Die „Blaue Blume“ im unvollendeten Roman „Heinrich von Ofterdingen“ des romantischen Dichters Novalis (1772–1801) ist wohl das stärkste und gleichzeitig geheimnisvollste Bild, das die Romantik (ab Ende des 18. Jahrhunderts) unserer Kultur eingeprägt hat. Novalis führt die geheimnisvolle blaue Blume in einem Selbstgespräch des jungen Romanhelden Heinrich wie folgt ein:
… Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. So ist mir noch nie zu Muthe gewesen: es ist, als hätt’ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab’ ich damals nie gehört. ….
Auch bald 220 Jahre nach Entstehung dieses Romanfragments und der vielen seither darüber entstandenen Überlegungen von Leserinnen und Lesern, bleibt das Geheimnis ungelöst, was genau die blaue Blume ist, symbolisiert oder bedeutet und ob sie eine Entsprechung in der Welt der Blumen und Heilkräuter hat. Sicher ist nur, Novalis hat viele der geheimnisvollen und magischen Eigenschaften, die unsere Vorfahren der blauen Wegwarte zugesprochen haben, in sein zauberhaftes Bild von der blauen Blume übertragen. Diese geheimnisvoll-magischen Vorstellungen, die der blauen Wegwarte seit langem zu eigen sein sollen, wie unsere Vorfahren glaubten, werden im Folgenden, vor allem als Zitate von Dichtern, Denkern und Heilpflanzenkundigen vorgestellt werden.
Aus dem „Handwörterbuch des deutschen Aberglauben“
Eine der umfangreichsten Sammlungen volkskundlichen Wissens Mitteleuropas zum Aberglauben ist das zwischen 1927 und 1942 von zwei Schweizer Volkskundlern verfasste, zehnbändige Lexikon (Eduard Hoffmann-Krayer, Hanns Bächtold-Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Walter de Gruyter, Berlin, 1927–1942). Der folgende, umfangreiche Lexikon-Artikel aus diesem Werk zur Wegwarte sammelt viele Aspekte und Berichte, auch viele, die heute vergessen sind. Den reichhaltigen Hinweisen der beiden Autoren fehlt allerdings eine zusammenfassende Betrachtung, die das Wesenhafte der Pflanze herausarbeitet.
Wegwarte (Hindläufte, Sonnenwirbel, Wegeleuchte, Zichorie, Cichorium intybus)
… Die Blütenköpfe der Wegwarte sind meist nur am Vormittag geöffnet und gegen die Sonne gerichtet, sie wurde daher von den alten Botanikern „sponsa solis“ (Sonnenbraut), „solsequium“ genannt, Bezeichnungen, die jedoch auch anderen meist nach der Sonne gekehrten Blumen (zum Beispiel dem Löwenzahn, der Ringelblume und dem südeuropäischen Heliotropium europaeum) gegeben wurden, so daß aus den oben genannten Namen nicht immer zu ersehen ist, welche dieser Pflanzen darunter gemeint ist. So ist auch der Glaube zu erklären, daß die Wegwarte aus dem Löwenzahn entstehe. …
Die Wegwarte spielt in Sage und Zauberglauben eine große Rolle. … Sie ist der Hauptsache nach wohl eine germanische Zauberpflanze. Plinius (23–79) schreibt allerdings, daß die „magi“ (vielleicht ägyptischer Herkunft?) behaupten, man werde beliebter und erlange leichter, was man wolle, wenn man sich mit dem Saft des „cichorium“ (ob darunter wirklich unsere Wegwarte zu verstehen ist, bleibt unsicher) zusammen mit Öl salbe. Wegen ihrer besonderen Heilkraft heiße die Pflanze auch „chreston“ oder „pancration“ (Allhelferin). Weit verbreitet ist das Märchen, daß die Wegwarte eine verzauberte Jungfrau sei, die am Wege ihres Geliebten harre.
und vil die jehent, die wegwart
sei gewesen ain frawe zart
und wart irs puelen noch mit smerzen.
reimt Hans Vintler (15. Jahrhundert) in den „Blumen der Tugend“. Die (weißblühende) Wegwarte ist auch die „Wunderblume“, die nur ein Sonntagskind pflücken kann.
