Moderne Zeitgenossen denken, daß wir spätestens seit der Aufklärung die Magie in den Zirkus oder das Varieté verbannt haben, und sie meinen, daß dieser philosophische Entwurf nicht auf die alltägliche Welt zu übertragen ist – zum Beispiel nicht auf die Sphäre der Wirtschaft. Tatsächlich lässt sich aber die Ökonomie vielfach nur als alchemistischer Prozess deuten, und ausgebreitet findet man diesen Zusammenhang im zweiten Teil von Goethes Faust. Der Dichter versteht die Idee der Alchemie besser als viele seiner wissenschaftlichen Kollegen. Goethe sieht nämlich, daß für einen Alchemisten nicht entscheidend ist, Blei in Gold zu verwandeln, sondern daß es darauf ankommt, aus einer wertlosen Substanz wie Papier eine wertvolle Sache wie Geld zu machen [c]. Mit anderen Worten, die Versuche künstliches Gold herzustellen wurden nicht deshalb aufgegeben, weil sie nicht gelingen wollten, sondern weil das mühsame Herumwerkeln in stinkigen Laboratorien nicht mehr nötig war, nachdem die Wertschöpfung in anderer Form viel erfolgreicher zu praktizieren war.
Das ökonomisch vertraute Wort von der Wertschöpfung gewinnt im alchemistischen Kontext einen unheimlichen Klang, bemerkt der Leser doch auf einmal den Anspruch des Schöpferischen und damit des Gottähnlichen, der in diesem Ausdruck steckt. Man scheut davor zurück, und muss zunächst doch einsehen, daß Goethe mit seiner im Faust explizit vor Augen geführten Behauptung recht hat, daß der Ursprung des Wohlstands unserer Gesellschaft nicht nur die Leistung arbeitender Hände ist, sondern sich auch der “Magie verdankt, im Sinne der Schaffung von Mehr-Werten, die nicht durch Leistung erklärt werden können.”
Dieses Zitat ist dem Buch Geld und Magie (1985) von Hans Christoph Binswanger entnommen, einem ökologisch orientierten Volkswirtschaftler. Binswanger weist auf die alchemistische Grundstruktur von Goethes Weltspiel hin, das in seinem zweiten Teil die Verwandlung von Papier in Geld geschehen lässt und auf diese Weise für die Wiederherstellung der Kaufkraft sorgt. Als Vorbild für Fausts Wirtschaftsmagie mit ihrem schnellen Reichtum diente übrigens ein Schotte namens John Law, der 1715 in Frankreich die Genehmigung zur Gründung einer Notenbank erhielt, und zwar durch den Herzog von Orleans. Gleichzeitig wurden die Hofalchemisten aus dem Dienst entlassen, denn mit der Erfindung der Banknoten – so der Herzog – stand eine bessere und sichere Methode zur Verfügung, zu Reichtum zu kommen.
Indem Goethe die Wirtschaft als alchemistischen Prozess deutet, gelingt ihm auch die Lösung eines der zentralen Probleme für die Praxis. So klar die Vorgabe für einen Alchemisten auch war – nämlich etwas Wertvolles zu schaffen bzw. zu schöpfen -, so unklar war, wie dies im Einzelfall gelingen sollte. Das Mittel dazu nannte man den Stein der Weisen, und für seine Herstellung gab es eine Menge komplizierter Vorschriften, die leicht misslingen konnten.
In der Ökonomie gab es dieses Problem nicht, wie Goethe erkannte. Hier ergab sich ganz von selbst, was der Stein der Weisen war, nämlich das Kapital. Es schafft bekanntlich neues Geld aus sich selbst, ohne eine Leistung zu erbringen.
Es steht somit außer Frage, daß die Wirtschaft voller Alchemie steckt (auch wenn dies Ökonomen nicht gern zugeben), doch es steht ebenso außer Frage, daß die magische Vermehrung des Reichtums im wirklichen Leben nicht ohne Gegenleistung zustande kommt. Zuletzt muss doch bezahlt werden. Goethe nennt im Faust drei Verluste, die Menschen erleiden. Im Zuge der alchemistischen Wertschöpfung geht ihnen erstens der Sinn für die Schönheit der Welt verloren, zweitens verlieren sie das Gefühl der Sicherheit, und drittens machen sie sich bei allem Wohlstand immer mehr Sorgen über die Zukunft – vor allem um die ihres Kapitals und seiner möglichen Gewinne. Sie büßen so ihre Fähigkeit Genuss und Glück zu erfahren, immer mehr ein.