Polyphenole sind eine Sammelbezeichnung für aromatische Verbindungen, die mindestens zwei phenolische Hydroxy-Gruppen im Molekül enthalten (Polyole). Zu der sehr heterogenen Stoffgruppe werden Flavonoide, Anthocyane und Phenolcarbonsäuren gezählt [1].
Biologie
Zistrosen
In der Natur treten freie und veretherte Polyphenole in Blütenfarbstoffen (Anthocyane, Flavone), in Gerbstoffen (Catechine, Tannine), als Flechten- oder Farn-Inhaltsstoffe (Usninsäure, Acylpolyphenole), in Ligninen, als Gallussäure-Derivate usw. auf. Man kann von mehreren tausend natürlich vorhandenen Verbindungen ausgehen. Alleine von der Untergruppe der Flavonoide sind mehr als 6.000 Stellungsisomere bekannt. Neben Blütenfarbe oder Aroma sind Polyphenole auch am Schutz vor Schädlingen und Krankheiten mitbeteiligt (fungizide und insektizide Wirkung). Zudem schützen sie die Pflanze vor oxidativen Schäden. Nur Pflanzen sind zur Biosynthese dieser aromatischen Verbindungen aus aliphatischen Vorstufen fähig [2].
Chemie
Die Polyphenole basieren chemisch auf der Struktur des Phenolrings. Sie werden in zwei große Untergruppen gegliedert:
“Wichtige Polyphenolgruppen mit medizinische Wirkungen”
Untergruppe | Naturstoffe | biochemische Funktionen |
Phenolsäuren (Gerbsäuren) | Hydroxyzimtsäuren (Kaffeesäure, Ferulasäure; die verbreitetsten sekundären Pflanzenstoffe in der Natur) | * Hemmung der Kanzerogenese * Antioxidans * antimikrobielle Eigenschaften * Kardioprotektion* Entzündungshemmung |
Flavonoide | Flavone Isoflavonoide (Genistein, Daidzein) Flavonole (Quercetin) Flavanole Flavanone Anthozyane Proanthozyane |
* Antioxidans * Hemmung der Kanzerogenese * antimikrobielle Eigenschaften * antivirale Wirkung * Immunsuppression * Entzündungshemmung* Hemmung der Thrombozytenaggregation |
nach: Leitfaden Ernährungsmedizin, 1. Aufl. (Hrsg.: M. Miko, M. Kraft und R. J. Schulz), Elsevier/Urban & Fischer, München, 2006, S. 91 ff. |
Phenolsäuren
Sie kommen in sehr vielen Pflanzen vor, insbesondere in den Randschichten, wo sie zur Stabilität der Zellwände in den Schalen beitragen. Durch die Verarbeitung der Pflanzen wird der Phenolsäuregehalt deutlich reduziert. So enthält zum Beispiel Vollkornweizen 500mg Phenolsäuren pro kg, niedrig ausgemahlenes Weizenmehl hingegen nur noch 50mg/kg. Etwa ein Drittel der Gesamtzufuhr an Polyphenolen entfällt auf Phenolsäuren. Die in Tierversuchen gezeigte Beeinflussung von Tumoren durch Phenolsäuren konnte in Humanstudien bisher nicht bestätigt werden. Möglicherweise hemmen Phenolsäuren während der Nahrungszubereitung sowie im Verdauungstrakt die Bildung von kanzerogenen heterozyklischen Aminen und Nitrosaminen. Als weiterer protektiver Mechanismus gilt die Verhinderung der Aktivierung von Prokanzerogenen (Hemmung von Phase-I-Enzymen). Außerdem reagieren Phenolsäuren mit Kanzerogenen, wie polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK), zu biologisch inaktiven Komplexen [3].
Flavonoide
Die Flavonoide sind die in der Nahrung am häufigsten vorkommenden Polyphenole und befinden sich vor allem in den Randschichten und den äußeren Blättern fast aller Pflanzen. Derzeit sind etwa 6.500 verschiedene Strukturen bekannt, die eine Vielfalt gesundheitsfördernder Wirkungen besitzen [4]. Die Flavonoidkonzentration in Pflanzen wird unter anderem durch die Sorte, die Anbaubedingungen sowie das Klima, insbesondere die jahreszeitlich bedingte Lichtintensität, beeinflusst. Flavonoide tragen etwa zu zwei Drittel zur alimentären Gesamtzufuhr an Polyphenolen bei.