Die Wegwarte mußte als Zauberpflanze mit gewissen Segen ausgegraben werden. So lautet ein alter Wegwarte-Segen aus dem Codex germanicus monacensis (15. Jh.):
Creutle ich prich dich in dem namen unsers herren Jhesu Christi und in des namen kraft, und alß unser herre die juden an sach und im nichs geschach (Joh. 18, 6), als muß aller meiner feind hertz und gemuot und kraft nider vallen vor disem und mir nichs geschehen, und sie all nider fallen. in nomine patris et spiritus sancti Amen. item dic V pater noster.
Eine neuere Anweisung, die Wegwarte zu graben, aus dem bayrischen Schwaben gibt an: Wer das Glück hat eine weiße Wegwarte zu finden, muß sie an einen Stab binden, weil sie sonst verschwindet. An Maria Himmelfahrt (15. August) geht man vor Sonnenaufgang, ohne daß man ein Wort reden oder von jemanden angeredet werden darf, an den Fundort dieser weißen Wegwarte und spricht mit dem Gesicht gegen Sonnenaufgang:
Gott grüß euch, ihr lieben Wegwarten allzumal, die ihr hint und vor mir seid, stillt Blut und heilt Wunden und alles insgesamt und behaltet eure Kraft, die euch Gott und die heilige Maria gegeben hat
macht dreimal das Kreuzzeichen und gräbt dann den Stock mit der Wurzel aus, jedoch nicht mit Eisen; auch darf die Wurzel mit der bloßen Hand nicht berührt werden; sodann wird der ganze Stock in die Weihsange gebunden und zur Weihe getragen. Die blaue Wegwarte wird am Dominikustag (4. August) von 3/4 12–12 Uhr ausgestochen und nimmt, wenn man ein Bröckchen auf Brot in den drei höchsten Namen ißt, alle Schmerzen. Auch aus Böhmen sind verschiedene Beschwörungen der Wegwarte mitgeteilt. Die Wegwarte muß am Tage Peter und Paul (29. Juni), an Jacobi (25. Juli), Johanni (24. Juni), am Palmsonntag, an Maria Himmelfahrt (15. August), im Zeichen der Jungfrau (24. August bis 23. September), beim Vollmonde gegraben werden. Vielfach ist die Vorschrift gegeben, daß die Wegwarte mit Gold (bzw. einem Goldstück) ausgegraben werden müsse. Wilhelm Mannhardt (1831–1880) sieht in dem Goldstück, ebenso wie in dem Hirschgeweih (Sonnenhirsch), mit dem die Wegwarte in Oberösterreich ausgegraben werden soll, ein Sinnbild der Sonne, zu der ja die Wegwarte als „Sonnenwirbel, sponsa solis“ Beziehungen hat. Seltener wird Silber als Ausgrabewerkzeug genannt, einmal auch ein Stück eines vom Blitz getroffenen Holzes. Mit der bloßen Hand darf die Wegwarte nicht berührt werden.
Die „Tugenden und Kräfte“ der auf die oben genannte Art gewonnenen Wegwarte sind sehr mannigfaltig. Sie schützt ihren Träger vor allen Gefahren, macht vor allem hieb- und stichfest, läßt alle Schlösser und Fesseln aufspringen, zieht Eisen und andere Dinge aus Wunden und heilt diese. Oft heißt es ausdrücklich, daß nur die weiße Wegwarte Zauberwirkung habe. Die Zigeuner können mit einer weißen Wegwarte das Feuer bändigen. Die weiße Wegwarte schützt gegen Hagel, man steckt sie in den Flachs hinein, dann „röstet“ er recht fein. Die Wegwarten sind verzauberte Menschen, die häufigen blaublühenden sind böse, die (seltenen) weißblühenden gute Menschen. Die männliche Wurzel kennt man an der weißen Blüte. Wenn jemand vor Gericht gehen soll oder irgend etwas auf dem Herzen hat, dann geht er bei Sonnenaufgang zu einer Wegwarte, bricht sieben Blüten ab, steckt sie unter das Haar hinter die Ohren und sagt:
Sannewerbel, Sannewerbel! Drae denjen Bläck
Uch kä mir zeräck
En wonjd mer det Geschäk
Ze menjem Gläck.
