Wichtige pflanzliche Wirkstoffgruppen, Teil 2: Kohlenhydrate

Koh­len­hy­dra­te sind eine weit ver­brei­te­te Stoff­klas­se in tie­ri­schen, pflanz­li­chen und ein­zelli­gen Orga­nis­men. Sie wer­den aus Koh­len­di­oxid und Was­ser aus­schließ­lich von Pflan­zen und Mikro­or­ga­nis­men im Ver­lauf der Pho­to­syn­the­se gebil­det. Struk­tur­che­misch sind Koh­len­hy­dra­te ali­pha­ti­sche Poly­hy­dro­xy-monooxo­ver­bin­dun­gen und deren Deri­va­te. Sie haben größ­ten­teils die all­ge­mei­ne For­mel Cn(H2O)m. Zu den phar­ma­zeu­tisch bedeu­ten­den mono­me­ren Koh­len­hy­dra­ten gehö­ren die Monosac­cha­ri­de und die von ihnen abge­lei­te­ten Aldi­to­le (Zucker­al­ko­ho­le), Cyc­li­to­le, Uro­n­säu­ren, Keto­al­don­säu­ren und Ami­no­zu­cker. Zu den oli­go- und poly­me­ren Koh­len­hy­dra­ten gehö­ren die Oli­gos­ac­cha­ri­de, Polys­ac­cha­ri­de und Gly­kos­ami­no­gly­ka­ne. [1]

Chemie

Die Koh­len­hy­dra­te wur­den ursprüng­lich als hydra­ti­sier­te Form des Koh­len­stoffs auf­ge­fasst und 1844 von dem rus­si­schen Arzt und Che­mi­ker Carl Schmidt (1822–94) als Koh­len­hy­dra­te bezeich­net. Die­ser Name ist bei­be­hal­ten wor­den, obwohl er vom che­mi­schen Stand­punkt her unzu­tref­fend ist. Heu­te wer­den auch Ver­bin­dun­gen zu den Koh­len­hy­dra­ten gerech­net, die eine abwei­chen­de Sum­men­for­mel auf­wei­sen, zum Bei­spiel Aldon­säu­ren, Uro­n­säu­ren, Des­oxy­zu­cker, oder zusätz­lich Stick­stoff oder Schwe­fel ent­hal­ten, wie zum Bei­spiel Ami­no­zu­cker oder Muco­po­lys­ac­cha­ri­de. Monosac­cha­ri­de und Oli­gos­ac­cha­ri­de wer­den häu­fig auch Zucker bzw. Sac­cha­ri­de genannt. Die ein­zel­nen Ver­tre­ter der Koh­len­hy­dra­te wer­den mit Tri­vi­al­na­men oder davon abge­lei­te­ten sys­te­ma­ti­schen Namen bezeich­net, die die Endung ‑ose tra­gen, zum Bei­spiel Glu­co­se, Fruc­to­se [2].

Biologie

Koh­len­hy­dra­te sind in jeder tie­ri­schen und pflanz­li­chen Zel­le ent­hal­ten und gehö­ren neben den Fet­ten und Pro­te­inen zu den wich­tigs­ten Bau­stei­nen des Lebens. Sie stel­len den men­gen­mä­ßig größ­ten Anteil der auf der Erde vor­kom­men­den orga­ni­schen Sub­stanz dar. Aus­gang­ver­bin­dung für die ver­schie­de­nen Koh­len­hy­dra­te ist in der Regel Glu­co­se, die im Pro­zess der Pho­to­syn­the­se gebil­det wird. Koh­len­hy­dra­te bil­den zusam­men mit den Fet­ten und Eiwei­ßen die orga­ni­schen Nähr­stof­fe für Men­schen und Tie­re. Sie sind wich­ti­ge Inhalts­stof­fe von Arz­nei­dro­gen und wer­den viel­fäl­tig in der The­ra­pie von Erkran­kun­gen ein­ge­setzt [3].

Polysaccharide

Topin­am­bur­knol­len der Heli­an­thus tubero­sus L

Als Pflan­zen­in­halts­stof­fe sind vor allem die Polys­ac­cha­ri­de (Gly­ka­ne) von Bedeu­tung. Die­se poly­me­ren, hoch­mo­le­ku­la­ren Ver­bin­dun­gen aus meh­re­ren, etwa 30 bis meh­re­ren tau­send Monosac­cha­rid-Ein­hei­ten fun­gie­ren als Struk­tur- und Funk­ti­ons­ele­men­te (Cel­lu­lo­se, Hemic­el­lu­lo­se, Pek­ti­ne). Vie­le die­nen als Reser­ve­stof­fe (Stär­ke, Fruktane, Dex­tra­ne) und über­neh­men durch ihr Was­ser­bin­dungs­ver­mö­gen eine wich­ti­ge Rol­le im Was­ser­haus­halt der Pflan­zen. Polys­ac­cha­ri­de kön­nen, je nach struk­tu­rel­lem Auf­bau, wie zum Bei­spiel Cel­lu­lo­se in Was­ser unlös­lich sein oder ein gutes Quell­ver­mö­gen haben und gut lös­lich sein (Stär­ke, pflanz­li­che Hydrokolloide).

