Dr. Gary Deng
© Helixor, Rosenfeld, 2018.
Dr. Gary Deng (MSKCC, New York, USA) ist seit zwei Jahrzehnten eine der treibenden Kräfte bei der Einführung der Integrativen Onkologie (IO) in den USA. Schon jetzt profitieren zehntausende Krebspatienten hiervon. In Zukunft werden es drastisch mehr werden, denn gerade ist die erste Leitlinie für Integrative Onkologie (Brustkrebs) erschienen [1]. Im Interview mit Heilpflanzen-Welt.de berichtet Deng noch von weiteren Veränderungen der Onkologie.
Frage Prof. Deng, wie hat sich das grundlegende Verständnis von Integrativer Onkologie in den USA im Verlauf der letzten 20 Jahre verändert? Ist sie zu einem wichtigen Teil der Onkologie als Ganzes geworden oder eher ein “Feigenblatt” zum Verdecken wesentlicher Defizite der konventionellen Onkologie (Nebenwirkungen, unbefriedigende Wirkung, Körperzentrierung, Kosten)?
Deng: Was sich tatsächlich geändert hat, ist die kritische Masse an wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Integrativen Onkologie, die vielen Health Care Professionals, die heute in diesem Bereich arbeiten sowie die beträchtliche Anzahl von akademisch-universitären Krebszentren in den USA, die medizinische Programme mit Integrativer Onkologie implementiert haben. Ich bin überzeugt, dass die Integrative Medizin zunehmend zu einem Teil der Standardversorgung wird. Und: Wenn Patienten einen wirklichen Nutzen hiervon erfahren und wenn dann unsere Kollegen, die anfänglich vielleicht skeptisch gewesen sein mögen, diesen Patientennutzen im Versorgungsalltag bewusst wahrnehmen (neben der wachsenden Zahl wissenschaftlicher Evidenz dazu!), dann ist es für Onkologen nur natürlich, die Möglichkeiten der Integrativen Medizin anzunehmen und sogar willkommen zu heißen. Genau das passiert in unserer Institution, dem Sloan-Kettering Memorial Cancer Center (SKMCC) in New York. Ich glaube im Übrigen, dass Integrative Onkologie in keinster Weise ein “Feigenblatt” ist.
? Alle Krebspatienten in Deutschland sollen Zugang zu psychoonkologischer oder – später – zu qualitativ hochwertiger palliativer Versorgung haben, fordern viele Experten und Leitlinien. In Wirklichkeit funktioniert das aber nicht befriedigend, schon gar nicht in der Fläche. Das Gleiche gilt für die Integrative Onkologie. Wie gut erreicht die Integrative Onkologie die Krebspatienten in den USA?
“Mit Liebe dazu beitragen, die großen Ziele der Integrativen Onkologie zu verwirklichen”
Deng: Damit solche neuen Behandlungskonzepte in der klinischen Praxis auf breiter Basis umgesetzt werden können, braucht es nicht nur wissenschaftliche Argumente, sondern es spielen viele andere Faktoren eine Rolle. Beispielsweise gesellschaftliche, kulturelle, politische, ökonomische oder Verhaltensfaktoren (es ist schwer, Gewohnheiten zu ändern …). Unsere Lösungsideen betreffen konkret Aus- und Weiterbildung, den Aufbau von Brücken und den fortgesetzten klinischen und wissenschaftlichen Nachweis des Nutzens der Integrativen Onkologie für Patienten und die Gesellschaft als Ganzes. Slogans wie “Gesundheit für alle” oder “Wir machen die Welt zu einem besseren Ort” sind zwar anspruchsvolle und edle Zielsetzungen, die enorme Anstrengungen erfordern. Jeder von uns kann jedoch nur – Schritt für Schritt – seinen kleinen Teil mit großer Liebe dazu beitragen, damit wir zusammen diese großen Ziele erreichen.
? Integrative Medizin war ursprünglich auch ein Element der Marketingkonzepte von Krankenhäusern, ist aber nun oft zum Teil der Standardversorgung geworden, wie Sie berichten. Wie sieht es mit Integrativer Onkologie im ambulanten Setting aus?
Deng: Einige Kliniken mögen Integrative Medizin auch als Marketingkonzept auffassen. Trotzdem gibt es viele Menschen, die ernsthaft glauben, dass dies genau das Richtige ist, um die Patientenversorgung zu verbessern. Und diese Menschen tun das voller Engagement, ohne das sie diese Idee nicht weitertragen könnten. Integrative Onkologie wird in den USA mittlerweile sowohl im klinischen als auch im ambulanten Setting praktiziert. Beispielsweise halten große medizinische Einrichtungen eigene Ambulanzen für Integrative Onkologie vor oder kooperieren vielfältig mit unabhängigen Praxen von Niedergelassenen.