Wenn einem etwas gestohlen ist, so lege er Wegwartenwurzel unter das Haupt, dann erscheint ihm der Dieb im Traum. Wenn die Wegwarte („Sonnenwende“) im Zeichen des Löwen (11. August bis 17. September) gepflückt, in ein Lorbeerblatt gelegt und dazu ein Wolfszahn gelegt wird, bewirkt sie, daß der Träger überall Liebe und Neigung findet oder ihm niemand untreu wird. Es ist dies kein bodenständiger Aberglaube, sondern hat den (Pseudo-)Albertus Magnus (1200–1280) als Quelle, wo es von der „Eliotropia“ heißt:
dis krutes tugent ist wunderbarlich wan so es gesamlet wirt wan die son ist im leüwe jm augst monat und würt dann verwickelt in ein lorberblat und ouch darzu getan ein wolff zan und dan also by im getragen So mag niemant wider den tragenden haben stimmen zu reden. Vnd so eim etwas genomen ist worden und legt das in der nacht vnder sine houbt So würt er sehen den der das gethon hat und alle gestalt und eygenschafft.
Daß die Wegwarte ihrem Träger Zuneigung erwerbe, geht wohl auf Plinius zurück. Auffälligerweise sagt jedoch die heilige Hildegard (1098–1179), daß der Träger einer Wegwarte von den anderen Menschen gehaßt werde. Überhaupt dient die Wegwarte im Liebeszauber. Wer mit der mittels eines Hirschgeweihes ausgegrabenen Wegwarte eine Person berührt, dem ist diese in Liebe verfallen. Um zu erfahren, wohin man heiratet, reißt man eine Wegwarte mit drei Wurzeln aus. Wo die größte davon hinschaut, dahin heiratet man. Die slovakischen Mädchen tragen die Wegwarte unter der rechten Fußsohle im Stiefel, stecken sie dann in männliche Beinkleider und legen sie nachts unter das Kopfkissen, dann erscheint ihnen im Traum der Bräutigam. In Böhmen pflücken die jungen Mädchen die noch geschlossenen Knospen der Wegwarte, wobei sie die Hand mit einem Tuch oder mit der Schürze umwickelt haben, und sprechen dazu:
O Wegwart an des Pfades Rand,
Es pflückt ums Glück dich meine Hand,
Schenk mir den Liebsten, Wegwart!
Auf den du hast umsonst geharrt!
Dann legen sie die gepflückten Knospen ins Mieder und gehen jene (infolge der Körperwärme) auf, so bedeutet das Glück in der Liebe. Auch gegen angezauberte Liebe wird die (weiße) Wegwarte gegessen. Nach Paracelsus (1493–1541) verwandelt sich die Wurzel der Wegwarte nach sieben Jahren in eines Vogels Gestalt.
In der Sympathiemedizin findet die Wegwarte vielfach Verwendung. Gegen Gelbsucht gräbt man vorsichtig einen Wegwartenstock aus, läßt seinen Harn ins Loch und pflanzt die Wegwarte wieder an der Stelle ein. Die (an einem Freitag ausgegrabene) Wegwartenwurzel am Hals (auf der bloßen Haut) getragen heilt Augenkrankheiten, auch Impotenz und Unfruchtbarkeit. Die am Margarethentag gegrabene Wegwarte stillt den kalten Brand. An Maria Geburt (8. September) gesammelt und unter die Zunge gelegt, stillt die Wegwarte das Blutspeien. Die Wegwarte („Wegwiiser“) ist ein Mittel gegen Geistesgestörtheit. Mit dem Absud der an Maria Himmelfahrt (15. August) gesammelten, weißen Wegwarte wäscht man sich gegen Hautkrankheiten. Die am Johannistag (24. Juni) gesammelte weiße Wegwarte hilft bei „Därmer- und Netzbrüchen“. Gegen das Hinken von Menschen und Tieren (die in einen Nagel getreten sind) gibt Codex germanicus monacensis folgendes an:
wegwart nym mit wurczen mit alle und wen man die wurczen wel ziechen, so sol man sprechen drei Pater noster und drei Ave Maria und funf Credo. die wurcz ist auch guet zw vich und zw laeuten, die an negel tretten, wenn man sy neust: und alz lang der mensch hat gehuncken, alz lang mucz der mensch oder daz vich hincken, wann man die wurcz neust, dar nach nicht mer.
