Vor 250 Jahren wurde Samuel Hahnemann (1755–1843) geboren. Der Begründer der Homöopathie wird in diesem Jahr weltweit geehrt. Keine medizinische Schule der Neuzeit hat sich so lange gehalten wie die Homöopathie. Und keine medizinische Lehre teilt Anhänger und Kritiker in so unvereinbare Lager. Während Anhänger die Erfolge der sanften Wirkung von potenzierten Arzneimitteln feiern, stempeln Kritiker diese als unwissenschaftlich ab. Weil Hochpotenzen nachweislich keine Wirkstoffe mehr enthalten, werden die Heilerfolge Placebo-Effekten, psychosomatisch stimulierten Selbstheilungskräften oder dem Prinzip “Glaube versetzt Berge” zugeschrieben.
Samuel Hahnemann
Unkenntnis und Aderlass
In diesem Spannungsfeld steht Homöopathie seit der Formulierung der ersten Postulate Hahnemanns. Seine Gedanken und Ansätze sind im Kontext der damaligen Geschichte, der damaligen Medizin zu verstehen: Als Hahnemann zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Homöopathie entwickelte, war die Medizin auf einem wissenschaftlich niedrigen Entwicklungsstand im Vergleich zu heute. Selbst an der renommierten Leipziger Universität, an der später auch Hahnemann studierte, erhielten Studenten ihre ärztliche Ausbildung, indem sie “Vorlesungen” besuchten. Diese sind wörtlich zu nehmen, denn die Professoren lasen ihren Studenten ausschließlich aus klassischen Medizinwerken vor, im besten Fall gefolgt von Diskussionen. Es gab keine empirischen Kenntnisse über die Ursachen, Entstehungen oder Heilung von Krankheiten. Auch das Sezieren von Toten, welches anatomische Kenntnisse gefördert hätte (seit der Renaissance, 16. Jahrh. erlaubt), wurde nicht praktiziert. Die Studenten sahen während ihres Studiums niemals Kranke. Die so ausgebildeten Ärzte quälten später – in großer praktischer Unkenntnis – ihre Patienten mit sinnlosen Maßnahmen. Aderlassen, Klistieren oder gewaltige Mengen oft giftiger Medikamente wie z. B. Quecksilber waren Mittel der Wahl, um häufige Infektionen wie Syphilis, Tuberkulose oder epidemisch auftretende Seuchen wie Cholera zu bekämpfen.
Auszug aus Goethes Faust (1): Vor dem Tor.
Faust im Dialog mit Wagner: “Hier war die Arzenei, die Patienten starben,
Und niemand fragte: wer genas?
So haben wir, mit höllischen Latwergen,
In diesen Tälern, diesen Bergen,
Weit schlimmer als die Pest getobt.
Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben,
Sie welkten hin, ich muss erleben
Dass man die frechen Mörder lobt.”
Ein vieldeutiger Charakter
Der Versuch, ein objektives Bild von der Persönlichkeit Hahnemanns zu zeichnen, muss scheitern. Je nach Position der Biographen, ob Anhänger oder Gegner der Homöopathie, wird die Beurteilung völlig unterschiedlich ausfallen. Einigkeit besteht über das rastlose Leben Hahnemanns (er zog samt Familie 20 Mal um): Die einen führen dies auf seine Unzufriedenheit mit dem bestehenden medizinischen System und der Suche nach Neuem zurück; die Anderen interpretieren es als Ausdruck einer schwierigen Persönlichkeit, die sich nirgends einfügen konnte. Einigkeit besteht auch bei der Beurteilung seines Forscherdrangs, Fleißes oder der Neugierde auf Neues: Als Student und später als Arzt verdiente Hahnemann seinen Unterhalt unter anderem mit Übersetzungen von medizinischen Werken aus dem Lateinischen oder Englischen ins Deutsche. Die Übersetzungen waren nicht nur Verdienstmöglichkeit, sondern wesentlicher Teil seines fortwährenden Studierens und Lernens (im Gegensatz zu seinen ärztlichen Zeitgenossen). So kam Hahnemann mit zahlreichen neuen wissenschaftlichen Theorien oder medizinischen Arbeiten in Berührung, die ihm als Quelle und Anstoß zur Entwicklung seiner Lehre und zahlreichen eigenen Veröffentlichungen dienten.
