöopathika-Anteil im zweiten Gesundheitsmarkt zu groß”

? In den IQVIA-Ana­ly­sen wird ja nur das Gesche­hen in den Apo­the­ken erfasst. Wie groß schät­zen Sie den Anteil von nicht apo­the­ken­pflich­ti­gen Heil­pflan­zen-Pro­duk­ten und Homöo­pa­thi­ka im zwei­ten Gesund­heits­markt ein?

Din­ger­mann Die­ser Markt ist aus mei­ner Sicht lei­der viel zu groß. Der Regu­lie­rungs­stan­dard ist hier mini­mal. Vie­les wird behaup­tet, ohne dass Bele­ge vor­lie­gen, und eine aggres­si­ve Wer­bung ver­führt zum Kauf. Zudem ist das Per­so­nal außer­halb von Apo­the­ken auch nicht annä­hernd adäquat aus­ge­bil­det, um in die­sem Pro­dukt­seg­ment zu bera­ten. Gott sei Dank bezahlt dies nicht die Solidargemeinschaft.

? Wer­den pflanz­li­che Arz­nei­mit­tel und Homöo­pa­thi­ka in Deutsch­land erhal­ten blei­ben oder wer­den sie irgend­wann voll­stän­dig der “GKV-Spitz­ha­cke” zum Opfer fallen?

Din­ger­mann Ich bin sicher, dass die­ser Markt erhal­ten bleibt. Die GKV ist hier im Wesent­li­chen außen vor, und die Bevöl­ke­rung will die­se Pro­duk­te. Dies ist posi­tiv wie nega­tiv. Posi­tiv ist, dass bestimm­te Beschwer­den tat­säch­lich sehr gut mit guten Phy­to­phar­ma­ka behan­delt wer­den kön­nen. Nega­tiv ist, dass eine gewis­se “Beliebt­heit” auch von Anbie­tern aus­ge­nutzt wird, die min­der­wer­ti­ge Pro­duk­te in den Markt brin­gen, die meist mehr ver­spre­chen als sie halten.

? Ärz­ten rede­te der ehe­ma­li­ge Ärz­te­kam­mer­prä­si­dent Prof. Dr. Jörg-Diet­rich Hop­pe ins Gewis­sen, wenn er immer und immer wie­der “mehr Plu­ra­lis­mus in der Medi­zin” for­der­te. Gehö­ren denn Phy­to­phar­ma­zie und Phy­to­the­ra­pie über­haupt zu einer ande­ren Welt (nach Hop­pes Dik­ti­on), die mit der schul­me­di­zi­ni­schen Welt kom­bi­niert wer­den müs­se? Bewoh­nen wir nicht alle die glei­che Welt, in der jede prä­ven­tiv­me­di­zi­ni­sche und the­ra­peu­ti­sche Inter­ven­ti­on nur ein Ziel hat: Näm­lich Krank­heit zu ver­hin­dern oder kran­ken Men­schen opti­mal zu hel­fen und Bei­stand zu geben?

Großer Wissensunterschied bei den Ärzten, Ausbildungsdefizit

Din­ger­mann Natür­lich gehö­ren Phy­to­phar­ma­ka nicht zu einer “ande­ren Welt”, wenn es sich um qua­li­ta­tiv gute und gut unter­such­te Phy­to­phar­ma­ka han­delt. Die Prin­zi­pi­en einer phar­ma­ko­lo­gi­schen Inter­ven­ti­on sind bei che­misch syn­the­ti­schen Wirk­stof­fen und Natur­stof­fen die glei­chen: Es sind von außen zuge­führ­te Mole­kü­le, mit denen ver­sucht wird, nicht mehr kor­rekt arbei­ten­de Bio­mo­le­kü­le neu zu justieren.