Gegen das „Vernageln“ der Pferde wird die Wegwarte auch sonst genannt. Vielleicht hängt damit auch zusammen, einem Pferde, damit es nicht müd wird, Wegwartenwurzeln zu fressen zu geben.
Die Erscheinung, daß die blaue Wegwartenblüte, in einen Ameisenhaufen gelegt, rot wird, erschien den alten Naturkundigen als ein „Wunder“:
Wann man dies blümlin in ein ommeyssen hauffen würfft
so würt es rot wie blut. ist auch ein wunderbarlich Würckung der natur.
In Oberösterreich heißt es, daß am Stengel der in den Ameisenhaufen gesteckten Wegwarte Blutstropfen herunterflössen; es sei aber ein Frevel dies zu tun. Nach einer böhmischen Sage wurde die Jungfrau Cekanka (der tschechische Name der Wegwarte), die sich aus Gram über den Tod des Geliebten, an einem Ameisenhügel getötet hatte, in die blaue Wegwarte verwandelt. Der Zauberer, der sich so um seine Beute betrogen sah, riß die blaue Blume aus und warf sie auf den Ameisenhaufen. Da wurde sie rot und begann zu bluten. Und seither wird die Wegwarte rot, wenn man sie auf einen Ameisenhaufen wirft.
Das Rotwerden der Wegwarte im Ameisenhaufen ist kein Aberglaube. Der blaue Farbstoff (Anthozyan) der Blüten wird durch die Ameisensäure in einen roten verwandelt (ebenso wie der blaue Lackmus-Farbstoff durch Säuren rot wird).
Die Wegwarte (als Kulturpflanze) muß man im abnehmenden Mond säen und ja nicht im Zeichen des Skorpions ( 24. Oktober bis 22. November), weil sie sonst mehrere dicke Wurzeln (Vergleich mit den zahlreichen Füßen des Skorpions) statt einer dicken bekommt. Die Wegwarte darf man nicht abpflücken und ins Haus bringen, sonst schlägt der Blitz ein.
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Emil Schlegel – Die Signaturlehre
Die Signaturenlehre beruht auf der alten Lehre der Entsprechungen der Daseinsebenen (Mikrokosmos ~ Makrokosmos, zum Beispiel Himmel ~ Erde). Hinsichtlich der Heilpflanzen gehört die Vorstellung dazu, dass deren Eigenschaften (Form, Farbe, Charakter, Geruch, Geschmack, Standort, Entstehungszeit) auch mit menschlichen Eigenschaften von Menschen korrespondieren, vor allem auch denen von kranken und leidenden Menschen. Und dass so die Heilkraft von Pflanzen und Hinweise auf ihre gesundheitsfördernde Wirkung entdeckt und (besser) verstanden werden kann. Der Tübinger homöopathische Arzt Emil Schlegel (1852–1934) hat zu Beginn des letzten Jahrhunderts viele Texte verfasst, die Ärzte und Heilpraktiker bis heute bei der Suche nach dem Wesen/Wesentlichen von Heilpflanzen inspirieren. In seinem bekanntesten Werk „Religion der Arznei“ findet sich ein kurzer, leicht chaotisch erscheinender Eintrag zur Wegwarte, der im folgenden zitiert wird.
Emil Schlegel: Religion der Arznei – Das ist Herr Gotts Apotheke Erfindungsreiche Heilkunst – Signaturenlehre als Wissenschaft (4. Aufl.). Paul Rohrmoser, Radebeul, ca. 1933.
Cichorium intybus, Wegwarte.