Epidemiologische Studien weisen auf einen inversen Zusammenhang zwischen der Flavonoidzufuhr und dem Risiko für verschiedene Erkrankungen hin. So senkt eine hohe Flavonoidaufnahme das Sterblichkeitsrisiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen um ein Drittel. Diese Effekte sind vermutlich auf eine Beeinflussung verschiedener Faktoren der Blutgerinnung durch Flavonoide zurückzuführen. Als eine mögliche Ursache der antikanzerogenen Wirkung von Flavonoiden wird die Entgiftung aggressiver Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen durch diese Polyphenole angesehen. Weitere Effekte zeigen Flavonoide auf das Immunsystem, wobei jedoch widersprüchliche Aussagen vorliegen. Flavonoide aus grünem Tee zeigen antimikrobielle Wirkungen bei bakterieller Stomatitis, Flavonoide aus Moosbeeren-Saft (Gattung Vaccinium) verringern das Risiko von Harnwegsentzündungen [5].
Anthocyane
Johannisbeeren
Die Anthocyane sind eine Untergruppe der Flavonoide und stellen die größte Gruppe der rot-blau-schwarzen Farbpigmente im Pflanzenreich dar. Besonders reich an Anthocyanen sind rot, violett und blau gefärbte Beeren und Früchte (schwarze Johannisbeeren, Brombeeren. Heidelbeeren. Blutorangen, rote Weintrauben) sowie daraus hergestellte Säfte bzw. Rotwein. Auch Hülsenfrüchte mit schwarzen oder roten Schalen sowie verschiedene Gemüsearten (rote Zwiebeln. Auberginen) enthalten Anthocyane. Wie die anderen Flavonoide zeigen Anthocyane in vitro ein hohes antioxidatives Potenzial, das als Schutzfaktor für Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen gilt. Aufgrund der sehr niedrigen Bioverfügbarkeit der Anthocyane ist die antioxidative Wirkung beim Menschen allerdings fraglich und konnte bisher noch in keiner Humanstudie bestätigt werden [6].
“French Paradoxon”
Dieser Begriff umschreibt die Tatsache, dass in Frankreich und anderen Mittelmeerländern Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen wesentlich seltener auftreten als in anderen Industrieländern, obwohl die entsprechenden Risikofaktoren (Rauchen, Übergewicht, hohe Blutfettwerte, Blutdruck und anderes) in beiden Regionen genauso häufig sind. Dies wird teilweise mit der Zufuhr von Polyphenolen, vor allem aus Rotwein, begründet. Eventuell könnte der regelmäßige, maßvolle Konsum von Alkohol bei Gesunden das Risiko für koronare Herzerkrankungen senken. Außerdem können die in Weintrauben, Traubensaft und Rotwein enthaltenen Polyphenole die Arterienwände sowie das LDL-Cholesterin vor oxidativen Schäden schützen, die zum Entstehen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen beitragen. Wahrscheinlich sind jedoch noch weitere Faktoren der Mittelmeerkost (hoher Verzehr von Gemüse, Obst, Getreide und Olivenöl, geringer Fleischverzehr) in ihrer Gesamtheit sowie der sonstige Lebensstil (Siesta) für die niedrigeren Raten an Herz-Kreislauf-Erkrankungen verantwortlich [3].
Beispiel hochpolymere Polyphenole
Polyphenole haben in vitro ein breites antivirales Spektrum, zu dessen prophylaktischer oder therapeutischer Bedeutung hinsichtlich mortalitätsrelevanter Infektionskrankheiten aber noch keine großen kontrollierten Studien vorliegen. Belgische Forscher um Arnold Vlietinck kamen 1999 zu dem Schluss, dass die antivirale Potenz von Polyphenolen grundsätzlich aus einer Bindung an die Viren selbst (zum Beispiel Herpes simplex-Viren, HI-Viren und andere) und damit letztlich aus einer Verhinderung der Virusadhäsion an empfängliche Zellen besteht [7]. Aus Sicht der Arbeitsgruppe könnten Polyphenole die einzigen unspezifisch wirksamen viruziden Wirkstoffe in der Natur sein. Zu diesem Schluss kommt im gleichen Jahr auch die japanische Arbeitsgruppe um Hiroshi Sakagami, die zudem bemerkte, dass Polyphenole unspezifisch Virusenzyme hemmen können, die zur viralen Replikation notwendig sind [8]. Arbeitsgruppen des Friedrich Löffler-Institutes und der Universität Münster konnten schließlich 2007 zeigen, dass die antiviralen Effekte eines Polyphenolextraktes einer speziellen Pflanze (Cistus incanus ssp. Pandalis), sowohl bei Influenzaviren als auch Vogelgrippeerregern antiviral wirksam ist (in vitro, in vivo), also bei Infektionskrankheiten mit hoher Sterblichkeitslast [9, 10].