? Sie verwenden moderne Medien in der Umsetzung von Integrativer Medizin. Was beispielsweise? Geht dabei nicht die menschliche Berührung verloren?
Deng: Wir setzen zum Beispiel eine Online-Plattform zur Auslieferung von Multimedia-Inhalten ein. Oder geben online Mind-Body-Kurse. Natürlich geht dabei ein Teil des “human touch” verloren. Aber dank dieses Kompromisses können wir jetzt Menschen erreichen, die sonst vielleicht keinerlei Zugang zur Integrativen Medizin hätten.
? Wie viele Krebspatienten erreicht Ihre Abteilung am SKMCC pro Jahr?
Deng: Wir haben mittlerweile mehr als 30.000 Patientenkontakte pro Jahr alleine im Bereich der Integrativen Onkologie.
? Bei der Formulierung der Prinzipien der evidenzbasierten Medizin hat David Sackett nie den persönlichen Zugang zur ärztlichen Erfahrung ausgeschlossen – die uralte Methodik der Fallschilderungen/Fallbeispiele. Sollte letzteres nicht auch in der Integrativen Onkologie (wieder) eine Rolle spielen?
Deng: Dabei muss die Gesamtheit der Evidenz betrachtet werden. Und nicht nur das: Wir müssen bei unserer klinischen Entscheidungsfindung folgende Faktoren berücksichtigen: Stärke der Evidenz, Risiko und Belastung für Patienten und Alternativen. Es ist eben nicht allein die Stärke der Evidenz, die die Versorgung diktiert. Einfach, weil die Zahl der möglichen klinischen Szenarien unendlich ist und wir nur begrenzte Ressourcen haben, um Evidenzen nachzuweisen.
“Seht Eure Patienten als Freunde, als Teil Eurer Familie”
? Der Institute of Medicine-Report “From Cancer Patient to Cancer Survivor: Lost in Transition” zeigte schon 2005 ein zentrales Problem der Versorgung von Krebspatienten: Die Langzeitüberlebenden ohne angemessene medizinische Versorgung [2]. Bietet die Integrative Onkologie hierbei Chancen?
Deng: Tatsächlich ist es die Gruppe der Krebsüberlebenden, die sich am meisten für Integrative Medizin interessiert und für die die Integrative Onkologie am meisten zu bieten hat. Schließlich ist es ihr zentrales Wesen, die intrinsische Fähigkeit des Organismus zu fördern und zu stärken, wieder gesünder zu werden und zu einem menschengemäßen Leben zu finden. Und das ist genau das, was Krebsüberlebende wünschen und erreichen können.
? Ihr Vorschlag einer menschlichen Grundhaltung für die Integrative Medizin lautet: “Seht Eure Patienten als Freunde, als Teil Eurer Familie”! Ist das im 21. Jahrhundert wirklich realistisch? Gibt es religiöse Voraussetzung?
Deng: Wir praktizieren diese Philosophie und versuchen sie tagtäglich unseren Studenten zu vermitteln. Es ist gleichermaßen eine ethische Grundhaltung und eine Bewusstwerdung: Wir alle haben Familienmitglieder mit ganz unterschiedlicher Bildung, Einkommen, sozialem Status – dennoch haben wir dabei immer die besten Vorsätze und die zentralen Anliegen der Patienten im Hinterkopf. Das ist es, was ich mit meinem Vorschlag meine. Persönliche Glaubensvorstellungen spielen keine Rolle bei unserer klinischen Tätigkeit. Die ethischen Grundlagen drehen sich um Humanität und die Erleichterung menschlichen Leidens.
! Dr. Deng, vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre berührende Antworten!
Autor
Rainer H. Bubenzer, Berlin, September 2018.
Quellen
[1] Lyman GH, Greenlee H, Bohlke K, Bao T, DeMichele AM, Deng GE, Fouladbakhsh JM, Gil B, Hershman DL, Mansfield S, Mussallem DM, Mustian KM, Price E, Rafte S, Cohen L: Integrative Therapies During and After Breast Cancer Treatment: ASCO Endorsement of the SIO Clinical Practice Guideline. J Clin Oncol. 2018 Sep 1;36(25):2647–55 (Kurzfassungen: DOI | PMID; Volltext).
[2] Hewitt M, Greenfield S, Stovall E: From Cancer Patient to Cancer Survivor: Lost in Transition. National Academy Press, Washington, 2005.
• Rainer von Heilpflanzen-Welt.de traf Gary Deng bei:Integrative Medicine Meeting 2018: “Innovation & Experience in Oncology” in Rosenfeld, 17.–20.9.2018. Veranstalter: Integrative Medizin Veranstaltungs-GmbH. Chairmen: Prof. Dr. Gary Deng, Medical Director, Integrative Medicine Service, Memorial Sloan Kettering Cancer Center, New York, USA und Prof. Dr. Roman Huber, Centre for Complementary Medicine, University Hospital Freiburg, Germany.
weitere Infos
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