Auch hier kräftige Vegetation und ausdauernde Fruchtungszeit über den ganzen Sommer und Herbst. Das Blatt wie bei Leontodon (Löwenzahn) und noch stärker zerrissen, also Hinweis auf durchgehends unregelmäßige Funktionen, aber doch nicht direkt mit luftführenden Röhren zusammenhängend, deshalb weniger Darmmittel. Die Pflanze ist höherstrebend, zeigt damit kräftigere Wirkungen auf Brust, Hals, Kopf und Augen. Ihre Verzweigung erinnert etwas an die Krampfstellung des Hypericum (Johanniskraut); sie wartet gewissermaßen mit gestreckten Armen: Muskelkrämpfe, Starrkrampf, polar auseinanderstrebende Kräfte. Dies mag den verschiedenen Aufgaben der Baucheingeweide entsprechen, der Leber, Milz, Pankreas: chronische Bauchleiden, Geschwülste der Verdauungsdrüsen. Besonders hat das Mittel in der Volksheilkunde Ruf gegen Gallensteine. Von dem starken Wurzelstock aus, der bei kultivierten Arten in sehr dicke, als „Cichorie“ bekannte Wurzeln übergeht, erhebt sich das Gerüst der Pflanze gewissermaßen mit starken, sich Platz schaffenden Armen, womit eine kräftig zerteilende Energie sich kundgibt. Nicht wie bei Bryonia (Zaunrübe), wo das Blattwerk haltlos hinkriecht; nein, es ist eine Ordnung schaffende Macht hier ausgeprägt, welche nach allen Seiten verteilt. – Die auffallend wohlduftende Blüte von schönem Blau erweist auch deutlich höhere Geistes‑, Sinnes- und Gemütsbeziehungen. Vielleicht haben alle diese Symptome ihre Wurzel im Gebiet des Pfortadersystems, in den Bauchorganen.
Wolf-Dieter Storl – Schamanismus und Heilkunde
Anders als der Mediziner Schlegel ist der „Schamane der modernen Esoterik- und Gesundheits-Szene aus dem Allgäu“, der deutsch-US-amerikanische Wolf-Dieter Storl (* 1942), Anthropologe und Ethnobotaniker. Dass auch er ganz wesentlich auf dem von unseren Altvorderen gelegten Boden steht (siehe das oben erwähnte „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“), und vieles nicht einer eigenen transzendierenden Naturschau entstammt, zeigt das folgende Zitat aus einem der vielen Bücher Storls.
Wolf-Dieter Storl: Pflanzen der Kelten. Heilkunde, Pflanzenzauber, Baumkalender. AT-Verlag, Aarau, 2000.
Die Wegwarte (Cichorium intybus) ist ein milchiger Korbblütler, der an sonnigen Weg- und Feldrändern wächst. Die hübsche Pflanze gibt sich ganz der Sonne hin. Von der Sommer-Sonnenwende an blüht sie unentwegt bis zur Tagundnachtgleiche im Herbst, wenn die Sonnenkraft wieder schwindet. Sie hält einen ganz bestimmten Zeitrhythmus ein: Morgens, gegen sechs Uhr, öffnet sie ihre kurzlebigen, zarten, himmelsblauen Blüten; gegen Mittag schließt sie diese wieder. Die Blüten richten sich alle gegen Osten, zur Sonne hin. Bedecken dunkle Wolken das Himmelsgestirn, dann öffnet sie ihre Blütenköpfchen überhaupt nicht.
Wegen dieser Treue zur Sonne nannte man die Pflanze früher Sponsa solis (Albertus Magnus (1200–1280)), Sonnenbraut, Sonnenschwester oder Sonnenwirbel. In der altüberlieferten Blumensprache hieß es:
Wie die Wegwarte immer zur Sonne dreht,
so lasse ich mich durch nichts von Dir ablenken,
mit Herz, Leib und Seel
Dir die Liebe zu schenken.
Kein Wunder, dass einst die Frauen die Blüten unter die Speisen ihrer Ehemänner mischten, damit diese ihnen treu blieben. Oder dass die Mädchen vor Sonnenaufgang gingen, die noch geschlossenen Blüten pflückten und in ihr Mieder steckten, um zu sehen, ob sie darin aufblühen: Das galt als gutes Vorzeichen, dann hätten sie Glück in der Liebe. Sie konnten aber auch einige Blüten unter das Kopfkissen legen, um von ihrem Zukünftigen zu träumen.
Die Sonnenbraut, die da als Wegwarte, Wegluege oder Wegleuchte am Wegrand steht, galt als verwunschene Jungfrau, deren Geliebter, ein junger Ritter, in einem Kreuzzug gen Jerusalem ritt und nie wiederkam. Jahrelang stand sie da, schaute zum östlichen Horizont und weinte sich ihre blauen Äuglein aus. Als die Eltern sie ermahnten, doch einen anderen zu nehmen, antwortete sie trotzig:
Eh ich lass das Weinen stehn,
Will lieber auf die Wegscheid gehn,
Ein Feldblümlein zu werden!
