Vorbemerkung: Immer wieder mal stolpere ich über Arbeiten zur Homöopathie, zur Biochemie nach Schüßler oder anderen komplementärmedizinischen Verfahren. Das 2003 erschienene Büchlein von Bettina Berger “Krankheit als Konstruktion” hat es besonders in sich [1]. Als Nicht-Medizinerin und Geisteswissenschaftlerin hat sie versucht, sich dem jahrhundertealten Phänomen der Homöopathie zu nähern. Besonders ein kurzer Abschnitt (unten zitiert) hat mich besonders angesprochen. Sie beschreibt dort einen Teil der homöopathischen Methodik als spezielle Muster-Erkennung und ‑Deutung bei der Betrachtung der „Gesamtheit der Phänomene einer Krankheitserscheinung“. Damit zeigt sie gleichzeitig Besonderheiten und Eigenarten der Homöopathie als auch die von Hahnemann mitbegründeten wissenschaftlichen Arbeitsgrundlagen, aus denen die naturwissenschaftliche Medizin entstand. Warum ist diese bei Hahnemann beginnende extreme Individualisierung von Patient und Krankheit (quasi: es gibt soviel verschiedene Krankheiten wie Patienten) so faszinierend? Eine der ganz aktuellen Gründe sind Veränderungen in der “Schulmedizin”, deren Vertreter zunehmend zu Personalisierung und Individualisierung (zunächst in der Krebsmedizin) gezwungen werden. Immer häufiger kommt es zu der Situation, dass – bei einer von außen betrachtet immer gleich erscheinenden Erkrankung – eine hochindividualisierte Mittelwahl notwendig wird, gefolgt von ebenfalls von Mensch zu Mensch unterschiedlichen Dosierungen. Für die Schulmedizin ist das mehrheitlich noch beunruhigend, für die Homöopathie ist das seit 200 Jahren tagtäglich geübte Praxis.
Die Phänomenologie der Medizin
Gegenstand der Homöopathie ist der kranke Mensch als Individuum, nicht als Fall einer Krankheit. In seiner Heilkunde der Erfahrung von 1805 befindet Hahnemann, „daß kein Mensch dem anderen ganz gleich ist in irgendwelcher erdenklichen Hinsicht“ und „jeder vorkommende Krankheitsfall als eine individuelle Krankheit angesehen und behandelt werden muß, die sich noch nie so ereignet hat, als heute, in dieser Person und unter diesen Umständen, und genau eben so nie wieder in der Welt vorkommen wird.“[2]
Hahnemann schließt auf eine Kraft, die die Teile des Organismus in reibungslosem Zusammenhang hält, ohne sie lokalisieren oder näher definieren zu können. Er nimmt diese ‚Lebenskraft’ als physiologische Größe an, will sie in keiner Weise als ‚hyperphysischen Ursprungs’ verstanden wissen und distanziert sich an mehreren Stellen vom spekulativen Vitalismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Seine größte Leistung sieht Braun aber in der arzneilichen Erfassung des Individuums. Mit der ähnlichen Arznei, die der Krankheitsabwehr ihren Krankheitsfeind täuschend ähnlich vorstellt, stimuliert die Homöopathie solange die Abwehr, bis die Heilung erreicht ist. Hensel vergleicht die Homöopathie mit einem physiologischen Lernprozess.[3]
Ich bezeichne die Homöopathie als Phänomenologie der Medizin, weil sie eben jene Einstellung vertritt: Sie sammelt die Gesamtheit der Phänomene einer Krankheitserscheinung und deutet sie als Zeichenmuster eines dahinterstehenden nicht sichtbaren Wesens. Hahnemann hat die qualitative Ähnlichkeitsbeziehung zwischen heilender Arznei und ähnlicher Krankheit genau definiert. Sie liegt uns vor im § 153 der 6. Auflage des „Organon der rationellen Heilkunst“:
Bei dieser Aufsuchung eines homöopathisch spezifischen Heilmittels, das ist, bei dieser Gegeneinanderhaltung des Zeichenbegriffes der natürlichen Krankheit gegen die Symptomreihen der vorhandenen Arzneien, um unter diesen eine, dem zu heilenden Übel in Ähnlichkeit entsprechende Kunstkrankheitspotenz zu finden, sind die auffallenderen, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigenheitlichen Zeichen und Symptome des Krankheitsfalles besonders und fast einzig fest ins Auge zu fassen, denn vorzüglich diesen müssen sehr ähnliche in der Symptomreihe der gesuchten Arznei entsprechen, wenn sie die passendste zur Heilung sein soll. Die allgemeinen und unbestimmten: Eßlustmangel, Kopfweh, Mattigkeit, unruhiger Schlaf, Unbehaglichkeit usw. verdienen in dieser Allgemeinheit und wenn sie nicht näher bezeichnet sind, wenig Aufmerksamkeit, da man so etwas allgemeines fast bei jeder Krankheit und jeder Arznei sieht.[4]
Es werden eben nicht die nosologischen Symptome, also die auf ein bestimmtes Krankheitsbild zutreffenden Symptome beachtet, sondern diejenigen, welche aus ebenjenen herausfallen. Die pathognomonischen Symptome sind eben nicht individuell, nicht ungewöhnlich und im allgemeinen nicht ausschlaggebend für ein Simile. Nur, wenn solche allgemeinen Symptome näher bezeichnet und durch individuelle Modalitäten bestimmt werden, dann können sie zum Simile der Arzneimittelwahl werden.
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Gesundheitsberater, Berlin, 10. Dezember 2018.
Bildnachweis
• Unitypix (fotolia.com, 34971605).
Quellen
[1] Bettina Berger: Krankheit als Konstruktion. Diabetes mellitus im Vergleich von Schulmedizin und Homöopathie. KVC, Essen, 2003.
[2] Samuel Hahnemann: Heilkunde der Erfahrung. Berlin, In Commission bei L.W. Wittich, 1805 (Volltext).
[3] Hensel H: Naturwissenschaft und Medizin im Umbruch. Deut Apothekerzeitung. 1976;28:230–3.
[4] Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst (6. Auflage, 1842). Schwabe, Leipzig, 1921 (Volltext).