Die ersten Jahre
Christian Friedrich Emanuel Hahnemann wurde am 10. April 1755 in Meißen geboren. Sein Vater war Porzellanmaler, erkannte die Begabungen des Sohnes und ermöglichte ihm eine höhere Bildung. Der junge Hahnemann durfte die lateinische Stadtschule besuchen und erhielt als begabter Schüler einen Freiplatz an der Fürstenschule in Sachsen. Hahnemann nutzte seine Chance, schloss mit Auszeichnung ab und erhielt vom Vater die Erlaubnis, Medizin zu studieren. Erste Stationen seines Lebens: 1777 Studium in Leipziger Studium, 1779 legte Hahnemann sein Doktorexamen in Erlangen ab und kehrte nach Leipzig zurück, um Chemie zu studieren. 1782 lernte Hahnemann die Apothekertochter Henriette Küchler kennen und heiratete sie. Zusammen hatten sie elf Kinder. Zeitweise arbeitete Hahnemann als Landarzt, Gerichtsmediziner oder führte sogar ein Krankenhaus, erhielt jedoch auf seine brennenden medizinischen Fragen wenig befriedigende Antworten. Er hielt z. B. nichts von Aderlässen oder anderen drakonischen Maßnahmen seiner Zeit und suchte nach schonenderen Methoden. Weil es ihm nicht gelang Krankheiten wirksam zu heilen, wandte er sich schließlich von der Medizin ab und beschäftigte sich mit der Chemie.
Harte Prüfungen
Seine Familie hungerte und lebte in großer Armut, weil die mageren Einkünfte aus Übersetzungen nicht ausreichten. 1790 gilt als Geburtsjahr der Homöopathie und als Wendepunkt: Hahnemann übersetzte die “Lectures on the Materia medica” von William Cullen (1710–90). Der schottische Arzt hatte in seiner Arbeit u. a. Chinarinde als wirksames Mittel gegen Malaria beschrieben und führte deren Wirkung auf einen magenstärkenden Einfluss zurück. Diese Aussage stieß bei Hahnemann auf Widerspruch. Hahnemann selbst war in Siebenbürgen an Malaria erkrankt und hatte die Wirkung der Rinde am “eigenen Leibe kennengelernt”, wie er autobiographisch einmal beschrieb. Um die Behauptung Cullens zu widerlegen, führte Hahnemann mehrere Selbstversuche mit Chinarinde durch und durchlitt dabei die charakteristischen Symptome des Fiebers. Er hatte das “Ähnlichkeitsprinzip” entdeckt, formulierte den Lehrsatz: ’similia similibus curentur’ – ‘Ähnliches möge mit ähnlichem behandelt werden’ und publizierte ihn 1796 in dem Beitrag “Versuch über ein neues Prinzip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen” in Hufelands “Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst”. Die nächsten Jahre verbrachte er mit weiteren Studien: Er beobachtete, zeichnete akribisch auf, wiederholte die Versuche unzählige Male. Hahnemann führte seine Arzneimittelprüfungen an sich selbst, seinen Familienmitgliedern oder Studenten durch. Er überprüfte Medikamente auf pflanzlicher, tierischer, mineralischer Grundlage. Bei seinen späteren Forschungen erkannte Hahnemann, dass kleinste Arzneigaben oft stärkere Wirkungen besaßen als große. Er begann Grundstoffe zu verreiben, verdünnte (z. B. mit Weingeist) und verschüttelte sie, wobei diese eine energetische Umwandlung (Potenzierung) erfahren sollten. Fasziniert von der Wirkung der “potenzierten” Wirkstoffe, entstanden die Homöopathika mit der Angabe ihrer dezimalen Verdünnungsstufe (D1 – 1:10, D2 – 2x 1:10 = 1:100, D3 – 3x1:10 = 1:1000 usw.).
“Des Arztes höchster und einziger Beruf ist es, kranke Menschen gesund zu machen, was man Heilen nennt”. Zeitgenössische Arztkritik und immerwährende Aufforderung von Samuel Hahnemann in seinem Organon der Heilkunst, § 1(1810).
Briefmarke zu Ehren Hahnemanns
Große Erfolge zu Lebzeiten
1810 veröffentliche Hahnemann das “Organon der Rationalen Heilkunde” in der ersten Auflage, welches bis heute als Standardwerk für homöopathische Therapeuten gilt. Seine weiteren Arbeiten brachten ihm wissenschaftliche Anerkennung und erste Schüler ein. Als 1831 die erste große Cholera-Epidemie in deutschen Landen ausbrach, standen die meisten Ärzte der Katastrophe machtlos gegenüber. Mit Aderlass und Abführmitteln schwächten sie ihre Patienten unsinnigerweise nur noch mehr. Die homöopathische Cholera-Behandlung erzielte hingegen beachtliche Erfolge. Dies verhalf der neuen Methode zu weiter Bekanntheit in der Bevölkerung und half dabei, homöopathisch arbeitenden Ärzten bürokratische Hindernisse oder Verbote zu überwinden. 1835, sechs Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau heirate Hahnemann ein zweites Mal. Der fast 80jährige folgte Melanie d’Herville, einer 45-Jahre jüngeren Malerin nach Paris. Hahnemanns Methode war mittlerweile europaweit bekannt und seine Anhänger bereiteten ihm in der französischen Hauptstadt einen triumphalen Empfang. Hahnemann praktizierte noch fünf Jahre bis zu seinem Tod 1843. Später sorgten berühmte Patienten wie Beethoven, Goethe oder Paganini und eine aktive Laienbewegung für die bis heute anhaltende Popularität der Homöopathie.