Und so geschah es, dass der liebe Gott sie in eine Blume verwandelte.
Hinter dieser eher harmlosen Geschichte verbirgt sich die archaische Vegetationsgöttin, die Tochter der Erdgöttin, die Geliebte und Braut des strahlenden Sonnengottes. Die blaue Blume ist sozusagen eine Verkörperung der Göttin.
In dem vorkeltischen, alteuropäischen Mythos galt der Hirsch als Sonnentier. … Wie ein edler Hirsch wandert die Sonne tagsüber über den Himmelsberg und des Nachts (oder im Winter) durch die Reiche unter der Erde. Die an die Erdoberfläche gebundene Wegwarte begrüßt ihn jeden Morgen, wenn er wieder erscheint. Als Gefährtin des Sonnenhirsches nannte man die Wegwarte einst auch „Hindläufte“ (Hinde = Hirschkuh), hindlophte (11. Jh.) oder Hirschsprung. Die hehre junge Göttin, die da als Blume Gestalt annimmt, erlaubt es niemand, sie zu berühren – noch weniger sie zu pflücken oder auszugraben -, außer ihrem Geliebten, dem Sonnenhirsch.
In diesem Zusammenhang erhellt sich der Sinn vieler altüberlieferter Ausgraberegeln:
Die Wegwarte soll am Sankt Peterstag (29. Juni) um zwei Uhr zur Vesper mit einem Hirschgeweih und ohne sie mit der Hand zu betasten, gegraben werden, dann kann man sich der Liebe jener Personen versichern, welche man damit berührt.
Anderswo muss die Hindläufte mit einem Goldstück oder einem Goldlöffel bei Sonnenaufgang an einem besonders heiligen Tag – Johanni, Jakobi (25. Juli), Maria Himmelfahrt -, am besten, wenn sich der Mond im Zeichen der Jungfrau oder des Löwen (astrologisches Haus der Sonne) befindet, unter Aufrufung der Dreifaltigkeit und mit dem Gesicht nach Osten gekehrt, ausgegraben werden. Auch soll man die Wurzel sogleich an einem Stab festbinden, denn sie (ihr Geist) sei flüchtiger als ein Hirsch oder ein Reh. Mit der so gewonnenen Wurzel kann man sich gegen angezauberte Liebe wehren, Splitter oder Dornen aus der Haut ziehen oder sich hieb- und stichfest machen. Wenn man etwas verloren hat, lege man die Wurzel unter das Kissen, und man wird träumen, wo es sich befindet. Die Sonnenbrautwurzel ist auch eine Springwurz; sie öffnet Verschlossenes, auch den verschlossenen weiblichen Schoß. Zu Maria Geburt gesammelt, hilft sie einer Kreißenden in der schweren Stunde der Gebärnot. Die bayrische Sage berichtet von der blauen Blume „Nimmerweh“, die eine wilde Frau, ein „Holzfräulein“, einer Gebärenden zur trostreichen Stärkung in die Hand gegeben haben soll. Das Halten der Wegwarte verbindet die Gebärende unmittelbar mit der Göttin selbst.
Anhand dieser Beispiele sehen wir, dass wir es mit einer uralten sakralen Pflanze zu tun haben. Wir sollten diese Angaben nicht als längst überwundenen Aberglauben abtun, sondern eher als Hinweis nehmen, dass es womöglich Dinge gibt, die unser derzeitiges Wissen übersteigen. Vielleicht verhilft die Wegwarte unter den richtigen Umständen tatsächlich zu klarerer Intuition, zu Hellsichtigkeit. Nach Paracelsus verwandelt sich ihre Wurzel nach sieben Jahren in einen Vogel. Paracelus war kein Narr. Selbstverständlich meinte er nicht einen physischen Vogel, sondern einen Geistvogel, der eine Botschaft aus der geistigen Welt vermittelt. … Hieronymos Bock, einer der ehrwürdigen „Kräuterväter“, nennt das destillierte Wegwartenblumenwasser, „eyn edel artzney zu den hitzigen und dunckelen Augen“ und ein alter Spruch besagt: „Das edle Kraut Wegwarten macht gut Augenschein.“ Auch hier lässt sich fragen, ob bloß das physische Sehorgan oder auch das „innere Auge“ gemeint ist. (…)
Die galenischen Ärzte, die Cichorium als „bitter, dünn, erdig und kalt zum zweiten Grad und trocken zum zweiten Grad“ beschreiben, setzten die im Zeichen Saturns stehende Pflanze ein, um die bittere, schwarze Galle aus dem Leib herauszuschwemmen und zugleich die Seele vom Gift bitterer melancholischer Gedanken zu befreien.