Koh­len­hy­dra­te und ihre medizinischen Anwen­dun­gen:
Strukturtyp/​ Name* Pflan­zen­her­kunft Ver­wen­dungs­bei­spiel
Monosac­cha­ri­de
Xylo­se Mais­stroh, Hafer­spel­zen, Laubholz Süß­stoff für Dia­be­ti­ker, für Dünndarmfunktionstest
Glu­co­se Pflan­zen­stär­ke par­en­te­r­ale Ernäh­rung, Schock­the­ra­pie, Infu­si­ons­the­ra­pie, Galenik
Fruc­to­se Früch­te, Spalt­frucht von Inu­lin oder Saccharose par­en­te­r­ale Ernäh­rung bei Leberschäden
Man­na Man­na-Esche Fra­xi­nus ornus L. Abführ­mit­tel
Sor­bi­tol Vogel­bee­re und ande­re Rosa­ceen, Hydrie­rung von Glukose Süßungs­mit­tel für Dia­be­ti­ker, mil­des Lax­ans, Diuretikum
L(+)- Ascor­bin­säu­re, Vit­amin C von Mikro­or­ga­nis­men und Pflan­zen aus Glu­co­ron­säu­re gebildet Vit­amin
Oli­gos­ac­cha­ri­de
Sac­cha­ro­se Zucker­rohr, Zucker­rü­be und vie­le ande­re Pflanzen in Hus­ten­si­rup reflek­to­ri­sche Stei­ge­rung der bron­chia­l­en Sekret­pro­duk­ti­on, Galenik
Maltose/​ Malz­ex­trakt Gers­te (Kör­ner) – Hor­denum vul­ga­re L. Rob­orans, chro­ni­sche Obstipation
Polys­ac­cha­ri­de
Stär­ke Reis, Wei­zen, Mais und andere Lebens­mit­tel, Gale­nik (als Füll- Fließ­re­gu­lie­rungs- Formentrenn‑, Bin­de- und Spreng­mit­tel bei Tablet­tie­rung, für fett­freie Sal­ben, Puder und anderes
Cel­lu­lo­se Baum­wol­le, Holz und andere Ver­bands­ma­te­ri­al (auch aus Zell­stoff), Naht­ma­te­ri­al (z.B. Lei­nen), Galenik
Inu­lin Topin­am­bur – Heli­an­thus tubero­sus L. Nie­ren­funk­ti­ons­prü­fung
Agar Rot­al­gen – Rhod­o­plan­tae Abführ­mit­tel, Gale­nik, Diä­te­ti­ka, mikro­bio­lo­gi­sche Diagnostik
Pek­tin Frucht­säf­te Diar­rhoe, Gas­troen­teri­tis, kalo­rien­ar­me Diä­te­ti­ka, Hämos­typ­ti­kum, Galenik
immun­sti­mu­lie­ren­de Polysaccharide Shii­ta­ke­pilz – Len­tinu­la eodes SING., Wil­der Indi­go – Bap­ti­sia tinc­to­ria L., Lebens­baum – Thu­ja occi­den­ta­lis L. u.a. ähn­lich wie bei Kon­takt mit bak­te­ri­el­len Zell­wand-Polys­ac­cha­ri­den kommt es zu einer Beschleu­ni­gung ein­zel­ner Abwehrfunktionen
Wei­zen­kleie Getrei­de­scha­len von Wei­zen – Tri­ti­cum aes­ti­vum L. quell­fä­hi­ger Bal­last­stoff bei Obstipation
* die­se Über­sicht zeigt nur aus­ge­wähl­te typische Ver­tre­ter der Gruppen

Beispiel Cellulose

Baum­wol­le in Blü­te: Baum­wol­le – wich­tigs­ter Natur­stoff­lie­fe­rant der Medizin

Ein in der Medi­zin beson­ders häu­fi­ges Koh­len­hy­drat ist das Polys­ac­cha­rid Cel­lu­lo­se. Es ist Haupt­be­stand­teil der pflanz­li­chen Zell­wand. Cel­lu­lo­se ist aus Glu­co­se­ein­hei­ten, die 1,4‑-glykosidisch ver­knüpft sind, auf­ge­baut. Eine Spal­tung ist bei Mensch und Tier auf­grund feh­len­der Enzy­me nicht mög­lich. In Was­ser und den übli­chen Lösungs­mit­teln ist Cel­lu­lo­se unlös­lich. Nahe­zu rei­ne Cel­lu­lo­se liegt in den Samen­haa­ren der Baum­wol­le vor (bis 98%) [4].