In wässrigen Extrakten der genannten Zistrosenvarietät wurden zahlreiche Polymere nachgewiesen, und anderem
* Flavonol-O-Glykoside, zum Beispiel Myricetinderivate (-glucoside, ‑galactoside, ‑pentosid), Quercetinderivate ( ‑glucoside, galactoside, ‑pentosid, ‑rhamnosid)
* Flavan-3-olé (Catechine) und Proanthocyanidine, zum Beispiel Catechin, Gallocatechin, Catechin-3-O-rhamnosid, Gallocatechin-3-O-Gallat, Catechin-(4α-à8)-gallocatechin, Gallocatechin-(4αà8)-Catechin (=Procyanidin B1), Epigallocatechin-(4βà8)-catechin, Epigallocatechin-(4βà8)-gallocatechin (=Prodelphinidin B1) und andere.
Polymorphismus
Bei Untersuchungen zu den Schwankungen von Wirkstoffgehalten unterschiedlicher Zistrosenchargen stellte sich heraus, dass diese Pflanzengattung einen erheblichen Polymorphismus aufweist. Aufgrund regional bedingter unterschiedlicher Umwelteinflüsse bilden sich infolge radiärer Adaptation neue stabile Unterarten der Pflanze heraus. Den höchsten Gehalt hochpolymerer Polyphenole zeigt nach derzeitigem Wissen ausschließlich die in begrenzten Regionen Griechenlands vorkommende oben genannte Subspezies. Diese Unterart ist auch die einzige, bei der die natürliche antivirale Aktivität nachgewiesen worden ist.
Anregungen
Überlegung: Zum Schutz vor viralen Atemwegsinfektionen stehen Zubereitungen von Cistus incanus ssp. Pandalis als Tabletten, Gurgellösung, Tee zur Verfügung. Wie könnte der infektblockierende Schutz auch auf andere Schleimhäute der Atemwege erweitert werden?
Recherche: Bei längerer Anwendung antioxidativer Vitamine steigt die Mortalität, wie sich allmählich herausstellt. Was sind die möglichen Ursachen?
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Heilpflanzen-Welt (2018).
Quellen
[1] Römpp Lexikon Chemie, CD-ROM Version 2.0 (Hrsg.: J. Falbe), Thieme, Stuttgart, 1999.
[2] Polyphenols, Wine and Health, 1. Aufl. (Hrsg.: C. Chèze, J. Vercauteren und R. Verpoorte), Kluwer, Dordrecht, 2001.
[3] Leitfaden Ernährungsmedizin, 1. Aufl. (Hrsg.: M. Miko, M. Kraft und R. J. Schulz), Elsevier/Urban&Fischer, München, 2006.
[4] Wiley Encyclopedia of Food Science and Technology, 2. Aufl. (Hrsg.: F. J. Francis), Wiley-Interscience, Hoboken, 1999.
[5] Hagers Handbuch der Drogen und Arzneistoffe, HagerROM 2006 (Hrsg. W. Blaschek, S. Ebel, E. Hackenthal, U. Holzgrabe, K. Keller, J. Reichling und V. Schulz), Springer, Heidelberg, 2006.
[6] K. Koerber, T. Männle, C. Leitzmann, U. Becker und W. Franz, Vollwerternährung – Konzeption einer zeitgemäßen und nachhaltigen Ernährung, 10. Aufl., Thieme, Stuttgart, 2004.
[7] T. de Bruyne, L. Pieters, M. Witvrouw, E. de Clercq E, D. van den Berghe und A. J. Vlietinck, J Nat Prod. 1999, 62, 954–8.
[8] H. Sakagami , T. Sakagami und M. Takeda, Polyphenol Actualites 1995, 12, 30–32.
[9] C. Ehrhardt, E. R. Hrincius, V. Korte, I. Mazur, K. Droebner, A. Poetter, S. Dreschers, M. Schmolke, O. Planz und S. Ludwig, Antiviral Res. 2007, 76, 38–47.
[10] K. Droebner, C. Ehrhardt, A. Poetter, S. Ludwig und O. Planz, Antiviral Res. 2007, 76, 1–10.
weitere Infos
• Wichtige pflanzliche Wirkstoffgruppen, Teil 1: Alkaloide
• Wichtige pflanzliche Wirkstoffgruppen, Teil 2: Kohlenhydrate