Edward Bach (1886–1936) … bereitete eine Blütenessenz (chicory) aus den Wegwartenblüten. Er verschrieb die Tropfen für Besitz ergreifende, klammernde Menschen, die viel Liebe, Mitgefühl und Aufmerksamkeit brauchen, da sie sonst dem Selbstmitleid verfallen. Die Essenz verhilft ihnen zur selbstlosen Liebe, zur Liebe der Seele zum höheren Selbst.
=> Kritische Anmerkung: Wie so oft bei schamanistisch orientierten Esoterikern fehlt auch den Betrachtungen von Storl die Tiefe jener philosophischen und religiösen Schulen, die die Grundlage unserer modernen Kulturen gebildet haben. Deutlich wird das beispielsweise an seiner Interpretation des „Hirsch“ als „Sonnentier“. Als Einzelaspekt ist dies sicher richtig, denn „in altweltlichen Kulturen galt der Hirsch schon wegen seines baumähnlichen, sich periodisch erneuernden Geweihes als Symbol des sich immer wieder verjüngenden Lebens, der Neugeburt und der Zeitläufe. In der altnordischen Mythologie äsen vier Hirsche in der Krone des Weltbaumes Yggdrasil. Dort fressen sie die Knospen (Stunden), Blüten (Tage) und Zweige (Jahreszeiten) ab. Das Hirschgeweih wurde als Symbol der Sonnenstrahlen gedeutet“ (zitiert nach: Hans Biedermann: Knaurs Lexikon der Symbole. Knaur, München, 1998). Doch die Fülle der Hirsch-Mythologie auf diesen Aspekt zu begrenzen, verschleiert mehr als es erklärt. Im Christentum beispielsweise, ist der Hirsch als Schlangenbezwinger ein Symbol für Christus selbst und für die Taufe. Auch die reduktionistische Annahme Storls, dass die Wegwarte die Verkörperung einer archaischen Vegetationsgöttin sei (als Tochter einer schamanischen Erdgöttin …!), verstellt den Blick auf Wirklichkeit und Wesen der Wegwarte. Immerhin erwähnt er abschließend Dr. Edward Bach, einen zutiefst christlich-religiös veranlagten Mediziner und Naturheilkundler und dessen „menschenbezogene Wirklichkeit“ der Wegwarte.
Was können wir aus dem Studium solcher Schilderungen, aus eigener Anschauung oder Erfahrung über die Wegwarte nun lernen? Auf der materiellen Ebene entfalten unterschiedlichste Wegwarten-Extrakte wohltätige, heilende und gesundheitspflegende Wirkungen im Verdauungstrakt. Diese reichen von der Anregung der Verdauungstätigkeit selbst bis hin zur Aktivierung der Ausscheidungstätigkeit des Magen-Darmkanals. Dieses Organsystem als Ganzes ist die wesentliche Schnittstelle zwischen der körperlichen Innenwelt des Menschen und der umgebenden Außenwelt. Erst wenn sich zwischen beiden ein natürliches Fließgleichgewicht von Nahrungsaufnahme, ‑verdauung und ‑ausscheidung einstellt („Stoff-Wechsel“), einschließlich der Besiedlung durch die Darmflora (was nach der Geburt des Menschen Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern kann), werden allmählich Bewusstseinskräfte von der Hinwendung auf den Verdauungstrakt befreit, sodass das Ich erwachen kann. Wie quälend Neugeborene und Säuglinge den oft unangenehmen, schmerzenden Gefühlen aus dem Verdauungstrakt ausgesetzt sind, erleben alle Erwachsenen, die mal einen akuten Darminfekt mit heftigen Bauchkrämpfen und reißendem Durchfall durchleiden müssen. Der österreichische Magen-Darmspezialist Dr. Franz Xaver Mayr (1875–1965), Erfinder der gleichnamigen Kur, brachte es auf die einfache Formel: Gesunder Darm, gesunder Mensch!