Die Natur­fa­ser von Baum­wol­le wird aus den Samen­haa­ren von Pflan­zen der Gat­tung Baum­wol­le (Gos­sy­pi­um, oft von Gos­sy­pi­um hir­su­tum L.) gewon­nen. Die bis zu 4cm lan­gen und bis 40 μm brei­ten, röh­ren­för­mi­gen Fasern aus fast rei­ner Cel­lu­lo­se kön­nen zu dün­nen Fäden ver­spon­nen und zu Tex­ti­li­en wei­ter ver­ar­bei­tet wer­den. Baum­wol­le kann kapil­lar in weni­gen Sekun­den über das 20fache ihres Gewich­tes an Was­ser oder wäss­ri­gen Flüs­sig­kei­ten auf­neh­men. Durch ihre auch in nas­sem Zustand sehr gute Form­be­stän­dig­keit ist sie her­vor­ra­gend als Ver­band­wat­te und zur Her­stel­lung von Ver­band­mull sowie Tam­po­na­de­bin­den geeig­net. Baum­wol­le ist in der Medi­zin der men­gen­mä­ßig am häu­figs­ten ein­ge­setz­te pflanz­li­che Natur­stoff (zusätz­lich: Bett­wä­sche, ope­ra­ti­ve Abdeck­ma­te­ria­li­en, Beklei­dung) [5]. Wesent­lich für die­sen brei­ten Ein­satz ist die struk­tu­rel­le Inte­gri­tät der poly­me­ren Fasern, zum Bei­spiel bei Rei­ni­gung, Des­in­fek­ti­on oder Ste­ri­li­sa­ti­on (Auto­kla­vier­mög­lich­keit), ihre Reiß­fes­tig­keit oder die feh­len­de che­mi­sche Inter­ak­ti­on (zum Bei­spiel gerin­ges All­er­gie­po­ten­ti­al) [6].

Anregung Recherche/​​Selbstversuch

Anre­gung Recherche/​​Selbstversuch: die Glas­öff­nung kurz nach dem Ver­lö­schen der Flam­me auf die Haut. Wie ent­steht phy­si­ka­lisch der jetzt auf­tre­ten­de Unter­druck? Was ist phy­sio­lo­gisch die Ursa­che der anschlie­ßen­den ges Getränk und beob­ach­ten Sie anschlie­ßend, ob es zu einer ver­stärk­te Haut­rö­tung? Wie kann – ratio­nal erklärt – eine topi­sche Haut­rei­zung die Funk­tio­nen inne­rer Orga­ne beein­flus­sen (Soma­to­to­pien)?

Selbst­ver­such: Trin­ken Sie ein sehr süßes, zucker- oder honig­hal­ti­Ex­trem leicht ent­flamm­ba­re Wat­te aus Baum­wol­le oder Vis­co­se hat die klas­si­sche Schröpf­­kopf-The­ra­pie ver­bes­sert (war­um?). Zün­den Sie einen Flo­cke Wat­te in einem schma­len Trink­glas an. Set­zen Sie das n Schleim­bil­dung in den tie­fe­ren Atem­we­gen und einem erleich­ter­ten Abhus­ten kommt. Wenn ja, warum?

Autor
• Rai­ner H. Buben­zer, Heil­pflan­­zen-Welt (2018).
Quel­len
[1] S. Bäum­ler, Heil­pflan­zen­pra­xis Heu­te, 1. Aufl., Else­vier, Mün­chen, 2007.
[2] E. Stein­eg­ger und R. Hän­sel, Lehr­buch der Phar­ma­ko­gno­sie und Phy­to­phar­ma­zie, 4. Aufl., Sprin­ger, Ber­lin, 1988.
[3] Kom­pakt­le­xi­kon der Bio­lo­gie, CD-ROM-Ausg. (Hrsg. E. Brech­ner, B. Din­ke­la­ker, D. Drees­mann und M. Held), Spek­trum Akad. Verl., Hei­del­berg, 2002.
[4] G. Schnei­der, Arz­nei­dro­gen – Ein Kom­pen­di­um für Phar­ma­zeu­ten, Bio­lo­gen und Che­mi­ker, BI Wis­sen­schafts­verl., Mann­heim, 1990.
[5] E. Teu­scher, M. F. Melzig und U. Lin­de­quist, Bio­ge­ne Arz­nei­mit­tel, 6. Aufl., Wiss. Ver­lags­ges., Stutt­gart, 2004.
[6] Hun­ni­us Phar­ma­zeu­ti­sches Wör­ter­buch, 8. Aufl. (Hrsg.: A. Bur­ger und H. Wach­ter), de Gruy­ter, Ber­lin, 1998.
wei­te­re Infos
Man­na Monographie
Wich­ti­ge pflanz­li­che Wirk­stoff­grup­pen, Teil 1: Alkaloide
Wich­ti­ge pflanz­li­che Wirk­stoff­grup­pen, Teil 3: Polyphenole

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