Aller­dings exis­tiert ein gro­ßer Wis­sens­un­ter­schied bei den Ärz­ten hin­sicht­lich che­misch-syn­the­ti­scher Sub­stan­zen und Phy­to­phar­ma­ka. Der Grund liegt dar­in, dass ange­hen­de Ärz­te in der Aus­bil­dung kaum die Mög­lich­keit haben, Pati­en­ten zu sehen, die mit Phy­to­pha­ra­ma­ka gut behan­delt wer­den kön­nen. In der Kran­ken­haus­me­di­zin spie­len Phy­to­phar­ma­ka halt nach­voll­zieh­bar so gut wie kei­ne Rolle.

? Noch eine abschlie­ßen­de Fra­ge zur Apo­the­ken-Bera­tung. Vie­le kom­ple­men­tär- und alter­na­tiv­me­di­zi­ni­sche Prä­pa­ra­te gehö­ren zwar zu dem klas­si­schen Selbst­me­di­ka­ti­ons-Markt, bei­spiels­wei­se die soge­nann­ten Schüß­ler-Bio­mi­ne­ral­sal­ze. Vie­le ande­re Pro­duk­te, vor allem wirk­sa­me und poten­ti­ell auch neben­wir­kungs­rei­che Heil­pflan­zen-Prä­pa­ra­te benö­ti­gen jedoch Beratung/​Aufklärung durch Apo­the­ker. Ist das nicht ein Dilem­ma, wenn immer mehr die­ser Prä­pa­ra­te durch Online-Apo­the­ken ver­kauft wer­den? Kommt dabei nicht die Bera­tung zu kurz?

Din­ger­mann Ich kann dem nur zustim­men. Denn in der Tat sind alle die­se Pro­duk­te extrem bera­tungs­in­ten­siv. So kann man zunächst ein­mal zu- oder abra­ten. Abra­ten muss man immer dann, wenn klar ist, dass ein Pro­dukt bei einer bestimm­ten Indi­ka­ti­on ganz klar über­for­dert ist. Oft wird das auch ver­ant­wor­tungs­voll in den Apo­the­ken gemacht, wenn in einem per­sön­li­chen Gespräch hin­ter­fragt wur­de, für wel­chen Zweck denn das gewünsch­te Pro­dukt ein­ge­setzt wer­den soll.

Wich­tig ist aber auch, dar­auf hin­zu­wei­sen, dass man sich nicht “nur” von der Arz­nei­pflan­ze lei­ten las­sen soll­te. Wie ich bereits schil­der­te, ist der Extrakt der Wirk­stoff. Und ich hof­fe, dass klar gewor­den ist, dass es rat­sam ist, nach Prä­pa­ra­ten zu fra­gen, die ihre Wirk­sam­keit belegt haben. Sol­che Fra­gen kann man nur im Rah­men einer per­sön­li­chen Bera­tung stellen.

Und: Soll­te man den Ein­druck haben, nicht gut bera­ten zu sein, kann man auch den Arzt oder den Apo­the­ker wech­seln. Das wür­de man auch machen, wenn man mit der War­tungs­leis­tung sei­ner Auto­werk­statt nicht zufrie­den ist.

Ich emp­feh­le jedem, sich den Arzt und den Apo­the­ker sei­nes Ver­trau­ens zu suchen, solan­ge man noch gesund ist, um sich von die­sen Fach­leu­ten bera­ten zu las­sen zu The­men, die teils extrem kom­pli­ziert aber auch lebens­wich­tig sind.

Das Inter­view führ­te Rai­ner H. Buben­zer, Berlin.

Herz­li­chen Dank an IQVIA Com­mer­cial für die Bereit­stel­lung der Daten. Und beson­de­ren Dank an Dr. Gise­la Maag und Rita Cari­us für die Aus­wer­tung. Lei­der wird die nächs­te Ana­ly­se 25 Jah­ren umfas­sen müs­sen … (2004–2019).

Autor
• Rai­ner H. Buben­zer, Top-Fit-Gesund – Ber­li­ner Medi­zin­re­dak­ti­on, (Heilpflanzen-Welt.de), 2018.
Bild­nach­weis
• Por­trait: Prof. Dr. Theo­dor Din­ger­mann, Frankfurt.

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