Indem die Wegwarte die Aktivität des Verdauungstraktes harmonisieren hilft, befreit sie Seele und Geist in Richtung ihrer höheren Natur. Jeder, der schon einmal an lang anhaltender, schwerer, quälend-schmerzhafter Verstopfung gelitten hat, kennt die ganzheitliche Erlösung, wenn diese Darmträgheit sich löst! Damit steht die erlösende „Weg-Warte“, wie es die Mythologie Europas so eindrücklich beschreibt, behütend und weisend am Rande der Wege, den die körperlich, geistig, seelisch und moralisch wachsenden und suchenden Menschen gehen (wollen oder müssen).
Maria Treben – Wegwarte ganz besonders stuhlfördernd
Maria Treben: Gesundheit aus der Apotheke Gottes – Ratschläge und Erfahrungen mit Heilkräutern. Ennsthaler, Steyr, 1980.
Voraussetzung für ganzheitliches Wohlbefinden und Gesundheit sind also Darmgesundheit und harmonische Darmaktivität, wie sie die Wegwarte ermöglicht (Heilpflanzenextrakt und/oder Wegwarten-Inulin). Aufs eindrücklichste bestätigt auch die österreichische Kräuterkundige Maria Treben (1907–1991) um 1980, dass „die Wegwarte ganz besonders stuhlfördernd wirkt, die – eine halbe oder eine Tasse davon nüchtern getrunken – selbst hartnäckigste Leiden ausgleicht“. Anschließend erzählt sie noch, wie sie „zu der Erkenntnis kam, daß Wegwarte bei Stuhlverstopfung hilft. Mit der Wegwarte verknüpfen mich schönste Kindheits- und Jugenderinnerungen. Allerorts leuchteten die blauen Blütensterne uns Kindern am Wegrand zu, ein fröhlicher Anblick für ein fröhliches Kinderherz! Hier in Oberösterreich vermisse ich diese blauen Blütensterne; ganz selten, daß man sie findet. Umso erstaunter war ich eines Tages, als bei einem Neubau gegenüber unseres Hauses mich eine Wegwarte mit sechs blauen Blüten begrüßte. Ich blieb stehen, bedauerte sie ob ihres verstaubten Ansehens und meinte zu ihr: ‘Trotz deines armseligen Ansehens nehme ich mir deine sechs Blüten mit nach Hause!’ Täglich brühe ich für meine Familie und mich sechs Tassen Kräutertee. Am nächsten Tag kamen die sechs gewaschenen Wegwarteblüten mit hinein. So kam auf meine Tasse gerade eine Blüte. Sie bewirkte, daß ich nach jeder Mahlzeit, also dreimal an diesem Tag, eine normale, ausgiebige Verdauung hatte. Das ließ mir keine Ruhe; in einem ganz alten Kräuterbuch fand ich des Rätsels Lösung: Wegwarte erziele bei Fettsucht großartige Erfolge. Bei einer solchen ausgiebigen, dabei normal gebundenen Verdauung kann ich mir bei Übergewichtigen eine allmähliche Gewichtsabnahme vorstellen!“
Und hiermit endet der kleine Streifzug durch Mythen, Märchen, Legenden und Erzählungen rund um die Wegwarte und ihre Heilkraft. Haben Sie noch Ergänzungen, Vorschläge oder Wünsche, die diese Informationen erweitern können, melden Sie sich bitte bei dem Autor Rainer H. Bubenzer, Gesundheitsberater bei Floraglueck.de ([email protected]).
weitere Infos
• Wegwarte (Cichorium intybus): Monographie
• Floraglück®: Inulin erhöht Stuhlgang-Häufigkeit
• Monographie BGA/BfArM (Kommission E): Cichorium intybus (Wegwarte)
Bildernachweis
• Marion Kaden, Berlin, 2018 (Heilpflanze.org).
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Berlin, 2018.