Resümee
Hahnemann verdient als Begründer der Homöopathie Anerkennung. Er ist zwar nicht Entdecker des Ähnlichkeitsprinzips, dies wurde schon von Hippokrates und Paracelsus beschrieben. Dennoch: Mit seiner Lehre führte Hahnemann die eigentliche Aufgabe von Ärzten auf die Heil-Tätigkeit unter der großen alten Maxime des “Nihil nocere” zurück – also heilen, ohne dabei Schaden anzurichten. Er erreichte dies durch Entwicklung einer humanistisch-ganzheitlichen Methodik (z. B. bereits vor fast 200 Jahren Einführung der systematischen Arzneimittelprüfung, oder die Schaffung extrem nebenwirkungsarmer Medikamente etc.). Und: Durch eine geschickte Öffentlichkeitsarbeit konnte Hahnemann sogar der sich gerade erst entwickelnden, bis heute mit der Naturwissenschaft liebäugelnden Allopathie (“Schulmedizin”) bedeutende, immer noch fortwirkende Impulse geben. Obwohl offiziell gerne ignoriert, haben diese Impulse teilweise sogar Eingang in die offizielle Arzneimittelgesetzgebung vieler westlicher Staaten gefunden (wenn auch erst nach dem katastrophalen Contergan-Skandal). Die wichtigsten: Anstatt Interessen gesteuerte, streng empirische Methodologie bei den zulassungsrelevanten klinischen Studien, stringente Arzneimittel-Monotherapie (z. B. zur Vermeidung schädlicher Arzneimittel-Interaktionen) oder die Prüfung von Arzneimitteln auch am Gesunden. Letzteres ist jedoch in der heutigen Medizin nicht systematisch realisiert, sondern dient nur dem Ausschluss direkt toxischer Effekte neuer Wirkstoffe. Die seit zwei Jahrzehnten dominierende Monotherapie wird derzeit zugunsten von Wirtschaftsinteressen der Kostenträger und Hersteller wieder aufgegeben. Schlimmer ist jedoch, dass bereits in der offiziellen Pharmagesetzgebung verankerte Grundprinzipien zum Schutz von Patienten systematisch umgangen werden. Beständig kommen neue Medikamente auf den Markt, bei denen hinreichende ‘Erfahrungen am Menschen’ fehlen, wie z. B. der unrühmliche Skandal um das vom Hersteller MSD kürzlich schlagartig vom Markt genommene Rheumamittel Vioxx® zeigte. Grund: Die Anwendung des nach unzureichender Prüfung erst vor wenigen Jahren zugelassenen Präparates endete für zu viele Patienten tödlich. Eine wahrhaft “evidence based medicine” im Sinne Hahnemanns, die auch von immer mehr naturwissenschaftlich orientierten Ärzten gefordert wird, hat bis heute also nicht im erforderlichen Umfang in die Schulmedizin Einzug gehalten. Vor diesem Hintergrund ist der Spott wissenschaftsgläubiger Mediziner, dass hochpotenzierte homöopathische Präparate ja nachweislich keine Wirkstoffe enthalten und höchstens einen psychosomatischen Reiz zur Selbstheilung ausüben, nicht nachvollziehbar. Übrigens: Zahllose Arzneimittel gelangten aus der homöopathischen Materia medica in die Pharmakopöe der “Schulmedizin”. Beispiel: Die äußerst wirksame Hyposensibilisierungs-Therapie, die die Ultrahochverdünnung als homöopathisches Behandlungsprinzip in die Allergiebehandlung einführte. Oder: Die Verwendung von Nitroglyzerin als einem der bedeutendsten Herzmittel (bei Angina pectoris) ist den empirisch-genauen Beobachtungen von Homöopathen in der Fabrik von Alfred Nobel zu verdanken. Die Homöopathie des Samuel Hahnemann erscheint also so modern wie vor knapp 200 Jahren und enthält bis heute noch genügend Explosionskraft, um die “Allopathie” ordentlich zu erschüttern.
Literatur-Tipp:
Im letzten Jahr ist die CD-ROM-Edition “Samuel Hahnemann. Gesammelte Werke” in der Reihe Digitale Bibliothek erschienen. Sie kostet 149,90 € (ISBN 3–932544-75–7). Auf der CD befinden sich knapp 30.000 Druckseiten mit vollständigen Ausgaben folgender Schriften Hahnemanns: “Apothekerlexikon”, “Versuch über ein neues Prinzip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen”, “Heilkunde der Erfahrung”, “Organon der Heilkunst”, “Reine Arzneimittellehre”, “Die Chronischen Krankheiten”. In dieser einmaligen Zusammenstellung hat der Berliner Verlag Directmedia Publishing ein Werk vorgelegt, dass Homöopathie‑, Zeit‑, und Medizingeschichte-Interessierten hervorragende Studienvorlagen bietet.
Autorin
• Marion Kaden, Natürlich (2005).